Metzler Philosophen-Lexikon: Condillac, Étienne Bonnot de
Geb. 30. 9. 1714 in Grenoble/Isère; gest. 3. 8. 1780 auf Schloß Flux bei Beaugency/Loir-et-Cher
»Sind Sie immer noch Sensualist, Immoralist und Atheist? – Wieso denn? – Ja, Sie bestreiten doch, daß die Vernunft eine eigenständige Fähigkeit ist. Sie bestreiten die Existenz der eingeborenen Ideen. Sie behaupten, daß eine vollkommene Wissenschaft nichts weiter sei als eine vollkommene Sprache. Sie folgen Condillac, also,« so setzt Hippolyte Taine die fiktive Anklageerhebung fort, »können Sie weder an die Wahrheit noch an die Gerechtigkeit noch an Gott glauben Ihre Philosophie zerstört die Würde des Menschen.« Womit er die globale Verurteilung von C. durch die Vertreter einer spiritualistischen Philosophie im 19. Jahrhundert pointiert auf einen Nenner bringt. Gleichzeitig hält er fest, was diesen Denker in den Augen eines Victor Cousin zum »schuldigsten aller modernen Verschwörer« macht, im Urteil des jungen Marx jedoch nur Ehre einbringt: »Er publizierte eine Widerlegung der Systeme von Descartes, Spinoza, Leibniz und Malebranche. In seiner Schrift Essai über den Ursprung der menschlichen Erkenntnisse führte er Lockes Gedanken aus und bewies, daß nicht nur die Seele, sondern auch die Sinne, nicht nur die Kunst, Ideen zu machen, sondern auch die Kunst der sinnlichen Empfindung Sache der Erfahrung und Gewohnheit sei. Von der Erziehung und den äußeren Umständen hängt daher die ganze Entwicklung des Menschen ab.«
Eines ist gewiß: C. hätte, mit den Urteilen der Nachwelt konfrontiert, seinem – noch für Jacques Derrida gültigen – Ruf als Anti-Metaphysiker selber nicht zugestimmt. Denn dieser Denker, der, wie seine Lebensführung zeigt, eher den Schutz der Konvention sucht anstatt zu rebellieren, und, was seine Entscheidung für das dann allerdings nie ausgeübte Priesteramt anbelangt, lieber den Konvenüs seines Standes folgt, hat seinen Angriff auf den metaphysischen Apriorismus geradezu programmatisch hinter dem Gestus der Bescheidenheit versteckt. »Ich werde mein Thema entwickeln, so gut ich kann; wie ein kleiner Mensch, der dem folgt, was sich für die Vermutung als wahrscheinlich erweist.« Dies erklärt C. in der Einleitung zum Traité des sensations (Abhandlung über die Empfindungen) von 1754 und bestätigt listig den Vorsatz seines 1746 publizierten Essai sur l origine des connaissances humaines (Essai über den Ursprung der menschlichen Erkenntnisse), eine Philosophie zu betreiben, die »ihre Forschungen mit den beschränkten Möglichkeiten des menschlichen Geistes in Übereinstimmung« bringt. Offenbar hat der Bescheidenheitstopos die sonst so wachsamen Zensoren des Ancien Régime über die Radikalität eines Denkens hinweggetäuscht, das sämtliche Behauptungen dem Test der Erfahrung unterzieht. Dies ist um so erstaunlicher, als diejenigen unter den Aufklärern, die sich auf C. berufen, sich ein Publikationsverbot einhandeln oder schlimmer noch eine Gefängnisstrafe wie Denis Diderot mit der Lettre sur les aveugles (1749; Brief über die Blinden), während C. von der Pariser Zensur unbehelligt bleibt und im selben Jahr seine grundsätzliche Kritik an spekulativen Systemen im Traité des systèmes veröffentlichen kann. Freilich geht C. in den gut sieben Jahren, die er noch im Zentrum der europäischen Aufklärung verbringen wird, allen Kampagnen, die gegen die neue Philosophie angezettelt werden, aus dem Weg. Vor allem meidet er die immer schärfer werdende Auseinandersetzung um die Encyclopédie (1751/80), deren Entstehung er seit Mitte der 40er Jahre in fast täglichem Austausch mit Diderot und d’Alembert verfolgen konnte: 1758, als dann anläßlich der Veröffentlichung von Claude Adrien Helvétius’ Abhandlung De l esprit (Vom Geiste) auch gleich das Sammelwerk der »philosophes« des Atheismus und Materialismus angeklagt wird, geht C., der sich aufgrund seiner Beiträge Divination und System demselben Verdacht ausgesetzt sieht, für die folgenden neun Jahre als Prinzenerzieher nach Parma.
Doch flieht dieser ganz und gar nicht verruchte Abbé die mondäne Geselligkeit der »gens de lettres« nur, um in der Rolle des Hofmeisters seine Philosophie um so wirkungsvoller voranzutreiben. Unter dem irreführenden Titel Cours d étude pour l instruction du Prince de Parme (1775) verfaßt er ein sechzehnbändiges Kompendium, das, als Lehrbuch getarnt, sich partienweise wie ein sensualistisches Manifest liest. Tatsächlich begreift C. den Cours als Gelegenheit, im direkten Kontakt mit einem künftigen Souverän unorthodox-aufklärerisches Gedankengut zu verbreiten. Allein, Unbegabtheit und Langeweile des kleinen Ferdinand lassen den Plan scheitern, einen fürstlichen Schüler zum guten Herrscher zu bilden. Kein Wunder, denn im Unterschied zur Erziehungslehre seines Freundes Rousseau, der zur gleichen Zeit und ebenso zurückgezogen Émile, ou de l éducation (1762; Emile oder über die Erziehung) konzipiert, vernachlässigt C.s pädagogisches Vorgehen die praktische Seite kindlicher Bedürfnisse. Sein Lehrgang setzt mit einer Propädeutik, deren Leitfrage, »Wollt ihr die Wissenschaft mit Leichtigkeit lernen? Beginnt damit, eure Sprache zu erlernen«, auf den Essai von 1746 zurückweist. Dort nämlich hatte C. die These einer gegenseitigen Konditionierung von Sprache und Denken vertreten und im Unterschied zur cartesianisch beeinflußten Logik von Port-Royal die Abhängigkeit des Denkens von Zeichen hervorgehoben und die Sprache insofern aufgewertet, als er sie über einen Prozeß wechselseitiger Beeinflussung in die Genese der menschlichen Erkenntnisse einbezieht. Der Grundsatz, daß »die Sprache eine analytische Methode« sei, bestimmt auch seine späteren Überlegungen in der Schrift La logique, ou les premiers développements de l art de penser (1780; Die Logik oder die Anfänge der Kunst des Denkens), vor allem aber La langue des calculs (posth. 1798; Die Sprache des Rechnens), die konsequent einen möglichen Umkehrschluß aus der Sprachtheorie zieht, daß jede analytische Methode eine Sprache sei.
Gerade die letzten Schriften zeigen, wie hartnäckig dieser Philosoph das Ziel verfolgt, mit den Mitteln einer allgemein gültigen, analytisch-mathematischen Methode das gesamte Wissen einer Generalrevision zu unterziehen, um »wie Bacon sagt, die ganzen menschlichen Verstandeskräfte zu erneuern«. Indem C. zugleich mit der Forderung, »die Dinge so zu sehen, wie sie tatsächlich sind«, einen streng erfahrungswissenschaftlichen Maßstab anlegt, lenkt er die Analyse auf die sinnlich wahrnehmbaren Phänomene. Wie brisant seine Forderung ist, die empirische Tatsachenbeobachtung zum Ausgang einer »Erforschung des menschlichen Geistes«, sprich zur Grundlage einer Erkenntnistheorie zu machen, demonstriert nicht zuletzt das modellhafte Beispiel, mit dem C. den Stellenwert, den die übermittelten Sinnesempfindungen für die Erkenntnis besitzen, systematisch zu fassen sucht. In der Vorrede zum Traité des sensations vereinbart der Autor mit seinen Lesern ein Experiment, das ihnen nachfühlbar machen soll, »wie alle unsere Kenntnisse und Vermögen von den Sinnen herrühren«. Er fordert sie daher auf, sich in eine Statue zu versetzen. Das Experiment simuliert einen Wahrnehmungsausfall, um die Entstehung und den Modus der Hervorbringung erster Sinnesempfindungen zu beobachten. Ein aufmerksames Publikum, dem durch Voltaires populäre Schriften Lockes »Experimentalphysik der Seele« vertraut war und das in den zeitgenössischen Journalen Berichte über das Verhalten Taubstummer, Blindgeborener oder am grauen Star Operierter mit allergrößtem Interesse gelesen hatte, konnte in C.s Modell leicht die medizinischen Fallbeispiele wiedererkennen. Für dieses Publikum dürfte zugleich deutlich gewesen sein, daß C.s fiktives Experiment ein theologisches Dogma in Frage stellte: Daß aufgrund der Teilhabe der menschlichen Seele an der göttlichen Weisheit den Menschen die Fähigkeit zur Ideation eingeboren sei.
Bereits im Essai hatte C. am Fall eines der das 18. Jahrhundert so faszinierenden wilden Kinder, »des Waldkinds aus Litauen, das unter Bären aufwuchs«, ex negativo gezeigt, daß sittliche Vorstellungen hingegen erworben werden und daß die »größte Quelle der Ideen für die Menschen in ihrem gegenseitigen Verkehr« liegt. Mit dem Statuenbeispiel versucht er dann, der Frage nach der Entstehung der Bewußtseinsinhalte und ihrem logischen Aufbau eine konsequent sensualistische Antwort zu erteilen. In seiner frühen Schrift geht C. von einem intensiven affektiven Zustand aus, dem eine Art instinktiver Zeichenverwendung entspricht, deren Artikulationsformen – Schreie und Gesten – der sinnlichen Wahrnehmung noch sehr nahe stehen. Im Traité des sensations differenziert er diesen Ansatz, indem er auf die »gegenseitige Erziehung« der Sinne verweist. C. entwickelt ein genetisches Modell, das vom schrittweisen Erwerb und einer langsamen Vernetzung der Sinnesempfindungen ausgeht. Er revidiert damit die seit Aristoteles gültige Hierarchie der fünf Sinne: C., der die sinnliche Wahrnehmung als Ordnungsfaktor begreift, mit dem der Mensch die ihn umgebende Welt strukturiert, privilegiert den Tastsinn gegenüber den anderen Sinnen. Einzig dieser Sinn, der »durch sich selbst über Außendinge urteilt«, erlaubt eine »objektive« Erschließung der Außenwelt. Obwohl C. die neuzeitliche Kritik an den Sinnen als Ursache von Täuschungen und Bewußtseinstrübungen nicht gelten läßt, entwertet er hiermit den Gesichtssinn, der traditionellerweise der Erkenntnis am nächsten steht. Für die Privilegierung des Tastsinns spricht allerdings C.s eigener Fall. Hatte der Philosoph doch als Kind am eigenen Leibe erfahren, wie sehr eine durch ein Augenleiden reduzierte Wahrnehmung die Möglichkeiten der Weltaneignung – und sei es das Lesen, das er erst als Zwölfjähriger lernt – beschränken kann. Jene Sehbehinderung, die ihn auch immer wieder zwingt, seine Arbeit am Traité zu unterbrechen, enthüllt gleichsam den somatischen Grund, den C. in dieser Schrift als Basis aller Erkenntnis zu erkunden sucht. Eine Antwort auf den Spott seiner Brüder? Unter den Geschwistern, die den Spätentwickler sich selbst überließen, galt »dieser hervorragende Geist«, wie Rousseau berichtet, als Idiot der Familie.
Knight, Isabel F.: The Geometric Spirit. The Abbé de Condillac and the French Enlightenment. London 1986. – Rousseau, Nicolas: Connaissance et langage chez Condillac. Genf 1986. – Le Roy, Georges: La psychologie de Condillac. Paris 1937.
Bettina Rommel
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