Metzler Philosophen-Lexikon: Farabi, al-
Geb. um 873 in Farab;
gest. 950 oder 951 in Damaskus
F. gilt als der bedeutendste islamische Philosoph des 10. Jahrhunderts. Sein Geburtsort liegt im Nordosten des damaligen arabischen Herrschaftgebietes in der Nähe des heutigen Taschkent. Die dortigen Siedler hatten den Auftrag des Kalifen, das Land gegen Einfälle von Steppenvölkern zu verteidigen. Der Philosoph war türkischer oder persischer Abstammung, so daß er die arabische Sprache nachträglich erlernen mußte. Er war auch des Griechischen kundig, wahrscheinlich auch noch anderer Sprachen. Im Anfang des 10. Jahrhunderts siedelte er, vom heutigen Iran herkommend, nach Harran und Bagdad über. Dort kam er auch in Kontakt mit Christen, welche ihn in der Philosophie, aber auch in anderen Disziplinen unterrichteten. Er erwarb sich eine umfassende Bildung, die über die Philosophie hinausging und auch andere Wissenschaften u. a. Medizin einbezog. Unter den zahlreichen Schriften seines Werkes ragen vor allem hervor: Über den Intellekt und das Intelligible, Über die Wissenschaften, Die Harmonie zwischen den Ansichten des göttlichen Platon und des Aristoteles sowie Grundzüge der Ansichten der Bürger der vollkommenen Stadt. Wegen seiner umfassenden Kenntnisse, vor allem in der griechischen Philosophie, gab man ihm den Beinamen »Zweiter Lehrer«, wobei Aristoteles als »Erster Lehrer« galt.
Für F.s Philosophie war es von großer Bedeutung, daß zu seiner Zeit die Schriften des Aristoteles bereits fast vollständig ins Arabische übersetzt worden waren, während im Lateinisch sprechenden Westen bis ins 12. Jahrhundert nur einige logische Schriften des Aristoteles vorlagen. Außerdem waren auch antike Kommentare zu Aristoteles ins Arabische übersetzt worden. Sie waren aber neuplatonisch beeinflußt, so daß die islamische Philosophie stark von einem neuplatonisch bestimmten Verständnis des Aristoteles geprägt wurde. Diese Tendenz wurde verstärkt, weil zwei Schriften neuplatonischen Ursprungs irrtümlich dem Aristoteles als Verfasser zugeschrieben wurden. Es handelt sich um die sogenannte Theologie des Aristoteles und um den auch im christlichen Mittelalter viel gelesenen Liber de causis, also das »Buch von den Ursachen«, welches ein Auszug aus einer Schrift (Elementatio theologica) des Neuplatonikers Proklos ist. Hinter der »Theologie des Aristoteles« steht Plotin selbst, der Begründer des Neuplatonismus, da es sich um einen arabischen Auszug eines Teils seiner Enneaden handelt. Diese neuplatonisch geprägte Aristoteles-Interpretation, von der F. ausgeht, hat auch die jüdische Philosophie stark geprägt, ebenso die Aristoteles-Rezeption des 13. Jahrhunderts im christlichen Westen.
Das Denken F.s steht unter dem Vorzeichen einer Grundfrage des Mittelalters. Sie spielt sowohl im Islam als auch im Juden- und Christentum eine entscheidende Rolle. Es geht um das Verhältnis von Offenbarung – der Glaube an eine solche verbindet die drei Religionen – und menschlicher Vernunft, welche die Wissenschaften trägt und insbesondere in der Philosophie ihre Entfaltung findet. Bei F. bedeutet diese Auseinandersetzung gleichsam den Versuch einer Synthese von orientalisch-religiösem Verständnis der Wirklichkeit und dem von der griechischen Antike her bestimmten Denken. Er bestreitet nicht die Autorität des Korans. Für den islamischen Glauben enthält er die Offenbarung von Gottes unerschaffenem Wort. Daher ist er von höchster Weisheit und gilt auch von seinen literarischen Qualitäten her als von unübertrefflicher Schönheit und Harmonie erfüllt. Die islamischen Philosophen vermißten aber bei den Auslegern des Korans die Fähigkeit zu einer auch die Vernunft befriedigenden Interpretation. Nach ihrer Überzeugung mußte der Koran auch den höchsten Ansprüchen der Vernunft gerecht werden. Von diesem Interesse ist F.s Zuwendung zur aristotelischen Logik und sein wissenschaftstheoretisches Programm inspiriert. Dabei ist zu beachten, daß ihm das geistige Erkennen als höchste Tätigkeit des Menschen gilt. Ihre Vollendung erreicht sie in der Philosophie und diese in der Erkenntnis Gottes, dem wahren Glück. Von daher ergibt sich ein Vorrang der Philosophie innerhalb des Vernunft und Glaube umspannenden Gesamtkonzeptes des F.. Denn nur die Philosophie vermag aufgrund ihres methodisch geregelten Vernunftgebrauchs zu selbständiger Einsicht in die Wahrheit zu führen. Andere gelangen zu ihr nur durch Symbole, welche allerdings Offenbarungscharakter besitzen können.
Um dies zu verstehen, muß auf F.s vielschichtige Lehre vom Intellekt hingewiesen werden. Die Wirklichkeit stellt sich ihm als Emanationssystem dar. Das heißt: Alles ist aus Gott, dem Ur-Einen, hervorgegangen und gleichsam aus ihm ausgeflossen. Die ursprünglichste dieser Emanationen ist der sogenannte »Erste Intellekt«. In ihm erkennt sich das Eine selbst. Zugleich tritt in ihm die Welt der Ideen hervor, welche die Formen der Dinge in der Welt im Zusammenspiel mit der Materie bestimmen. In dieser Konzeption zeigt sich die Aufnahme sowohl neuplatonischer als auch aristotelischer Motive. So wurzeln Erkenntnis und Erkennbarkeit im Ersten Intellekt. Sowohl die menschliche Vernunft wie die Ordnung der Welt haben in ihm ihre gemeinsamen Wurzeln. Daher gewinnt der Erste Intellekt eine ontologisch-kosmologische, zugleich aber das menschliche Erkennen fundierende Bedeutung. Der Erste Intellekt geht mit Notwendigkeit aus Gott hervor. Er erkennt nicht nur seinen Ursprung, das göttliche Eine, sondern auch sich selbst. Dadurch geht aus ihm die erste Himmelssphäre hervor, deren Beweger er ist. Aus der Erkenntnis des Einen emaniert der zweite Intellekt. Ihm folgen eine Reihe von weiteren Intelligenzen, die jeweils einer Himmelssphäre zugeordnet sind. An unterster Stelle folgt der zehnte Intellekt, dessen Ordnung die Welt unterhalb des Mondes unterstehen, also auch Erde und Mensch. Dieser Intellekt wird im Anschluß an Aristoteles als tätiger Intellekt gedacht. Dieser hatte ihn als ewig, leidensunfähig und stets tätig bezeichnet. Er ist kein menschliches Seelenvermögen, bewirkt aber in unserem möglichen, bloß potentiellen Intellekt die Aufnahme der Wesensformen der Dinge, worin sich die Erkenntnis der Seienden vollzieht. Für F. wird so aus dem potentiellen der effektive, sich verwirklichende Intellekt. Wie schon Al-Kindi (gest. 873) nimmt er noch einen erworbenen Intellekt (»intellectus adeptus«) an. Dieser umfaßt sozusagen den Besitzstand des Wissens, das sich ein Mensch erworben hat. Alles geistige Licht geht vom Ersten Intellekt aus. Es erreicht den Menschen in der tätigen Vernunft. Jeder Vollzug von Erkenntnis folgt daher einer Erleuchtung aus dem Ersten Licht. Sie ermöglicht uns die Bildung der Allgemeinbegriffe, in welchen wir den Wesensgehalt der Dinge nachvollziehen. Ein mystisches Element, die Erleuchtung, und ein begrifflich-aristotelisches, nämlich die Bildung der universalen Begriffe, entsprechen sich im Denken F. s. Nun kann es aber geschehen, daß die höheren Intelligenzen und schließlich der Erste Intellekt selber nicht in die Vernunft, sondern in die Einbildungskraft des Menschen hineinwirken. Das geschieht vor allem bei den prophetischen Menschen. Indem sie symbolische Vorstellungen hervorbringen und verkünden, stehen sie im Licht der Offenbarung, welche vom Ersten Intellekt ausgeht. In der Religion kann also durchaus Offenbarung geschehen. Aber ihre Symbole erweisen sich als verschiedene Stufen der Annäherung an die Wahrheit in der Vielheit der Völker. Wegen dieser Verschiedenartigkeit der Symbole kann es die eine wahre Religion für alle Völker nicht geben. Die Wahrheit findet ihren gültigen Ausdruck erst im philosophischen Gedanken.
F. war nicht nur Wissenschaftstheoretiker, Logiker und Vertreter einer metaphysischen Mystik, sondern auch politischer Denker. Damit überschreitet er die Grenzen des Neuplatonismus. F. geht es in Fortsetzung der politischen Theorie Platons um den idealen Stadtstaat. Er muß seinen Ort im Ganzen des Universums finden, indem er dessen gerechte Ordnung und Harmonie wiederspiegelt. Diese kann nicht erlangt werden ohne die Herstellung der Ordnung im Menschen selbst. Daher enthält sein Werk über den vollkommenen Stadtstaat (Grundzüge der Ansichten der Bürger der vollkommenen Stadt) nicht nur Ausführungen über die politische Ordnung als solche, sondern auch über das Universum als Emanationssystem, die Freiheit des Menschen, sich zwischen Gut und Böse entscheiden zu können, über die menschliche Erkenntnisfähigkeit, das Verhältnis von Leib und Seele und das Schicksal der Seelen nach dem Tode. F. erneuert Platons Utopie von der Herrschaft der Philosophen im idealen Staat. Allerdings soll der Herrscher zugleich Prophet sein, denn die philosophische Wahrheit kann nicht allen Bürgern vermittelt werden. Sie sind weithin auf die durch den Propheten gestifteten religiösen Symbole angewiesen. Da es unwahrscheinlich ist, daß Prophetie und Philosophie bei irgendeinem Herrscher zusammenfallen, muß die Politik von beiden getragen werden.
F.s Synthese zwischen Philosophie und islamischem Glauben bleibt spannungsreich. So erkennt er den Glauben an die Schöpfung als freie Tat Gottes nicht an. Der oben geschilderte Emanationsprozeß vollzieht sich vielmehr notwendig. Dies gilt für ihn, obwohl F. wohl als erster die These vom realen Unterschied zwischen Wesen und Existenz der Dinge gelehrt hat. Die Wesenheiten sind allgemeine und notwendige Inhalte des Geistes. Aber es kommt ihnen nicht notwendig zu, in Einzelseienden zu existieren. Dazu bedürfen sie einer Ursache, nämlich Gottes. F. meinte auf diese Weise die Lehre des Aristoteles von der Ewigkeit der Welt mit dem Schöpfungsglauben verbinden zu können, stieß aber auf den Widerstand vieler islamischer Theologen.
Zimmermann, Albert (Hg.): Aristotelisches Erbe im arabisch-lateinischen Mittelalter. Berlin/New York 1986. – Walzer, Richard: Al-Farabi. In: Encyclopedia of Islam II. Leiden 1965. – Walzer, Richard: Greek into Arabic. Essays on Islamic Philosophy. Oxford 1962.
Georg Scherer
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.