Metzler Philosophen-Lexikon: Dühring, Eugen
Geb. 12. 1. 1833 in Berlin;
gest. 21. 9. 1921 in Nowawes bei Berlin
Mit Leben und Werk D.s verbindet man heute kaum mehr als den »Fall Dühring«. Der Philosoph und Nationalökonom stellt eine wissensgeschichtliche Paradoxie dar: Seine Wirkung beruht auf Friedrich Engels’ Anti-Dühring. Einschnitte seiner Biographie sind, nach mathematisch-naturwissenschaftlicher Bildung, das rechtswissenschaftliche Studium in Berlin seit 1853, Promotion und Habilitation an der dortigen Philosophischen Fakultät von 1861 bis 1863 und die Tätigkeit als Privatdozent von 1863 bis 1877, bei deren Beendigung preußische Demokratenverfolgung und das Drängen Rudolf Virchows und Hermann von Helmholtz’ zusammenspielen. Erblindung, Verarmung und mangelnde Anerkennung werden zum Anlaß ausufernder wissenschaftlicher Schreibarbeit: Einem Gesammtcursus der Philosophie mit den Teilen Kritische Geschichte der Philosophie, Wirklichkeitsphilosophie und Logik und Wissenschaftstheorie (1869–1878) sind Schriften zur Nationalökonomie vorausgegangen; es folgen solche zu Mathematik und Naturwissenschaft, zur Religionskritik und zur Rechtfertigung des Antisemitismus.
Schopenhauer und dem gesellschaftstheoretischen, mathematisch-physikalisch begründeten Positivismus Auguste Comtes sowie einem mechanisch-materialistischen Weltverständnis verpflichtet und in Polemik gegen den Sozialismus Claude Henri de Saint-Simons und Charles Fouriers, die Fichtesche und Schellingsche »unwissende Naturphilosophastrik«, die »Hegel-Seuche« der Dialektik und – vor allem – gegen Marx, dessen Leistung »ohne dauernde Bedeutung und für die allgemeine Geschichte der geistigen Strömung höchstens als Symptom der Einwirkung eines Zweigs der neueren Sektenscholastik anzuführen« sei, hat D. Philosophie als »natürliches System« oder »Wirklichkeitsphilosophie« zu begründen gesucht. Sein antidialektisches System führte in seiner Nationalökonomie – wiederum in polemischer Abgrenzung gegen die klassische englische und schottische Ökonomie und Moralphilosophie – zur Begründung »allgemeinster Naturgesetze aller Wirtschaft« und zu einer kleinbürgerlichen Eigentumskonzeption.
Vor allem D.s Logik und Wissenschaftstheorie von 1878 kann als ein Hauptwerk des deutschen, nicht unter diesem Namen auftretenden Positivismus verstanden werden, in dem im Unterschied auch zu neukantianischen Bestrebungen alle gesellschaftspolitischen Dimensionen aus der Reflexion auf Wissenschaft eliminiert werden. Die »gesunde, auf die logischen Grundzüge der Weltverfassung gerichtete Wirklichkeitslehre« versteht sich als »wirkliche und positiv fruchtbare Wissenschaft strengster Art« und will die »allgemeinen Einsichten über Gesamtgestaltung und Werth sowie über Fortschritts- und Wirkungsbedingungen der Wissenschaften« darstellen. D. gilt die »Systematik der Dinge als übereinstimmend mit dem System der Begriffe«. Als »nur auf Wirklichkeiten gegründete Weltanschauungslehre« grenzt diese Philosophie aus, was nicht »auf den von den Sinnen gelieferten Thatsachen fusst«. Identität der Ordnungen im »System der Natur und der menschlichen Verhältnisse« garantiert eine Unbegrenztheit der Erkenntnisse und die Möglichkeit, die »Culturwissenschaften« nach dem Muster der Exaktheit der Naturwissenschaften zu begründen: Ihr Gegenstand sind die »Naturgesetze der menschlichen Beweggründe« bzw. »Vereinigung«. Auf dieser Grundlage ist die Freiheit der Individuen nicht mehr regelungsbedürftig; der Despotismus des »Staats und seiner Concessionierungsgewalt« ist so überflüssig wie der »Kasernenstaat der falschen Socialistik«.
Zum Fall wurde D., nachdem ihm ein Artikel August Bebels, Ein neuer Kommunist, 1872 die Türen der Eisenacher Sozialdemokratie geöffnet hatte. Nach der Vereinigung der Gothaer und Eisenacher Sozialdemokratien 1875 und unter den Bedingungen konkurrierender philosophischweltanschaulicher und politisch-strategischer Begründungen des Sozialismus weitete sich D.s Einfluß aus. Von Wilhelm Liebknecht gedrängt, verfaßte Engels ab 1876 Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, 1877/78 im Vorwärts gegen Proteste der Anhänger D.s veröffentlicht. Gleichwohl zeigte D. Wirkung in Eduard Bernsteins Revision der Marxschen Theorie und Erklärung der Unmöglichkeit eines wissenschaftlichen Sozialismus. Für die Geschichte der Philosophie ohne Bedeutung, könnte heute eine theoretisch-politische und epistemologische Lektüre D.s die Gleichzeitigkeit und Verschränkung von »Marxismus« und Positivismus, Verwissenschaftlichungs- und Vulgarisierungstendenzen, mechanischem Weltbild und Herausbildung der »Kulturwissenschaften« als Symptome wissens- und gesellschaftsgeschichtlicher Dialektik rekonstruieren.
Zweig, Arnulf: Eugen Dühring. In: The Encyclopedia of Philosophy. Hg. von P. Edwards. New York 1967, Bd. II, S. 425–427. – Posner, S.: Abriss der Philosophie Eugen Dührings. Breslau 1906.
Hans Jörg Sandkühler
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