Metzler Philosophen-Lexikon: Clemens von Alexandria
Geb. um 150 n. Chr. vermutl. in Athen; gest. vor 215 n. Chr. vermutl. in Kappadokien
Über keinen der frühchristlichen Denker wissen wir so wenig wie über C. Geboren in einem paganen Elternhaus, wird er später Christ. Auf langen Reisen durch Unteritalien, Syrien und Palästina hört er verschiedene christliche Lehrer. In Alexandria schließlich begegnet er dem zum Christentum konvertierten Stoiker Pantainos, dem Leiter des dortigen Katechetenunterrichts. C. wird sein Schüler, später sein Nachfolger. Während der Christenverfolgung unter Septimius Severus (202/03) flieht er nach Kappadokien, wo er wohl bis zu seinem Tod gelebt hat.
Die faszinierendste seiner erhaltenen Schriften sind die (möglicherweise unvollendeten) Stromateis (Teppiche), die er anstelle einer geplanten systematischen Gesamtdarstellung des christlichen Glaubens verfaßt. Dessen offene Darlegung erscheint ihm angesichts der gefährdeten Lage der zeitgenössischen Kirche zu problematisch. In den Teppichen breitet C. vor seinen Lesern einen Park, ja ein Labyrinth aus, in dem sich die großen Probleme der christlichen Praxis und Theorie scheinbar ohne Ordnung, mehr andeutend als ausführend, und in poetischer Sprache besprochen finden. Die Glaubenswahrheiten sollen dem für die christliche Botschaft nicht Bereiten verwirrend und verschlossen bleiben, sich nur dem Bereiten erschließen.
C.’ Denken ist geprägt von seiner Philon aufgreifenden Integration philosophischer Positionen in die Theologie. Den Nutzen der Philosophie verteidigt er nachdrücklich; wie alles Gute stammt sie von Gott, entspringt der von ihm den Menschen verliehenen »Fähigkeit zur Vernunft«, dem »lógos spermatikós«, dem als Abbild des göttlichen Logos allen eingepflanzten Samen der Wahrheit. Seine Allegorese des homerischen Abenteuers von Odysseus und den Sirenen verdeutlicht C.’ Verhältnis zur Philosophie, die Hilfe, aber auch Gefahr sein kann. Odysseus ist der gute Lehrer^, der griechischer Weisheit nicht ängstlich aus dem Weg geht, sondern sich in ihr ein wertvolles Werkzeug anzueignen weiß. Mit diesem hält er den Kurs heim zur Wahrheit. Die Mehrzahl der Christen freilich verweigert dem Sirenensang^ zu Recht die Ohren – wie Odysseus’ Gefährten würden sie allzu leicht die Orientierung verlieren. Weder universelles Angebot noch Heilsbedingung ist also die Philosophie, sondern ein Sonderweg intellektueller christlicher Selbstverwirklichung. C.’ Gottesbegriff greift Philons negative Theologie auf: Gott, die absolute Transzendenz, bleibt menschlicher Vernunft unfaßbar. In seiner Lösung des Paradoxes einer Verbindung des transzendenten Gottes mit der Welt geht C. einen Schritt weiter: Eine Erkenntnis Gottes ist durch die Gnade der Offenbarung möglich. Auf diese bereitet Gott die Menschen durch seine »Erziehung« vor – die Juden mittels des Alten Testaments, die Griechen mittels der Philosophie. So vorbereitet, erfüllt sich die Offenbarung in der Inkarnation Christi, der Manifestation Gottes in der Welt. Damit bindet C. Philons abstrakten Logos an die Person Jesu.
Menschliche Existenz begreift C. als ethische Aufgabe. Die Schöpfung ist ein Experiment der Freiheit, welches die Abkehr von Gott ausdrücklich ermöglicht. Tatsächlich fallen die Menschen von ihm ab und negieren mit dieser Verfehlung ihre Mitwirkung an der Vollendung der Schöpfung. Gott gibt sie damit nicht verloren, sondern sucht sie mit seiner »Erziehung« zurückzugewinnen. Ihr so geweckter Erlösungswunsch kommt seinem Heilsplan entgegen. Der Erlösung vermag auf Erden der Aufstieg zur Gotteserkenntnis vorauszugreifen. Diese realisiert sich in der Allegorese der Bibel als ein nur wenigen zugängliches Wissen (Gnosis). Dem Sonderweg der Erkenntnis steht der allgemeingültige der Ethik gegenüber, als Versuch, dem Ideal christlichen Lebens nahezukommen. Die stoische Formel vom Leben gemäß der Natur^ und die platonische Definition des höchsten Gutes als weitestmögliche Angleichung an Gott^ werden zur Beschreibung der idealen christlichen Existenz, der Ebenbildlichkeit mit Gott. Die Befreiung von aller Weltlichkeit^, die nicht (stoisch) unterdrückt, sondern von der Liebe überwunden wird, führt zu jener sittlichen Vollkommenheit, die die Schau Gottes ermöglicht. Gotteserkenntnis ist für C. kein statischer Besitz, sondern, mehr paulinisch denn platonisch gedacht, ein dynamisches, mit dem Tod nicht endendes Fortschreiten. Auch der vollkommene Christ kann im irdischen Leben nicht den Grad der Heiligkeit erlangen, der ihn der unmittelbaren Nähe Gottes versichert. Gottes Feuer reinigt im künftigen Leben die befleckten Seelen. Erst dieser Prozeß der Heilung erschließt den Menschen die Gegenwart Gottes. Sie erlebt der wahre Wissende als endlose, sich nie sättigende Liebe, als unendliches Eindringen in das Mysterium der Erkenntnis. Die Vision einer gänzlich dynamischen, immer weiter sich auffaltenden Transzendenz läßt ihn sogar sagen, der wahre Wissende, müßte er wählen zwischen dem ewigen Heil und der Erkenntnis Gottes, entschiede sich ohne Zögern für die Erkenntnis.
In einer Zeit, die eine Formulierung christlicher Theologie nur in Ansätzen kennt, unternimmt C. den ersten Versuch einer Gesamtdarstellung und -deutung des Christentums, die zudem orthodoxe und intellektuelle Interessen gleichermaßen zu befriedigen sucht. Philosophisches Denken und christliche Offenbarung ergänzen sich für ihn notwendig; ihre Beziehung zueinander sucht er ans Licht zu bringen. In diesem Prozeß gerät die platonische Philosophie in Bewegung: Der transzendente Gott offenbart sich in der Inkarnation, die immanente Schöpfung vollendet sich ins Eschaton – die klassische Barriere zwischen Welt und Sein wird aufgehoben.
C.’ Synthese von Platonismus und Christentum überwindet die Dominanz stoischer Positionen in der frühen Kirche endgültig und erringt der griechischen Metaphysik Heimatrecht in der Kirche. Ungeachtet dieser Leistung blieb das Verhältnis der Kirche zu ihm lange Zeit reserviert. Die Integration vieler aus orthodoxer Sicht suspekter Elemente in sein Denken, sein in der patristischen Literatur ungewohnt optimistisches Menschenbild, sein Festhalten an hellenischen Idealen, sein Bemühen, Aussagen konsequent biblisch und philosophisch zu begründen, wußte erst die Neuzeit anzuerkennen – sie machten ihn zum Liebling der Humanisten.
Lilla, S.R.C.: Clement of Alexandria. A Study in Christian Platonism and Gnosticism. Oxford 1971. – Chadwick, H.: Early Christian Thought and the Classical Tradition. Oxford 1966, S. 31–65.
Peter Habermehl
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