Metzler Philosophen-Lexikon: Condorcet, Marie Jean Antoine Nicolas, Marquis de
Geb. 17. 9. 1743 in Ribemont/Picardie; gest. 28. 3. 1794 in Bourg-la-Reine
Sein Tod war unwürdig. Doch als gälte es, das Ende zu überhöhen, haben die Biographen dem fünfzigjährigen Mann, der am Morgen des 28. März 1794 im Gefängnis von Bourg-la-Reine tot aufgefunden wurde, im nachhinein den Schierlingsbecher in die Hand gedrückt. »Sie sagten: Wähle! Was willst du sein – Unterdrücker oder Opfer? Darauf umarmte ich das Unglück und ließ ihnen das Verbrechen.« – unter diesem Motto hat vor allem die nachrevolutionäre Propaganda den Reformer des Ancien Régime als Opfer der Terreur heroisiert. Und das Gerücht des Philosophentodes im eigenen Interesse genutzt. Denn C. nahm kein Gift. Dieser Denker, der, obwohl schon vogelfrei, furchtlos und ungebrochen in seiner letzten Schrift, Esquisse d un tableau historique des progrès de l esprit humain (1795; Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes), noch einmal den Erkenntnisoptimismus des Aufklärers aufbietet und dem Tribunal der Revolutionäre sein reformerisches Credo an »die Vervollkommnung der Menschen« entgegenschleudert, starb, nervlich erschöpft, nach einem monatelangen Leben im Untergrund, aus Entkräftung, Aufregung, Verzweiflung – nur wenige Tage, nachdem er, aus Angst vor Entdeckung, sein Pariser Versteck verlassen hatte und kurz darauf als verdächtig in dem südlich der Stadt gelegenen Marktflecken gefangengesetzt worden war.
Das grauenvolle Ende des letzten Enzyklopädisten^ entbehrt jedoch nicht ganz der Folgerichtigkeit. Denn C., dessen intellektuelle Entwicklung von der zunehmenden Politisierung der Aufklärung bestimmt wird und dessen Lebensgeschichte sich wie ein Reflex auf jenen Vorgang ausnimmt, erweist sich in der Praxis eher als vernunftgeleiteter Aufklärer denn als taktisch geschickter Politiker. Seine praktisch-politischen Aktivitäten (als Inspektor Turgots 1774 und 1775, als Mitglied der Legislative 1791 und im Jahr darauf als Abgeordneter des Nationalkonvents) und ebenso sein publizistisches Engagement – für eine Rationalisierung des Strafrechts, für die bürgerliche Gleichstellung der Protestanten und die Befreiung von Fron und Sklaverei –, sie widerlegen de facto das Bild von der Aufklärung als rein kulturellem Prozeß. Doch wird C., der sich gerade auch als Politiker eher der analytischen Kraft der Vernunft als einer Parteiräson verpflichtet weiß, von der Dynamik der revolutionären Ereignisse seit 1789 überholt. Es bleibt die Bilanz seines realpolitischen Mißerfolgs: Sämtliche seiner Projekte scheitern. Entweder sind sie, wie die Reform des Schulwesens, die er 1792 der Gesetzgebenden Versammlung vorträgt, in der aktuellen Krisensituation – Kriegserklärung gegen Österreich, Sturm auf die Tuilerien, Gefangennahme der königlichen Familie – praktisch nicht durchführbar, oder sie gewinnen, wie der Verfassungsentwurf von 1793, keine Mehrheit mehr. Gegen Ende seines Lebens hat nicht nur der Reformer jeglichen Rückhalt verloren. Von seinen Standesgenossen, aber auch von den oft königstreuen Vertretern der zeitgenössischen Kulturelite als Abgeordneter eines Konvents stigmatisiert, der das Todesurteil über Ludwig XVI. fällt, zieht C. als einer der Wortführer der Gironde und damit als eine Galionsfigur der frühliberalistischen Kräfte, die sich erstmals unter der Ersten Republik gegen die Vertreter einer plebiszitären Volksherrschaft formieren, die Haßtiraden der Jakobiner auf sich. Nicht ohne Grund, denn gerade die Isolation scheint C. in seiner Leitvorstellung der Vernunftmäßigkeit nur zu bestärken. Noch die Schriften aus dem Untergrund, in denen die Diktatur des Wohlfahrtsausschusses unter Robespierre angeprangert wird, zeigen, daß C. das politische Handeln grundsätzlich an den bürger- und menschenrechtlichen Maßstäben der Aufklärung bemißt. Justizterror, Massenliquidierung und Bürgerkrieg sind selbst unter der Bedingung des Staatsnotstandes nicht zu legitimieren. »Das Wort Revolution«, so definiert der Freund Thomas Paines und Lafayettes, »trifft nur auf Umwälzungen zu, welche die Freiheit bezwecken«.
»Es gab niemanden, der fester in seinen Überzeugungen, niemand, der beständiger in seinen Gefühlen war«, so charakterisiert Amélie Suard ihren Jugendfreund. In der Tat eignet C. – der noch als Proskribierter von sich behauptet: »Ich werde mich niemals dazu erniedrigen, meine Grundsätze und mein Verhalten zu rechtfertigen« – eine ins Unerbittliche reichende Unbeugsamkeit, wenn es um die Verteidigung des von ihm als richtig Erkannten geht. Ein um so unbequemerer Charakterzug, als sich C. entsprechend hartnäckig für eine konsequente Verwirklichung von Grundsätzen einsetzt: Kaum daß die Konstituante die Menschenrechte verkündet, setzt er sich für ein allgemeines Wahlrecht und die Zulassung der Frauen zum Bürgerrecht (Sur l admission des femmes au droit de cité; 1790) ein. Unbeugsamkeit stellt bereits der Neunzehnjährige unter Beweis, der radikal mit Erwartung und standesgemäßer Tradition seiner Familie bricht. Die Wahl eines Mathematikstudiums, das der Neigung des durch sein logisch-abstraktes Denkvermögen früh ausgezeichneten Jesuitenzöglings entspricht, ist für die seit Generationen im Waffendienst stehenden Caritats eine unverzeihliche Entscheidung. In Paris, »der Heimat des wahrhaften Philosophen«, kann der Protestler aus dem Schwertadel dann freilich seine Hochbegabung im Kreis der »Académiciens« entfalten; 1765 macht er mit einem Essay über Integralrechnung (Du calcul intégral) d’Alembert auf sich aufmerksam, der fortan C.s wissenschaftliche Karriere in die Hand nimmt, während die Muse der Enzyklopädie^, Mademoiselle de Lespinasse, für den gesellschaftlichen Schliff ihres zeitweiligen Privatsekretärs sorgt und dem recht frei aufgewachsenen Marquis aus der Provinz rät, »das Nägelkauen zu lassen und sich die Ohren zu putzen«.
Rasch im Zentrum der überständisch-weltläufigen Elite der Pariser »sociéte des gens de lettres«, die den bescheiden lebenden jungen Wissenschaftler als Muster aufklärerischer Lebensführung und gleichsam Prototyp eines »neuen Adels« feiert, lernt C. die Vertreter der Aufklärung kennen, die seinem Einsatz »für die guten Prinzipien« die entscheidende Wende geben. Neben Holbach, Raynal, Hume, Galiani, Beccaria, die er im Salon des Baron Helvétius trifft, und Voltaire – der ihm prophezeit, »Sie werden der Mann, den Frankreich am dringendsten braucht« –, ist es vor allem der Physiokrat Turgot, der den, was den Wappenspruch seiner Familie (caritas!) anbelangt, ohnehin in die Pflicht genommenen Aristokraten zur Auseinandersetzung mit den aktuellen Mißständen des Ancien Régime anregt. Während der knapp sechzehn Monate des Reformministeriums von Turgot wird C. fachgerecht mit der Berechnung eines erweiterten Kanalnetzes für die Binnenschiffahrt betraut; er gewinnt auf seinen Inspektionsreisen vor Ort unmittelbar Einsicht in die handels- und verkehrspolitischen Schwierigkeiten des Landes. Fazit seiner Erfahrungen ist die Überlegung, daß sich eine Wirtschafts- und Sozialreform sowie die Neuorganisation der Verwaltung nur mit Hilfe einer »Regierungskunst« verwirklichen lassen, die den Regeln wissenschaftlicher Vernunft folgt. Pilotfunktion für die Rationalisierung der Politik, und das bedeutet für C. die planvolle Beseitigung »der irrationalen Strukturen des Ancien Régime«, übernimmt eine Theorie der Staatskunst, die sich methodisch an den exakten Naturwissenschaften orientiert. Damit setzt C. seine schon in den 70er Jahren begonnenen mathematischen Untersuchungen fort, die sich insbesondere mit den methodologischen Prämissen einer umfassenden Anwendung der Statistik befaßten. Er glaubt im Instrumentarium der angewandten Mathematik, vorab einer »Übertragung des Wahrscheinlichkeitskalküls auf die Politik und Sittenlehre« (Essai sur l application de l analyse aux probabilités des décisions rendues à la pluralité des voix; 1785), das probate Mittel zu erkennen, den seit 1784 beschleunigten Umwälzungsprozeß gesellschaftlicher Planung zugänglich zu machen. In seiner allgemeinen Darstellung dieser neuen Wissenschaft (Tableau général de la science, qui a pour objet l application du calcul aux sciences morales et politiques, 1793), die u. a. ein umfassendes Versicherungswesen vorsieht, prägt C. für die von ihm projektierte Sozialtechnologie den Begriff der »mathématique sociale«. Ihre Anwendung, und hier enthüllt C. den optimistischen Grund seines Vernunftglaubens, soll »Willkür vermeiden, die Rechte und Ruhe der Individuen sichern und den Frieden und die Wohlfahrt der Nationen verbürgen«.
C.s »Theorie der Staatskunst« vollzieht einen entscheidenden Bruch mit der tradierten Staatstheorie: An die Stelle der Frage nach der Legitimität der Macht tritt in seinem Denken die Frage, wie sich das Verhältnis von Staat und Bevölkerung vernünftig regeln läßt von einer Regierung, die sich unter dem Vorsatz des Gemeinwohls um ein ausgewogenes soziales Kräfteverhältnis kümmert. Wissen und Wissenschaft werden demzufolge die wichtigsten Garanten einer Führungsmacht, die planerische Kapazität und prognostische Kompetenz als Mittel des Regierens einsetzt. C., der in einem freien und allgemeinen Bildungswesen ein vorrangiges Ziel der gesellschaftlichen Neuorganisation erkennt, weil »eine freie Verfassung, die nicht mit der allgemeinen Bildung der Bürger einhergeht, sich selbst zerstört«, bemißt dementsprechend in der Esquisse d un tableau historique des progrès de l esprit humain von 1795 die »Fortschritte des menschlichen Geistes« auch an einer allgemeinen umfassenden Alphabetisierung. Hierin ist C. Schüler d’Alemberts und der Enzyklopädie, markieren doch die Beherrschung der primären Kulturtechniken und die Erfindung des Buchdrucks ihm zufolge die entscheidenden Schritte der Akkulturation und damit Voraussetzung der Regierbarkeit.
Folgerichtig haben daher die Reformer der Dritten Republik C.s Entwürfe als Vorgriff der eigenen politischen Vorhaben gewürdigt und in dem Aufklärer, der »die Menschen an die Vernunft anketten« wollte, vor allem einen Sozialtechniker rehabilitiert. Dennoch fragt man sich, ob C. in seiner letzten Schrift – ein Manifest für den Fortschritt und zugleich Rechtfertigung wie Legat seines Denkens – nicht einer heroischen Selbsttäuschung unterliegt. Im Versteck geschrieben, scheint sich der Proskribierte mit dem Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes das Bild eines »von allen Ketten befreiten Menschengeschlechts, das sicher und tüchtig auf dem Wege der Wahrheit, der Tugend und des Glücks vorwärtsschreitet«, geradezu vor die Augen gezaubert zu haben: »ein Schauspiel, das ihn über die Irrtümer, die Verbrechen, die Ungerechtigkeiten tröstet, welche die Erde noch immer entstellen und denen er selber so oft zum Opfer fällt! Seine Betrachtung ist ihm eine Stätte der Zuflucht, wohin ihn die Erinnerung an seine Verfolger nicht begleiten kann; dort ist er wahrhaft zusammen mit seinesgleichen in einem Elysium, das seine Vernunft sich zu erschaffen wußte und das seine Liebe zur Menschheit mit den reinsten Freuden verklärt.« Die Mutter dieses Philosophen, die sehr fromme Tochter eines königlichen Schatzmeisters, hatte ihr Kind der Jungfrau Maria geweiht.
Chandeler, Jean Pierre: Les interprétations de Condorcet. Symboles et concepts (1794–1894). Oxford 2000. – Crépel, Pierre (Hg.): Condorcet. Mathématicien, économiste, philosophe, homme politique. Paris 1989. – Baker, Keith Michael: Condorcet. From Natural Philosophy to Social Mathematics. Chicago/London 1975. – Reichardt, Rolf: Reform und Revolution bei Condorcet. Bonn 1973.
Bettina Rommel
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.