Metzler Philosophen-Lexikon: Chomsky, Avram Noam
Geb. 7. 12. 1928 in Philadelphia
In der Philosophie, Psychologie und Linguistik verbindet sich eine gleichermaßen spektakuläre Wirkung mit den Schriften des Sprachwissenschaftlers Ch. In der Linguistik führten sie, um es mit einem Begriff Thomas S. Kuhns zu sagen, zu einem Paradigmenwechsel – eine neue Art von sprachwissenschaftlicher Forschung etablierte sich; in der Psychologie erlangte Ch.s sprachnativistische Auffassung einen bestimmenden Einfluß; sein Restitutionsversuch der alten cartesianischen Lehre von den angeborenen Ideen erregte in der Philosophie besonderes Aufsehen. In den USA wurde Ch. vor allem durch seine radikale Kritik an der imperialistischen Kuba- und Vietnampolitik sowie den hiermit verbundenen opportunistischen Tendenzen der Intellektuellen (American Power and the New Mandarins, 1969 – Amerika und die neuen Mandarine; At War with Asia, 1970 – Im Krieg mit Asien) populär. – Von 1945 bis 1950 studierte Ch. in Pennsylvania Linguistik, Mathematik und Philosophie. Das Handwerkszeug der klassischen Philologie vermittelte ihm sein Vater, der am Graz College in Philadelphia Hebräisch unterrichtete. Während des Studiums war es zunächst politische Sympathie, die ihn mit seinem Lehrer Zellig S. Harris – neben Leonard Bloomfield dem bedeutendsten Repräsentanten des amerikanischen Strukturalismus – verband. Seine philosophische Ausbildung erhielt er in erster Linie von dem neoempiristischen Philosophen Nelson Goodman. In den frühen Publikationen (Syntactic Structures, 1957; Strukturen der Syntax) verband Ch. strukturalistische Grammatikkonzepte mit bestimmten Überlegungen aus der Mathematik (Automatentheorie, Theorie rekursiver Funktionen). Seine entscheidende Leistung liegt in der Formulierung verschiedener Grammatiksysteme, die zu der von ihm entwickelten Generativen Transformationsgrammatik führten. Seit 1955 lehrt Ch. Sprachwissenschaft am »Massachusetts Institute of Technology«.
Von der klassifizierenden Linguistik, die in der Tradition des amerikanischen Strukturalismus unter dem Vorzeichen eines empiristischen Wissenschaftsideals praktiziert wurde, unterscheidet sich Ch.s Ansatz in den folgenden Punkten: 1.) Im Strukturalismus war der Ausgangspunkt der Linguisten eine Sammlung sprachlicher Daten – ein sogenanntes Korpus. Da ein Korpus immer nur endlich viele Elemente einer Sprache enthalten kann, ist es als Grundlage für die Konstruktion einer Grammatik ungeeignet. Mittels einer Datensammlung, so Ch., kann die kreative Fähigkeit eines Sprechers, unendlich viele neue Sätze zu produzieren, nicht erfaßt werden. Also muß das sprachliche Wissen der Sprecher Ausgangspunkt einer linguistischen Theorie werden. 2.) Im Strukturalismus war es das Ziel der Sprachwissenschaft, die Elemente in einem Korpus zu klassifizieren. Ch. hingegen möchte eine Theorie konzipieren, welche die Regeln angibt, die der Konstruktion von Sätzen zugrundeliegen. 3.) Das Verhältnis zwischen linguistischer Theorie und der Grammatik einer Sprache wurde im Strukturalismus so gedacht, daß eine Theorie dem Linguisten praktische Verfahren zur Verfügung stellen sollte, mittels welcher die richtige Grammatik für eine Sprache konstruiert werden konnte (Auffindungsverfahren). Ch. zufolge ist dieser Anspruch zu hoch, eine linguistische Theorie kann allenfalls Kriterien vermitteln, die es ermöglichen, z.B. eine von zwei für eine Sprache vorgeschlagenen Grammatiken als die bessere auszuzeichnen (Bewertungsverfahren).
Neben dieser Kritik an den strukturalistischen Methoden und Zielen findet sich in Ch.s Schrift Syntactic Structures die Diskussion einiger formaler und generativer Modelle, die sich für eine Beschreibung der Syntax natürlicher Sprachen anbieten. Unter einer generativen Grammatik versteht Ch. einen Mechanismus, der alle möglichen und nur die in einer natürlichen Sprache möglichen Sätze hervorbringen kann. Eine solche Grammatik muß explizit sein und die Eigenschaft der Rekursivität besitzen. Explizit ist eine Grammatik dann, wenn sie alle Regeln enthält, die der Konstruktion von Sätzen zugrundeliegen, und wenn sie die Bedingungen formuliert, unter denen diese Regeln anwendbar sind. Rekursiv ist die Grammatik, wenn sie mittels einer endlichen Menge von Regeln unendlich viele Sätze erzeugen kann. Ch. diskutiert »Grammatiken mit endlich vielen Zuständen« (»finite state grammars«) und eine Phrasenstrukturgrammatik – letztere ist eine kalkülisierte Version der bereits im Strukturalismus verwendeten Konstituentenstrukturgrammatiken. Beide Modelle erweisen sich für eine Beschreibung der Syntax natürlicher Sprachen als ungeeignet. Mittels des auf Markovprozessen basierenden Modells einer Grammatik mit endlich vielen Zuständen lassen sich zwar unendlich viele Sätze erzeugen, aber es gibt bestimmte Mechanismen der Satzbildung, die in einem solchen Modell nicht angemessen darstellbar sind. Die Regeln einer Phrasenstrukturgrammatik können mitunter nur sehr einfache Sätze erzeugen; Phänomene wie z.B. die Verwandtschaft von Aktiv- und Passivsätzen oder strukturelle Mehrdeutigkeiten werden von ihnen nicht erfaßt. Deshalb schlägt Ch. vor, die Regeln einer Phrasenstrukturgrammatik durch Transformationsregeln zu ergänzen, die dann z.B. in der Lage sind, einen mittels der Phrasenstrukturregeln erzeugten Aktivsatz in den entsprechenden Passivsatz umzuformen. Mit diesem Modell gelang es Ch., die Syntax natürlicher Sprachen als formales System zu explizieren.
In seiner zweiten großen Schrift Aspects of the Theory of Syntax (1965; Aspekte der Syntax-Theorie) wird dieses auf die Syntax reduzierte Modell der Sprache – ein Erbe strukturalistischer Ideologie – ergänzt. In dem auch als »Standard Theory« bekannten Aspects-Modell unterscheidet Ch. zwischen der syntaktischen, phonologischen und semantischen Komponente einer Grammatik. Im Mittelpunkt dieses Modells stehen weiterhin syntaktische Analysen. Die syntaktische Komponente der Grammatik setzt sich zusammen aus einer Basis und einem Transformationsteil; erstere besteht aus Phrasenstrukturregeln und einem Lexikon, welche dazu dienen, sogenannte Tiefenstrukturen von Sätzen zu erzeugen. Diese Tiefenstrukturen dienen als Input für den Transformationsteil; mittels der Transformationsregeln werden die Tiefenstrukturen umgebaut und in Oberflächenstrukturen – welche identisch sind mit den wohlgeformten Sätzen einer Sprache – überführt. Da Ch. die semantische und phonologische Komponente rein interpretativ denkt, leidet dieses Modell immer noch an einer syntaktischen Engführung der Sprachtheorie. Erst Ch.s Schüler William Ross, George Lakoff und James McCawley vertieften die semantischen Überlegungen innerhalb der generativen Bewegung. Seit den 70er Jahren ist Ch. mit einer Revision und Modifikation des von ihm konzipierten Grammatikmodells beschäftigt. Diese Neuerungen betreffen vor allem die Formulierung von Beschränkungen, welche die Anwendbarkeit und damit die generative Kraft der Transformationsregeln einschränken sollen. Seine Schriften zu diesem Thema sind Essays on Form and Interpretation (1977) und Lectures on Government and Binding (1981).
Während Ch. zunächst an der Entwicklung einer formalen Syntaxtheorie interessiert war, führten ihn die Ergebnisse seiner sprachwissenschaftlichen Forschung dazu, mehr und mehr auch psychologische und philosophische Überlegungen über die Beschaffenheit des menschlichen Geistes anzustellen. Schon in den Aspects ist es nicht mehr das Ziel Ch.s, mit der Grammatiktheorie die Sprache zu beschreiben; beschrieben werden soll die »Kompetenz« des Sprechers einer Sprache. Unter Kompetenz – Ch. unterscheidet sie von der »Performanz«, dem jeweils konkreten Gebrauch der Sprache – versteht er das intuitive sprachliche Wissen eines Sprechers, welches der Performanz zugrundeliegt. Eine Grammatik soll die diesem Wissen impliziten Regeln explizieren. Das Regelsystem der Grammatik wird hier begriffen als das Abbild eines psychologisch realen Regelsystems, das angeblich die Grundlage der Sprachfähigkeit bildet. Mit dieser mentalistischen Position richtet sich Ch. gegen den Behaviourismus in der Psychologie. So hatte er schon 1959 eine kritische Rezension von Burrhus F. Skinners Verbal Behaviour (1957) verfaßt. Ch. kritisierte vor allem die pseudowissenschaftlichen Begriffe der behaviouristischen Psychologie, die er als die Alltagssprache paraphrasierende Wendungen entlarvte. In den Folgejahren wurde seine Auffassung vom Erstspracherwerb eines der Hauptargumente gegen den Behaviourismus. Auf der Grundlage seiner grammatischen Forschungen formuliert er empirische Argumente dafür, daß die Sprachfähigkeit dem Menschen angeboren ist (Language and Mind 1968; Sprache und Geist) und nicht nach dem behaviouristischen Lernmodell von Reiz und Reaktion erklärt werden kann. In diesem Zusammenhang ist sein Begriff der »Universalgrammatik« zu nennen: Er ist der Ansicht, daß es allen Sprachen gemeinsame Elemente gibt, die als linguistische Universalien bezeichnet werden können. So sollen insbesondere seine Analysen auf der tiefenstrukturellen Ebene diese Auffassung stützen – Ch.s Theorie will sich als ein Beitrag zur universalgrammatischen Forschung verstanden wissen. Auch aus diesem Grund hat sich Ch. in späteren Schriften intensiv um die Auflösung der Spannung, die zwischen der deskriptiven Adäquatheit und der explanatorischen Kraft des von ihm anvisierten Grammatikmodells besteht, bemüht. Einerseits soll die generative Grammatik so universal sein, daß sich mit ihrer Hilfe grammatische Sätze aller natürlichen Sprachen erzeugen lassen. Andererseits muß sie auch den verschiedenen Grammatiken der einzelnen Sprachen Rechnung tragen. Der Regelapparat der generativen Grammatik wurde immer komplexer. Seit Anfang der 1990er Jahre hat Ch. seine Theorie unter dem Titel The Minimalist Program (1995) weiter entwickelt, nachdem er sich zuvor in anderen Büchern wie The Generative Enterprise (1988) und Language and the Problems of Knowledge (1988) der Konsolidierung und dem Ausbau eines Theorieprogramms gewidmet hatte. Mit Hilfe des »minimalistischen Programms« soll vor allem den Prinzipien der Ökonomie und Einfachheit im Rahmen der Theoriebildung Rechnung getragen werden. Die Annahme linguistischer Universalien und die These eines genetischen Fundaments des Sprachvermögens ergänzen sich wechselseitig.
Ch. reiht sich in eine von ihm als »cartesianische Linguistik« bezeichnete Tradition (Cartesian Linguistics, 1966; Cartesianische Linguistik) ein. Er entdeckt Präfigurationen seiner eigenen Konzeption in der Tradition des philosophischen Rationalismus, so etwa bei Leibniz, Descartes, den Grammatikern von Port Royal, Herder und Wilhelm von Humboldt. Die Gemeinsamkeiten zwischen der rationalistischen Sprachphilosophie und der Theorie Ch.s lassen sich wie folgt zusammenfassen: Die Sprache wird als eine spezifisch menschliche Fähigkeit aufgefaßt. Die wichtigste Eigenschaft der menschlichen Sprache ist ihre Kreativität. Es handelt sich bei der Sprachfähigkeit um ein angeborenes Vermögen. Bestimmte Elemente sind allen menschlichen Sprachen gemeinsam. Die Unterscheidung zwischen Tiefenstruktur und Oberflächenstruktur findet sich in der rationalistischen Tradition als Unterscheidung zwischen einem inneren und äußeren Aspekt der Sprache.
In der Schrift Rules and Representations (1980; Regeln und Repräsentationen) befaßt sich Ch. mit der Frage nach einer biologischen Fundierung seiner mentalistischen Position. Er plädiert für eine Übertragung naturwissenschaftlicher Verfahren auf die Linguistik und Psychologie. Der Neurophysiologie weist er die Aufgabe zu, physiologische Korrelate der Sprachfähigkeit des Menschen auszumachen. Untersuchungen über die Strukturen und die Arbeitsweise des menschlichen Gehirns sollen seine Hypothesen stützen. Obwohl gerade die naturalistische Position Ch.s in der Philosophie kontroverse Diskussionen auslöste, wird sie von ihm in immer neuen Anläufen gegen mögliche Einwände verteidigt. Von besonderem Interesse ist zum Beispiel seine in dem Buch Knowledge of Language (1986) geführte Auseinandersetzung mit der Wittgenstein-Deutung Saul A. Kripkes. Letzterer hatte darauf hingewiesen, daß die Überlegungen Wittgensteins zum Problem des Regelfolgens ein verändertes Verständnis des linguistischen Kompetenzbegriffs erforderten und zudem deutlich machten, daß der Erklärungsanspruch einer Theorie vom Typus der Ch.schen verfehlt sei.
In einem weiteren Buch mit dem Titel New Horizons in the Study of Language and Mind (1996) setzt sich Ch. ausführlich mit weiteren Argumenten, die von verschiedenen Philosophen gegen seinen Ansatz in Stellung gebracht wurden, auseinander. In der Diskussion von Überlegungen, wie sie beispielsweise von Donald Davidson, Michael Dummett und Hilary Putnam vorgetragen worden sind, macht Ch. erneut deutlich, daß die menschliche Sprache als ein biologisches Objekt zu betrachten sei und folglich auch mit den Mitteln und dem Vokabular der Naturwissenschaft untersucht werden könne. In neueren Arbeiten werden die Überlegungen zum Verhältnis von Geist, Sprache und Gehirn vertieft und außerdem Bezüge des »minimalistischen Programms« zu aktuellen kognitions- und neurowissenschaftlichen Forschungen hergestellt (On Nature and Language, 2002). Trotz der von philosophischer Seite wiederholt erhobenen Vorwürfe, sind Ch.s Ideen immer wieder im Rahmen einer philosophischen Semantik diskutiert und verwendet worden, so etwa von Jerry Fodor für die Konzeption einer »Psychosemantik«.
In den letzten Jahrzehnten trat Ch. erneut verstärkt als politischer Publizist an die Öffentlichkeit. Im Vordergrund seines politischen Engagements, das sich in einer Vielzahl von Schriften dokumentiert, stehen neben kritischen, mitunter subversiven Kommentaren zu aktuellen Ereignissen (wie etwa dem Golfkrieg, dem Nahostkonflikt oder dem Kosovo-Krieg) Überlegungen zur Medienkritik (zusammen mit Edward S. Herman Manufacturing Consent. The Political Economy of the Mass Media, 1988; Necessary Illusions. Thought Control in Democratic Societies, 1989), zur wirtschaftlichen fundierten politischen Rolle der USA nach dem Ende des kalten Krieges (Dettering Democracy, 1991; World orders, old and new, 1995) und deren ideologischen Legitimationsversuchen (Wirtschaft und Gewalt. Vom Kolonialismus zur neuen Weltordnung, 1993). Überaus kritisch sind Ch.s Kommentare zur amerikanischen Außenpolitik und deren Darstellung in den Medien (War Against People. Menschenrechte und Schurkenstaaten, 2001). Ch. hat zudem eine Reihe scharfsinniger und eigenwilliger Beiträge zu den Anschlägen vom 11. September 2001 und deren Folgen vorgelegt (zum Beispiel The Attack; Hintergründe und Folgen, 2002), und er beschäftigt sich mit den politischen, ökonomischen und sozialen Folgen der Globalisierung (Profit Over People. Neoliberalismus und globale Weltordnung, 2002; engl. 1998).
Barsky, Robert F.: Noam Chomsky. Libertärer Querdenker. Zürich 1999. – Smith, Neil: Chomsky. Ideas and Ideals. Cambridge 1999. – Botha, Rudolph P.: Challenging Chomsky. Oxford 1989. – Newmeyer, Frederick J.: Linguistic Theory in America. The First Quarter Century of Transformatorial Generative Grammar. New York 1980. – Hermanns, Fritz: Die Kalkülisierung der Grammatik. Philologische Untersuchungen zu Ursprung, Entwicklung und Erfolg der sprachwissenschaftlichen Theorien Noam Chomskys. Heidelberg 1979.
Christoph Demmerling
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