Metzler Philosophen-Lexikon: Darwin, Charles
Geb. 12. 2. 1809 in Shrewsbury; gest. 19. 4. 1882 in Down/Kent
Im Jahre 1838 trug D. folgende Bemerkung in sein Notizbuch ein: »Platon sagt im Phaidon, unsere notwendigen Ideen^ entstammten der Präexistenz der Seele, seien nicht von der Erfahrung abgeleitet, – lies Affen für Präexistenz.« D. formuliert hier den Grundgedanken einer – wie wir heute sagen würden – evolutionären Erkenntnislehre nur zwei Jahre nach der Rückkehr von einer fünfjährigen Weltreise auf dem Forschungsschiff »Beagle«, die das für sein Leben entscheidende Ereignis wurde. D. trat diese Reise im Alter von 22 Jahren und im wesentlichen unbeeinflußt von der zeitgenössischen Biologie an, die den Begriff der Evolution noch nicht kannte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er in Cambridge für kurze Zeit Medizin und Theologie studiert; seine biologische Schulung erhielt er auf der Reise mit der »Beagle«, die ihn unter anderem auf die Galapagos-Inseln brachte. Hier bemerkte er, daß einzelne Arten der Flora und Fauna von Insel zu Insel geringfügige Variationen zeigten, und bei den weiteren Reisen in Südamerika entdeckte er »die Weise, in der nahe verwandte Tiere einander ablösen, während man nach Süden vordringt« (Voyage of a naturalist round the world in H.M.S. Beagle^, 1905; Reise eines Naturforschers um die Welt). Er beobachtete diese Phänomene mit größter Aufmerksamkeit, weil ihm der Glaube an einen Schöpfergott ganz selbstverständlich war, der die Arten perfekt und unveränderlich geschaffen hat.
1837 wurde durch die Begegnung mit dem Ornithologen John Gould, der die Vögel zu ordnen und zu klassifizieren versuchte, die D. von den Galapagos-Inseln mitgebracht hatte, sein Begriff der »konstanten Art« zerstört. Dabei wurde D. klar, daß spezifische Verschiedenheit und viele andere Tatsachen der Arten »nur unter der Annahme erklärt werden konnten, daß Species allmählich modifiziert werden; und der Gegenstand verfolgte mich«. »Im Juli (1837) fing ich das erste Notizbuch über die Umwandlung der Arten an«, notierte D. damals in seinem Tagebuch. Er hatte nun zwar verstanden, daß es eine Auslese unter den Lebewesen geben mußte, sah aber noch keinen Weg, wie solch eine Selektion bei Organismen möglich sein konnte, die in freier Natur lebten. In seiner Autobiographie beschreibt D., wie ihm die Lösung zu diesem Problem zugefallen ist: »Im Oktober 1838, also 15 Monate, nachdem ich meine Untersuchungen systematisch angefangen hatte, las ich zufällig zur Unterhaltung Malthus, über Bevölkerung (gemeint ist Eine Abhandlung über das Bevölkerungsgesetz), und da ich hinreichend darauf vorbereitet war, den überall stattfindenden Kampf um die Existenz zu würdigen, namentlich durch lange fortgesetzte Beobachtung über die Lebensweisen von Tieren und Pflanzen, kam mir sofort der Gedanke, daß unter solchen Umständen günstige Abänderungen dazu neigen, erhalten zu werden und ungünstige dazu, zerstört zu werden. Das Resultat würde die Bildung neuer Arten sein. Hier hatte ich nun endlich eine Theorie, mit der ich arbeiten konnte.«
D. arbeitete noch 20 Jahre an diesem Problem, bevor er seine Theorie der natürlichen Auslese publizierte. Sein Hauptwerk mit dem Titel On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life (Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl) erschien 1859. In ihm wird die Evolution der Arten durch zwei unabhängige Schritte gedeutet. Zuerst tauchen zufällige Variationen auf, die anschließend durch das ordnende Eingreifen der Umwelt natürlich ausgewählt werden. Ausgehend von der Veränderlichkeit der Lebewesen, von Vererbung und Überproduktion von Nachkommen kommt es zu einem Kampf ums Dasein. Dieser führt zu einer »Selektion«, bei der diejenigen unterliegen und als Art aussterben, denen es nicht gelingt, durch geeignete Auswahl der Fortpflanzungspartner Eigenschaften zu erwerben, die sie den jeweiligen Lebensbedingungen optimal anpassen und dadurch anderen Arten im Lebenskampf^ überlegen sein lassen. Mit seinem Buch leitete D. eine der größten Umwälzungen der Wissenschaft ein; die Idee des evolutionären Wandels der Historisierung der Natur war geboren, der Vorstellung, das Leben und seine Formen seien konstant, unveränderlich, ein Ende gesetzt. Die lange Zeit, die bis zur Publikation der Abstammung des Menschen (The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex, 1871) vergangen ist, erklärt sich vor allem daraus, daß D. nicht nur sah, was seine Theorie erklären konnte – etwa die Variationen von Vogelarten auf den Galapagos-Inseln –, er sah auch, was sie noch nicht erklären konnte, beispielsweise die Entwicklung des menschlichen Auges. Noch heute ist die Theorie der Evolution unvollständig, wofür es prinzipielle und auch ganz konkrete Gründe gibt, etwa die Komplexität und Vielfalt der Organismen und die konstitutive Rolle des Zufalls. D. selbst hat versucht, die Spannung zwischen der von ihm erkannten Tatsache der Evolution und ihrer lückenhaften Erklärung durch das Konzept einer »Pangenese« zu verringern. Solche Versuche konnten aber erst mit Hilfe der Gene gelingen. Ihre Existenz wurde zwar nur wenige Jahre nach Veröffentlichung der Abstammung des Menschen durch Gregor Mendel nachgewiesen, doch D. hat von dieser Entdeckung nicht erfahren.
Das problematische Verhältnis von Natur und Kultur bei D., etwa seine Abstammungslehre, wurde im 19. Jahrhundert häufig als Sozialdarwinismus – »survival of the fittest« – weitergeführt. Ökonomisch war es als »Kampf ums Dasein« erfolgreich; Zuchtwahl und Auslese fanden als ideologische Unterbauung Eingang in die faschistische Weltsicht. D. selbst aber war kein Sozialdarwinist.
Desmond, Adrian/Moore, James: Darwin. München 1992. – Clark, Ronald W.: Charles Darwin. Frankfurt am Main 1985. – Mayr, Ernst: Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt. Heidelberg 1984.
Ernst Peter Fischer
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