Metzler Philosophen-Lexikon: Deleuze, Gilles
Geb. 18 .1 1925 in Paris;
gest. 4. 11. 1995 in Paris
D. ist einer der profiliertesten Vertreter der französischen Philosophie des 20. Jahrhunderts. Er gehörte zu jener – in Deutschland oft sehr pauschal als wahlweise post-^ oder neostrukturalistisch^ etikettierten – Generation von Denkern, deren Themen und Thesen seit den 60er Jahren die herkömmliche akademische Philosophie herausfordern und dabei weit über den universitären Bereich hinaus Beachtung gefunden haben. In Absetzung von den institutionalisierten Formen des Marxismus und der Psychoanalyse entwarf D. eine radikale Philosophie des Begehrens, die den politischen Impuls des Aufbruchs vom Mai 1968 fortführt; er propagiert ein »nomadisches Denken der Zerstreuung«, das anstelle allgemeiner Kategorien und universeller Regeln das Lokale, Differentielle und Ereignishafte betont.
D. wächst als jüngerer von zwei Brüdern im 17. Arrondissement von Paris auf. Während der deutschen Besatzung wird sein älterer Bruder wegen Beteiligung an der Réstistance festgenommen und stirbt auf dem Transport nach Auschwitz. 1944 beginnt D. das Studium der Philosophie an der Sorbonne, seine Lehrer sind Ferdinand Aliqué, Jean Hippolyte, Georges Canguilhem und Maurice de Gandillac. Er schließt das Studium 1947 mit einer Arbeit über Hume (1953 unter dem Titel Empirisme et subjectivité veröffentlicht) und 1948 mit der Agrégation in Philosophie ab. Während dieser Zeit entdeckt er Sartre, den er als wichtigsten zeitgenössischen Autor bewundert. Von 1948 bis 1957 ist D. zunächst in Amiens, dann in Orléans und schließlich in Paris als Gymnasialprofessor tätig. 1956 heiratet er Fanny Grandjouan. 1957 wird er Assistent an der Sorbonne und ist von 1960 bis 1964 ans Centre National de Recherche Scientifique (CNRS) abgeordnet. 1962 lernt er, vermittelt durch Jules Vuillemin, Michel Foucault kennen. Von 1964 bis 1969 lehrt D. an der Universität Lyon und von 1969 bis zu seiner Emeritierung 1987 als Professor an der (in den 70er Jahren nach St. Denis verlagerten) Universität Paris VIII-Vincennes, die anfangs eine Art Experimentierfeld intellektueller Protagonisten und Sympathisanten des Mai 1968 bildet. Im November 1995 nimmt sich D., der an einer schweren Lungenerkrankung leidet, das Leben.
Von 1953 an publiziert D. eine Reihe von historischen Studien zu Kant, Hume, Bergson, Nietzsche und Spinoza. Hierbei versucht er, quer zur herkömmlichen Philosophiegeschichte von Platon bis Hegel eine andere Linie sichtbar zu machen, deren Helden Epikur, Lukrez, Duns Scotus, Spinoza, Hume, Bergson und Nietzsche sind. Fluchtpunkt dieser Studien ist eine radikale Absage an den Hegelianismus und die Dialektik. Am entschiedensten kommen die Leitmotive seiner philosophischen Position in der Studie Nietzsche et la philosophie (1962; Nietzsche und die Philosophie) zum Ausdruck, die zugleich – in der Tradition der Nietzsche-Lektüre von Dichter-Philosophen wie Georges Bataille und Pierre Klossowski stehend – den Beginn einer philosophischen Nietzsche-Renaissance in Frankreich markiert.
Nietzsches Idee einer Philosophie als Genealogie, so betont D., richtet sich gleichermaßen gegen die Idee einer Begründung von oben, aus obersten Ideen, universellen Prinzipien, wie auch umgekehrt gegen die Vorstellung einer schlichten Kausalableitung geistiger Gebilde: Der Genealoge ist weder Richter im Sinne der Kantschen Metapher noch utilitaristischer Mechaniker. Das Dasein bedarf keiner Rechtfertigung, es ist nicht sündhaft, noch bedarf es einer Erlösung, es ist mit Heraklit eher als ästhetisches denn als moralisches Problem zu begreifen. Nietzsche verwirft den Wert des Negativen und des Leidens sowie die Idee des Positiven als Produkt der Negation selbst. Er setzt gegen die Negation der Negation die Bejahung der Bejahung. Dies meint indes nicht die Bejahung des Esels^, der nicht nein zu sagen vermag: dies wäre eine Karikatur der Bejahung. Kritik vielmehr ist selbst Aktion, nicht Reaktion, ist Aktion der Bejahung. Das Verhältnis einer Kraft gegen eine andere – und Nietzsche betrachtet D. zufolge gegenständliche wie Sinnbeziehungen als Kräfteverhältnisse – ist nicht negativ. Jede Kraft steht in einem wesentlichen Verhältnis zu einer anderen Kraft. Eine Kraft jedoch, die sich auf eine andere Kraft bezieht, nennt Nietzsche Willen. Der Wille nun will das, was er vermag, er ist insofern Wille zum Willen und damit Wille zur Macht. Der Wille vollzieht sich nicht via Nerv oder Muskel, er ist keine physische Einwirkung auf Gegenstände, sondern bezieht sich stets auf einen anderen Willen. Wenn der Wille einen anderen Willen voraussetzt, wenn ihr Widerstreit keine Negationsbeziehung bedeutet, dann opponiert diese Konzeption nicht nur der Hegelschen Dialektik, sondern auch der Schopenhauerschen Willensmetaphysik, die einen einzigen Willen unterstellt und in eine Verneinung des Willens mündet.
Die theoretischen Motive der Nietzschestudie finden ihre Ausarbeitung in Spinoza et le problème de l expression (1968; Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie) sowie in den historisch und thematisch weiter ausgreifenden Abhandlungen Différence et répétition (1968; Differenz und Wiederholung) und Logique du sens (1969; Die Logik des Sinns). Die Differenz ist nicht die Negation einer vorher bestehenden Identität, sie definiert sich nicht als Gegensatz gegen eine Einheit: Sie ist keine negative Beziehung, sondern positiv, Bejahung. Auch die sprachliche Operation der Verneinung ist von der Positivität des Begehrens getragen. Die abendländische Philosophie wollte die Differenz auf die Negation reduzieren; D. hingegen versucht Differenz zu denken, ohne sie unter ein einheitliches universelles Konzept zu bringen; sie verläßt den Horizont der aristotelischen Definitionslehre zugunsten eines Konzepts, das in vielem an Wittgensteins Begriff der Familienähnlichkeit^ erinnert. Nicht Allgemeinheit, Notwendigkeit und zeitlose Geltung charakterisieren die Gegenstände der Philosophie, sie hat sich vielmehr am Ereignis, am Singulären zu bewähren. D. unternimmt mit Nietzsche den Versuch einer Umkehrung des Platonismus. Wenn die Physik die Lehre von den idealen Strukturen der Körper ist, dann gilt es, Metaphysik als Analyse der »Materialität des Körperlosen« zu betreiben. Der Sinn, das Ideelle sind Effekt, nichts Ursprüngliches, ihre Grundlage ist der Nicht-Sinn, also kein Sinn höherer oder allgemeinerer Ordnung. Zwar ist Sinn immer schon vorausgesetzt, sobald ich zu sprechen beginne, aber es ist niemals der Sinn dessen, was ich sage. Diesen kann ich zum Gegenstand einer anderen Aussage machen, die jedoch ihrerseits ihren Sinn nicht selbst aussagt. Wir treten damit ein in eine unendliche Regression des Voraussetzens.
Weit über den Bereich fachphilosophischer Debatten hinaus wurde D. durch seine gemeinsam mit dem Psychiater und Lacan-Schüler Félix Guattari verfaßte Schrift Anti-– dipe (1972; Anti-Ödipus) bekannt. Trotz seines kompromißlosen Antihegelianismus war der Strukturalismus der Lacanschen Freudinterpretation und der Althusserschen Marxlektüre in wichtiger Hinsicht eine Theorie des Mangels, des Defizitären geblieben und verblieb insofern im Bannkreis der Hegelschen Negativität. Indem der französische Begriff des »désir« sowohl den Hegelschen Begriff der Begierde als auch den Freudschen Begriff des Wunsches übersetzt, konnte er bei Lacan eine fundamentale Mangelstruktur bezeichnen, in die das Subjekt eingebunden ist. Der Anti-Ödipus begreift demgegenüber den Wunsch von Anfang an als positiv, produktiv und grenzüberschreitend, er ist keinem Mangel, keiner Grenze, keiner Negativität geschuldet. Er ist nicht länger durch den Mangel, die Abwesenheit seines Ziels, definiert, es handelt sich vielmehr um eine immanente Kraft. Er schafft Verbindungen, die das Reale durchziehen, er ist Bejahung. D. und Guattari stellen die Universalität des Ödipus-Komplexes in Frage und gelangen zu einer Neubewertung der Psychosen. Sie erklären, daß die klassische Psychoanalyse einen zu engen Begriff des Unbewußten entwickelt habe. Die Produktivität des Wunsches explizieren beide im Begriff der »Wunschmaschinen« und der »Wunschproduktion«. Hiermit ist keine Phantasieproduktion im Unterschied zur gesellschaftlichen Produktion des Wirklichen gemeint, sondern ein Produktionsprozeß, der als Fließen von Kräfteströmen aufzufassen ist, als soziale Maschinerie. »Maschine« meint hier einen multiplen Funktionskreislauf, einen beweglichen Mechanismus, der noch mehr ist als das bloße Verwirklichen eines vorgeplanten Zielzustandes. Das Funktionieren der Wunschmaschinen ist nicht teleologisch zu begreifen, da es weder durch ein prädefiniertes Ziel noch durch ein zieldefinierendes Subjekt kontrolliert wird. Letzteres löst sich vielmehr im Strömen der Wunschproduktion auf: Das Subjekt wird nicht repressiv ausgelöscht, sondern in sich selbst vervielfältigt. Theorie und Praxis der Psychoanalyse verkennen und blockieren das subversive Kräftespiel des Wunsches, sie proklamieren als universelle und notwendige Struktur des Begehrens, was sich in Wahrheit den Machtkonstellationen einer spezifischen abendländisch-kapitalistischen Gesellschaftsformation verdankt, die an die Stelle des produktiven Unbewußten den versprachlichten Sinn, die Repräsentation treten läßt, welche die »Fabrik des Realen« durch das Theater ersetzt. Sie verkennt dabei, daß Sprache weniger eine universelle Struktur ist als vielmehr eine spezifische, lokale, stets kontextgebundene »Äußerungsmaschine« darstellt. – Die Themen des Anti-Ödipus werden in einer Reihe von kleineren Artikeln der Autoren sowie in dem Fortsetzungsband Mille plateaux (1980; Tausend Plateaus) weiterverfolgt. Neben der Philosophie und der Gesellschaftsanalyse besitzen die moderne Literatur und Malerei eine wichtige Bedeutung für D., wie sich an seinen Studien Marcel Proust et les signes (1964, erweiterte Neuauflage 1970; Proust und die Zeichen), Kafka … pour une littérature mineure (gemeinsam mit Guattari, 1975; Kafka. Für eine kleine Literatur), Francis Bacon. Logique de la sensation (1981; Francis Bacon. Logik der Sensation) sowie an zahlreichen kleineren Artikeln insbesondere zur modernen amerikanischen Literatur zeigt.
In seinen Studien L image mouvement (1983; Das Bewegungs-Bild) und L image temps (1985; Das Zeit-Bild) analysiert D. den Film als philosophisches Problem. Die Beschäftigung mit theoretischen Programmatiken, Materialien der Filmgeschichte und Konzepten der Filmanalyse ist zugleich eine Auseinandersetzung mit Henri Bergson und Charles S. Peirce. Es handelt sich nicht um die Anwendung philosophischer Begriffe auf den Gegenstandsbereich des Films, sondern darum, klassische Fragen der Philosophie vom Film her neu zu formulieren. Im Film handelt es sich darum, Dinge und Geschehnisse nicht durch den menschlichen Geist zu erzeugen, sondern mittels einer Apparatur, deren technische Grundlage in der Aufzeichnung und Wiedergabe von Bewegung besteht. Das Kino liegt einer zutiefst veränderten Auffassung von Bewegung, das heißt der Synthese von Raum und Zeit, zugrunde. D. verfolgt die Entwicklung des Films bis hin zu dem Punkt, an dem der gesteigerten visuellen Dichte eine neugewonnene Autonomie des Tons entspricht, die Tonspur zur Realität sui generis wird, das Filmbild eine andere Geschichte erzählt als das Tonbild, eine Disjunktion entsteht zwischen Tonbild und Filmbild, zwischen Sehen und Sprechen.
In seinem großen Essay Foucault (1986; dt. 1987) schließlich entwirft D. ein faszinierendes philosophisches Portrait seines verstorbenen Freundes, in das er auch die Linien seines eigenen Denkens einzuarbeiten versteht. Während Foucault sein eigenes Werk verschiedenen Interpreten und Interessenten gegenüber oft als eine »Werkzeugkiste« oder als eine Art »Steinbruch« offerierte, rekonstruiert D. das geologische Massiv dieses Denkens, das heißt seine philosophische Einheit durch die inneren »Schichtungen«, »Faltungen« und »Verwerfungslinien« hindurch.
Der Rückzug aus den universitären Lehrverpflichtungen bedeutete für D. keineswegs den Rückzug aus der philosophischen Arbeit. Er widmete sich verstärkt der Ausarbeitung und Explikation seiner Philosophie des Multiplen. Dies schlägt sich nieder in den Veröffentlichungen Le pli … Leibniz et le baroque (1988; Die Falte. Leibniz und der Barock), Qu est-ce que la philosophie? (gemeinsam mit Guattari, 1991; Was ist Philosphie?) und Critique et clinique (1993; Kritik und Klinik).
Balke, Friedrich: Gilles Deleuze. Frankfurt am Main/New York 1998. – Boundas, Constantin/Olkowski, Dorothea (Hg.): Gilles Deleuze and the Theater of Philosophy. New York/London 1994. – Mengue, Philippe: Gilles Deleuze ou le système du multiple. Paris 1994. – Köhler, Jochen: Geistiges Nomadentum. Eine kritische Stellungnahme zum Poststrukturalismus von Gilles Deleuze. In: Philosophisches Jahrbuch 91/I. München 1984.
Hermann Kocyba
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