Metzler Philosophen-Lexikon: Epikur
Geb. 341 v. Chr. in Samos;
gest. 271 v. Chr. in Athen
»Ich weiß nicht, was ich mir als das Gute vorstellen soll, wenn ich die Lust des Geschmacks, die Lust der Liebe, die Lust des Hörens und die lustvollen Bewegungen beim Anblick einer schönen Gestalt beiseite lasse.« »Jede Bildung fliehe, mein glücklicher Pythokles, mit gespannten Segeln.« »Der Tod betrifft uns nicht. Solange wir da sind, ist der Tod nicht da, und wenn der Tod da ist, sind wir nicht mehr.« Solche und ähnlich provokative Äußerungen führten dazu, daß man in E. lange Zeit nur den Prototypen des zügellosen Freigeistes, den Inbegriff des ungläubigen Atheisten und des Bildungsfeindes sah. Noch heute wirkt sich das über Jahrhunderte tradierte Vorurteil in der Sprache aus, wenn man sich des Etiketts »epikureisch« zur Charakterisierung eines Menschen bedient, der die materiellen Freuden des Daseins unbedenklich genießt.
E. verbrachte seine Jugend auf Samos, wohin sein Vater 352 v. Chr. als athenischer Siedler ausgewandert war. Mit 14 Jahren las E. in der Schule die Theogonie Hesiods, und da dort alle Dinge aus der »gähnenden Leere«, dem Chaos, abgeleitet wurden, fragte er, woher denn das Chaos stamme. Als seine Lehrer ihm keine hinreichende Antwort geben konnten, wandte er sich von dieser Stunde an der Philosophie zu. Er hörte zunächst beim Platoniker Pamphilos, wechselte dann aber bald ins kleinasiatische Teos zu Nausiphanes, einem Anhänger Demokrits, über, der ihn in die Atomlehre, Ethik und Logik einführte. Mit 18 Jahren trat E. seinen zweijährigen Militärdienst in Athen an, wo er wohl die Gelegenheit nutzte, sich mit den Hauptströmungen der zeitgenössischen Philosophie vertraut zu machen. 322 kehrte er zu seinen Eltern zurück, die inzwischen, weil Athen Samos abtreten mußte, nach Kolophon (in Kleinasien) emigriert waren. In der folgenden Dekade vertiefte E. seine philosophischen Kenntnisse und schuf (in steter Auseinandersetzung mit Aristoteles und Demokrit) die Grundlagen für das eigene System. Vor allem prägte ihn aber die geistige und historische Situation seiner Zeit. Die griechische Welt stand an einer Wende, nachdem die »póleis« (= die Stadtstaaten) ihre Funktion als politisch-kulturelle Einheiten eingebüßt hatten. Hatten Platon und Aristoteles ihre ethischen Reflexionen noch mit einer Staatslehre verknüpft, besann man sich jetzt in dieser Phase politisch-sozialer Unsicherheit sowie religiöser Leere auf Werte des individuellen Lebens. Der Mensch wollte nicht mehr das Glück des Staates, sondern das eigene Glück: die Eudämonie. Dabei suchte er die »eudaimonía« nicht im Äußeren, sondern verlegte sie in das Innere – dorthin, wo sie zu jeder Zeit – auch bei allen äußeren Widrigkeiten – mit minimalen Mitteln zu realisieren war. In diesem Sinn definierte E. die Philosophie als »eine Tätigkeit, die durch Argumente und Gespräche das glückselige Leben verschafft.« Als »leer« erachtete er »die Rede jenes Philosophen, von dem keine menschliche Leidenschaft (»páthos«) geheilt wird.« Als Dozent trat E. zuerst in Mytilene auf Lesbos (310), dann in Lampsakos am Hellespont auf, und zwar, wie es scheint, mit bestem Erfolg. Denn er gewann dort viele namhafte Persönlichkeiten als Schüler, mit denen er bis zu seinem Lebensende in persönlichem Kontakt blieb. 306 begab sich E. nach Athen, wo er ein Haus und einen Garten (»képos«) kaufte, nach dem die Schule ihren Namen erhielt. Hier wirkte er dreieinhalb Jahrzehnte und verbreitete jene liebenswürdige Atmosphäre innerer Ruhe und heiterer Gelassenheit, die ihn und seine Schule so berühmt machte.
Die hellenistischen Philosophen pflegen die Philosophie in Logik, die bei E. Kanonik (Erkenntnislehre) heißt, Physik und Ethik einzuteilen. Doch stehen diese drei Disziplinen nicht gleichberechtigt nebeneinander, sondern Logik und Physik werden entsprechend den Bedürfnissen der Zeit der Ethik untergeordnet. Für E. stellt die Kanonik ein Vehikel der Physik dar, indem sie die geeignete Methodologie für sie liefert, und die Physik tritt ganz in den Dienst der Ethik, indem sie den Menschen von seinen Grundängsten befreit. »Wenn uns nicht der Verdacht, die Himmelserscheinungen und der Tod könnten uns etwas angehen, quälen würde, ferner der Umstand, daß wir die Grenzen der Schmerzen und Begierden nicht kennen, dann benötigten wir die Naturwissenschaft nicht.« In seiner Kanonik nennt der Philosoph drei Kriterien, mit deren Hilfe wir zur wahren Erkenntnis gelangen: die Sinneswahrnehmung (»aísthēsis«), den aus wiederholten Wahrnehmungen desselben Objekts erworbenen Allgemeinbegriff (»prólēpsis«) und das Gefühl (»páthos«), d.h. Lust und Schmerz als Maßstab dessen, was zu wählen und zu meiden ist. Die Basis aller Erkenntnis ist also die sinnliche Wahrnehmung. Das bringt E. in scharfen Gegensatz zu Demokrit. Wenn er dann auch noch den Sinnesqualitäten wie Farbe, Geschmack und Geruch reale Existenz zuspricht, indem er sie in den aus Atomen bestehenden Dingen selbst ansiedelt, so ist es nur eine natürliche Konsequenz seines Sensualismus.
Die Physik übernahm E. von Demokrit, allerdings in manch wichtigen Einzelheiten modifizierend wie z.B. in der Atombewegung. Nach E. verläuft die Urbewegung der Atome nicht mehr in jede Richtung, sondern wird durch die Schwere der Atome bestimmt: Die Atome fallen wie Regentropfen senkrecht nach unten, und zwar alle mit gleicher Geschwindigkeit, da der luftleere Raum keinen Widerstand leistet. Erst durch die Abweichung (»parénklisis«) einzelner Atome um ein Minimum von den geraden Fallinien kommt es zu den Atomkollisionen und zur Bildung komplexer Körper. Die Abweichung selbst ist akausal. Auf diese Weise unterbricht E. den strengen Determinismus Demokrits im Weltgeschehen und schafft zugleich die physikalische Voraussetzung zur Selbstbestimmung des Menschen. Denn durch die Abweichung vermag der menschliche Wille auf die in der Brust lokalisierten Geistatome Einfluß zu nehmen, indem er sie zu Bewegungen veranlaßt, denen die Atome von sich aus nicht folgen würden. E.s Natursicht bedarf keiner intervenierenden Götter, denn die Welt wie auch der Mensch tragen das Prinzip alles Geschehens in sich. Deshalb entbindet der Philosoph die Götter jeder Verantwortung für die Übel dieser Welt und läßt sie in kosmoslosen Räumen zwischen den Welten wohnen, wo sie ein unvergängliches und vollkommen glückseliges Leben führen. »Glückselig« bedeutet, von Geschäften und Sorgen, aber auch von Leidenschaften frei zu sein, kurz: äußere und innere Ruhe zu haben. Mit diesen Eigenschaften verkörpern die Götter das Ideal eines ungetrübten Glücks und dienen dem epikureischen Weisen als Vorbild, der ihnen nicht aus Furcht, sondern aus Bewunderung höchste Verehrung zollt. Ebensowenig braucht der Mensch vor einem Jenseits zu bangen: Seine Seele ist materiell und sterblich. Sie entsteht und zerfällt zugleich mit dem Leib.
Lust und Schmerz zeigen an, was der menschlichen Natur eigentümlich bzw. fremd ist. Damit wird die Sinnlichkeit zum Kriterium für das Gute und das Übel. Sind Lust und Schmerz die einzigen absoluten Werte, dann ist die Lust das höchste Gut, der Schmerz das größte Übel. Als »summum bonum« muß die Lust zugleich das sein, was die Glückseligkeit des Menschen ausmacht: Freisein von Schmerzen im Körper (»aponía«) und von Furcht in der Seele (»ataraxía«). Diese Lust bezeichnet E. als katastematische (zuständliche) Lust – eine Lust, die wir schon durch bloße Aufhebung der Unlust erreichen. Darüber hinaus ist keine Steigerung möglich. Alles, was der Körper will, ist: »Nicht frieren, nicht hungern, nicht dürsten.« Alles, was die Seele will, ist: »Nicht Angst haben.« Was es noch geben kann, ist lediglich Variation und Raffinement und wird im Unterschied zur katastematischen Lust der Schmerzfreiheit kinetische (= Bewegungs-) Lust genannt. Gemeint sind die Sinnenlüste, die jedoch keinen Schmerz wirklichen Mangels beseitigen, sondern gelegentlich sogar selbst Schmerzen hervorrufen. Deshalb darf man nicht jede Lust verfolgen und nicht jeden Schmerz fliehen, sondern hat bei allem Wählen und Meiden stets die Folgen zu berücksichtigen und die Eudaimonie als einen Dauerzustand im Blick zu behalten, für den es gilt, unter Umständen auch eine momentane Unlust (gegenüber einem späteren Lustgewinn) in Kauf zu nehmen. Aus demselben Grund empfiehlt der Philosoph die Genügsamkeit (»autárkeia«), nicht als Selbstzweck, sondern um uns von äußeren Faktoren unabhängig zu machen. Körperliche Schmerzen sind niemals so furchtbar, daß sie die Eudämonie zu erschüttern vermögen. Denn die Schwere des Schmerzes steht in einem entgegengesetzten Verhältnis zu seiner Dauer. Der Geist erreicht das Ziel der »ataraxía«, wenn er sich durch philosophische Einsicht von den nichtigen Bedürfnissen und durch das Studium der Natur von der Furcht vor dem Tode und den Göttern befreit hat. Im Besitz solcher Güter lebt der Epikureer »wie ein Gott unter den Menschen«. Der Gesichtspunkt der Seelenruhe bestimmt ferner das Verhältnis des »képos« zum Staat: »Lebe im Verborgenen« lautet die Maxime des Meisters. Zum eigentlichen Ort der epikureischen Lebensführung wird die Freundschaft in kleinen Zirkeln Gleichgesinnter, wo auch Frauen und Sklaven als gleichberechtigte Mitglieder Aufnahme fanden.
Erler, Michael: Art. »Epikur«. In: Der Neue Pauly. Stuttgart/Weimar 1996ff., Bd. 3, Sp. 1130–1140. – Hossenfelder, Malte: Epikur. München 1991. – Jürss, Fritz: Die epikureische Erkenntnistheorie. Berlin 1991. – Müller, Reimar: Die epikureische Ethik. Berlin 1991. – Schmid, Wolfgang: Epikur. In: Reallexikon für Antike und Christentum 5, 1962, S. 681–819.
Klaus-Dieter Zacher
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.