Metzler Philosophen-Lexikon: Camus, Albert
Geb. 7. 11. 1913 in Mondovi (Algerien); gest. 4. l. 1960 in Petit-Villeblevin
»Er stellt in unserem Jahrhundert, und zwar gegen die Geschichte, den wahren Erben einer lange Ahnenreihe von Moralisten dar, deren Werke vielleicht das Echteste und Ursprünglichste an der ganzen französischen Literatur sind. Sein eigensinniger Humanismus, in seiner Enge und Reinheit ebenso nüchtern wie sinnlich, stand in einem scharfen schmerzlichen Kampf gegen die wuchtigen und gestaltlosen Ereignisse der Gegenwart. Umgekehrt aber bekräftigte er durch die Hartnäckigkeit seiner Weigerung von neuem das Vorhandensein des Moralischen, mitten in unserer Epoche, und entgegen allen Machiavellisten und dem goldenen Kalb des Realismus zum Trotz.« So würdigte Jean-Paul Sartre C. nach dessen Tod. Acht Jahre zuvor hatten sich beide nach Erscheinen von C.’ Buch L Homme révolté (1951; Der Mensch in der Revolte) während einer polemischen Auseinandersetzung in Sartres Zeitschrift Les Temps Modernes zerstritten. Grundsätzliche philosophisch-methodische Kritik und der Vorwurf der ungenauen Lektüre gegenüber C. spiegeln die Schärfe der Auseinandersetzung, deren eigentlicher Inhalt entgegengesetzte philosophische Standpunkte in der Frage der Freiheit und der Existenz der menschlichen Natur und unterschiedliche politische Positionen zum Marxismus waren. »Camus war Idealist, Moralist, Antikommunist, Sartre hatte sich seit 1940 bemüht, den Idealismus zu widerlegen, sich von seinem ursprünglichen Individualismus zu lösen, um den historischen Ablauf mitzuerleben. Da er dem Marxismus nahestand, bemühte er sich um ein Bündnis mit den Kommunisten«, beschreibt Simone de Beauvoir beide zum Zeitpunkt des Streits, den sie aufgrund schon länger andauernder Differenzen für unvermeidlich gehalten hat (Der Lauf der Dinge, 1963).
Für die kommunistische Linke Frankreichs war C. stets ein ideologischer Feind gewesen – ein Bourgeois, für die Rechte dagegen ein Zersetzer oder ein Linker. Seine Werke werden lange in diesem starren Rechts-Links-Schema begriffen. C. selbst findet sich nicht darin wieder. Seine Parteinahme richtet sich gegen die Tyrannei, und als Künstler, Schriftsteller und Philosoph versteht er sich als »franc-tireur«, als unabhängiger Kämpfer. Nach der Verleihung des Literaturnobelpreises (1957) definiert C. die Aufgaben des Künstlers: »Wir müssen wissen, daß wir dem gemeinsamen Elend nicht entrinnen können und daß unsere einzige Rechtfertigung, wenn es eine gibt, darin besteht, nach bestem Können für die zu sprechen, die es nicht vermögen Für den Künstler gibt es keine privilegierten Henker. Darum kann heute, selbst heute, vor allem heute die Schönheit nicht im Dienste einer Partei stehen, sie dient über kurz oder lang nur dem Schmerz oder der Freiheit des Menschen« (Der Künstler und seine Zeit, Rede 1957).
In diesem Sinn engagierte er sich als Journalist des Alger républicain für die arabische Bevölkerung Algeriens, für die Republikaner im Spanischen Bürgerkrieg und für die Opposition gegen Franco. In der Résistance arbeitete er in der Gruppe »Combat«, von 1945 bis 1947 bei der gleichnamigen Zeitung. Er setzte sich für verurteilte griechische Kommunisten und für die Aufständischen in Berlin 1953, in Poznan und Budapest 1956 ein. Als Algerienfranzose versuchte er, im Algerienkrieg zu vermitteln, trat für die Rechte der arabischen Bevölkerung gegen die Kolonialmacht Frankreich, aber auch für die Rechte der dort lebenden französischen Bevölkerung ein, um dem Morden und den Massakern ein Ende zu machen. Seine Stimme verhallte ungehört.
C. wurde 1913 in Algerien geboren und studierte in Algier Philosophie. Da er Tuberkulose hatte, wurde er nicht zur staatlichen Eingangsprüfung für das Lehramt zugelassen. Er begann, als Journalist zu arbeiten. In Algier inszenierte er seine ersten Theaterstücke, von denen die Aufführung des zweiten kollektiv geschriebenen Stücks Révolte dans les Asturies über die Revolte der Minenarbeiter in Asturien (Spanien) 1934 kurz vor dem Spanischen Bürgerkrieg verboten wurde. Dort entstanden auch die ersten Erzählungen, L envers et l endroit (1937; Licht und Schatten). »In der jetzigen Stunde ist mein ganzes Reich von dieser Welt. Die Ewigkeit ist da und ich erhoffte sie erst. Nicht glücklich zu sein wünsche ich mir jetzt, sondern nur bewußt«; so weisen diese Erzählungen auf den ersten Teil seines Werks über das Absurde, zu dem der Roman L Etranger (1942; Der Fremde) und die Theaterstücke Caligula (Erstaufführung 1945) und Le Malentendu (1944; Das Mißverständnis) sowie die philosophische Abhandlung Le Mythe de Sisyphe (1942; Der Mythos von Sisyphos) gehören. Darin entwickelt C. den Begriff des Absurden aus der Konfrontation von Mensch und Welt. Der sich bewußtwerdende Mensch erkennt in der eigenen Sterblichkeit im Gegensatz zur ihn überdauernden Welt, in der für ihn undurchdringbaren Natur und in der Unmenschlichkeit der Mitmenschen das Absurde. C. verneint für die so wahrgenommene Welt jede metaphysische Erklärung und jede Ausflucht.
Die Reflexion über das Absurde bildet den Ausgangspunkt für seine Überlegungen zur Revolte, deren Hauptbestandteil die Konstitution moralischer Werte und Werturteile ist. Die von ihm erlebte Geschichte des Zweiten Weltkrieges, der nationalsozialistischen Konzentrationslager und der Shoah, der Stalinschen Schauprozesse, der Gulags, des ersten Atombombenabwurfs führen zur Suche nach Handlungsmaximen. »Wir wissen nichts, solange wir nicht wissen, ob wir das Recht haben, den anderen vor uns zu töten oder zuzustimmen, daß er getötet werde. Da jede Handlung heute direkt oder indirekt in den Mord einmündet, können wir nicht handeln, bevor wir nicht wissen, ob und warum wir töten sollen«, so C. zu Beginn seines polemischen Essays L Homme révolté. Er durchstreift darin die Geschichte der metaphysischen und historischen Revolte, sucht die Momente auf, in denen die Revolte sich selbst, d.h. ihre ideellen Ursprünge verrät. Wiederum greift C. die Thematik für sein parallel entstehendes literarisches Werk auf. Das Theaterstück Les justes (Erstaufführung 1949, Die Gerechten) zeigt die Terroristen der russischen Revolution von 1905 vor der Frage, ob der Zweck die Mittel heiligt. Ihre politischen Ziele und Ideale lassen sie zu Mördern werden, die ihre Ideen verteidigen, indem sie den politischen Mord mit dem eigenen Leben sühnen. Diese Frage hatte durch den Kampf der Résistance eine besondere Aktualität gewonnen und wurde auch von anderen Schriftstellern aufgegriffen, z.B. in dem Roman Das Blut der Anderen von Simone de Beauvoir. Auch der Roman La Peste (1947; Die Pest), eine Parabel der Résistance, ist ein Plädoyer für die Solidarität der Menschen im Kampf gegen den Tod und die Tyrannei.
Seine späteren Erzählungen, gesammelt in L Eté (1954; Die Heimkehr nach Tipasa) und L Exil et le Royaume (1957; Das Exil und das Reich), weisen wieder auf den Menschen in der ihm fremden Welt – dem Exil – und seine Sehnsucht nach der ihm eigenen Welt. Neben den philosophischen Texten verbinden die Erzählungen und literarischen Essays mit großer Dichte C.’ Themen, die sich in seiner Naturmetaphorik ausdrückt. Die Sonne und das Meer sind Symbole einer bleibenden, den einzelnen Menschen überdauernden Natur, die stets in ambivalenten Zügen beschrieben werden. Gleichzeitig weisen sie dem Menschen seinen Platz in der Welt, den C. am Ende des L Homme révolté im mittelmeerischen Denken beschreibt. Das mittelmeerische Denken ist vom Maß gekennzeichnet, das C. als Gegenbegriff eines Rationalen, das sich gegen den Menschen wendet, versteht.
Mit seinem letzten, unvollendeten und 1994 posthum veröffentlichten Roman Le premier homme versetzt sich C. in dem vorliegenden ersten von wahrscheinlich drei geplanten Teilen zurück in seine Kindheit. In den autobiographischen Passagen und fiktiven Sequenzen über das Leben in Algerien erscheinen hier wie schon in früheren Werken die für C. wesentlichen Erfahrungen der Armut und der Sonne. In beidem – Licht und Schatten – drückt sich die Liebe zum Leben und die Verzweiflung am Leben aus und damit C.’ Bild vom Menschen in einer Welt, in der er sich seiner Endlichkeit und Fremdheit, aber auch der ihm eigenen Welt – seiner Wahrheit – bewußt werden kann. In Le premier homme versucht C., aus der Erinnerung heraus der Frage der Herausbildung eines Menschen und seiner Bewußtwerdung, vielleicht des »ersten Menschen« mit Werten und Verantwortung im Angesicht der Katastrophen des 20. Jahrhunderts nachzugehen. Die Geschichtslosigkeit seiner Familie, die mittellos ist und des Lesens nicht mächtig, stellt diesen Menschen vor die Aufgabe des Erinnerns und der Aneignung menschlicher Werte, die seine Herkunft und sein Menschsein nicht verraten. C.’ Notizen lassen den Fortgang dieses unvollendeten Romans erahnen; der Versuch, die Verschränkung einer individuellen Biographie mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts darzustellen und damit die Suche nach der dem Menschen eigenen Wahrheit in den Trümmern dieser Geschichte.
C. starb nach einem Autounfall in Petit-Villeblevin auf dem Rückweg von Lourmarin nach Paris. Sein Werk blieb unvollendet. »Eine ganze Generation, die mit dem letzten Krieg ins Leben trat und ihr Vertrauen in diesen älteren Gefährten gesetzt hat, denkt nur mehr an den Körper, der zerschmettert auf der Landstraße liegt, an den Geist und das Herz, die so plötzlich verlöschten. Das Aufbegehren gegen den Tod – Camus hat es gekannt« (André Blanchet).
Schillinger-Kind, Asa A.: Albert Camus zur Einführung. Hamburg 1999. – Isaac, Jeffrey C.: Arendt, Camus and Modern Rebellion. New Haven/London 1992. – Grenier, Roger: Albert Camus soleil et ombre. Une biographie intellectuelle. Paris 1987. – Lottmann, Herbert R.: Albert Camus. Hamburg 1986. – Pieper, Annemarie: Albert Camus. München 1984.
Inka Thunecke
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