Metzler Philosophen-Lexikon: Feyerabend, Paul Karl
Geb. 13. 1. 1924 in Wien;
gest. 11. 2. 1994 in der französischen Schweiz
»Anything goes«, so lautet das Leitmotiv der Wissenschaftstheorie F.s, die er als Kritik an den primär methodologisch orientierten Wissenschaftsphilosophien im Umfeld des Logischen Empirismus (Rudolf Carnap) und Kritischen Rationalismus (Karl Popper) entfaltete. Neben Thomas S. Kuhn, Imre Lakatos, Stephen Toulmin und Norwood R. Hanson gilt F. als Wegbereiter einer pragmatischen Wende in der Diskussion um die Wissenschaftstheorie. Hier vollzog sich ein Wechsel von den in der Tradition des Logischen Empirismus und Kritischen Rationalismus entwickelten logisch bzw. normativ orientierten Metatheorien über methodisch zulässige Praktiken in den Einzelwissenschaften hin zu einer auch postempiristisch genannten Wissenschaftsgeschichtsschreibung. Im Zentrum steht hierbei nicht mehr die Frage nach logischen bzw. rationalen Kriterien der Geltung wissenschaftlicher Theorien, sondern Theorien werden in den psychologischen und soziologischen Kontexten ihrer Genese betrachtet.
Nach dem Zweiten Weltkrieg studierte F. zunächst Theaterwissenschaften und andere musische Fächer in Weimar, bevor er sich 1947 in Wien dem Studium der Geschichte, Astronomie, Mathematik und Physik zuwandte. In Wien war F. Mitglied eines Diskussionskreises um den Philosophen Victor Kraft, in dem über philosophische Grundlagenprobleme der Naturwissenschaften debattiert wurde. Die Diskussionen des Kraft-Kreises wurden u. a. von Ludwig Wittgenstein, Elizabeth Anscombe und Georg Henrik von Wright besucht. In den 50er Jahren ging F. nach England, um bei Karl R. Popper zu studieren. Hier schloß er sich zunächst Poppers Kritik am Empirismus an, die er aber späterhin durch seine Forderung nach einer anarchistischen bzw. dadaistischen Erkenntnistheorie überbot und gegen Popper selbst wandte: der Sinn methodischer Standards überhaupt wird von ihm bestritten. F. plädiert für eine freie Wissenschaft, die durch Methodenpluralismus und den schrittweisen Abbau aller methodischen und methodologischen Vorgaben charakterisiert werden kann. Seit 1958 war F. Professor für Philosophie an der University of California in Berkeley, er las als Gastprofessor u. a. in Berlin, Kassel und Zürich. Er starb 1994 an einem Krebsleiden in der Schweiz. Neben einer Vielzahl von Aufsätzen (z.T. gesammelt in: Der wissenschaftstheoretische Realismus und die Autorität der Wissenschaften, 1978; Probleme des Empirismus. Schriften zur Theorie der Erklärung der Quantentheorie und der Wissenschaftsgeschichte, 1981) publizierte F. zwei größere Werke mit den Titeln Against method. Outline of an anarchistic theory of knowledge (1975, mit neuem Vorwort 31993; erweitert dt. Wider den Methodenzwang. Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie, 1976) – das wissenschaftstheoretische Hauptwerk F.s – und Science in a Free Society (1978; veränderte dt. Ausgabe Erkenntnis für freie Menschen, 1979). In dem letztgenannten Buch überträgt F. seine pluralistischen Konzepte auf die Bereiche der Politik und Gesellschaft und verbindet sie mit einer Kritik an der in den Industrieländern herrschenden Expertokratie. In einer kleinen Schrift Wissenschaft als Kunst (1984) diskutiert F. das Verhältnis von Wissenschaft und Kunst. Eine Summe seiner Philosophie stellt der Band mit dem programmatischen Titel Farewell to Reason (1986; Irrwege der Vernunft) dar. In seinem Buch Dialogo sul metodo (1989; Über Erkenntnis) kehrte F. zu einer überaus alten Form des Philosophierens zurück; er nutzt die klassische Dialogform zur Darlegung seiner Argumente. Nach seinem Tod erschien sein letztes Werk: eine Autobiographie mit dem provokativen Titel Zeitverschwendung (1995).
Wider den Methodenzwang enthält die Grundlegung der anarchistischen Erkenntnistheorie F. s. Bei dem Studium der Wissenschaftsgeschichte entdeckt er, daß nahezu alle der als fortschrittlich charakterisierten wissenschaftlichen Theorien nur deshalb entstehen konnten, weil die in der jeweiligen Wissenschaftspraxis geltenden methodologischen Regeln verletzt wurden. Dies gilt ihm zufolge sowohl für die sich um die kopernikanische Revolution gruppierenden Theorien, als auch für die moderne Atomtheorie oder die Wellentheorie des Lichts. Hier waren nicht immer die besseren Argumente der Grund, die neuen Theorien vorzuziehen, sondern günstige psychologische Bedingungen verhalfen den Theoretikern dazu, mittels Zwang und Propaganda ihre Konzepte durchzusetzen. So fordert F. von der Wissenschaftstheorie und -praxis, auf methodologische Standards zu verzichten und sich den anarchistischen Grundsatz »Anything goes« zu eigen zu machen, da nur dieser den Erkenntnisfortschritt garantiere. F. plädiert für einen Methodenpluralismus und formuliert auf der Folie der in den Wissenschaften anerkannten Regeln Antiregeln, die den Wissenschaftler zu einem kontrainduktiven Vorgehen veranlassen: er soll sich nicht scheuen, mit Hypothesen zu arbeiten, die den anerkannten Theorien und beobachtbaren Tatsachen widersprechen. Die Formulierung von Antiregeln verbindet sich mit einer Kritik an der in den Wissenschaften maßgeblichen Konsistenzbedingung (neue Hypothesen müssen mit bestätigten Theorien übereinstimmen). Darüber hinaus möchte F. die Geistes- und Wissenschaftsgeschichte in die wissenschaftliche Praxis integrieren, da ältere Theorien und Konzepte durchaus in der Lage seien, die gegenwärtige Forschung zu bereichern. So verweist er z.B. auf Lücken in der westlichen Medizin, die bei deren Anwendung in China offenbar wurden und dazu führten, daß die dort gebräuchlichen traditionellen Therapieformen (Akupunktur u.ä.) wieder eingesetzt wurden.
Daß eine wissenschaftliche Theorie niemals mit allen von ihr betroffenen Tatsachen übereinstimmt, führt F. zu einer weiteren für seine Konzeption zentralen Auffassung: der bei einem solchen Mißverhältnis vorliegende Fehler muß nicht immer bei der Theorie liegen, sondern kann ebenso in der Beschaffenheit der Tatsachen gründen. Denn was als eine Tatsache gilt und wie eine Tatsache beschrieben wird, hängt von einer herrschenden Theorie ab, welche die Tatsachen allererst konstituiert. Um seine Auffassungen zu illustrieren, diskutiert F. Beispiele aus der Wissenschaftsgeschichte, so etwa Galileis »Argumentation« gegen das von den Aristotelikern gegen die Erdbewegung vorgebrachte Turm-Argument. Er zeigt, daß Galilei seine Konzeption keineswegs nur aufgrund des besseren Arguments durchsetzen konnte, sondern mit psychologischen Tricks und rhetorischen Maßnahmen arbeiten mußte; er führte eine neue Beobachtungssprache ein, mit der die Tatsachen in einer Weise beschrieben werden konnten, welche die von ihm vorgeschlagene Theorie begünstigte. Dieses und andere Beispiele dienen F. als Beweismittel für eine seiner Kernthesen: Der Fortschritt in den Wissenschaften vollzieht sich nicht nur aufgrund rationaler Prinzipien, wie die Methodologen immer glauben, sondern irrationale Mechanismen, z.B. psychologischer oder soziologischer Natur, haben einen entscheidenden Anteil am Gang der Wissenschaftsgeschichte.
Die Idee einer freien Gesellschaft ist Gegenstand der Schrift Erkenntnis für freie Menschen; im Rückgriff auf seine Argumentation in Wider den Methodenzwang unternimmt F. hier den Versuch einer Begründung des Relativismus. In einer freien Gesellschaft sollen alle Traditionen – nicht nur die abendländische des Rationalismus und der Wissenschaften – das gleiche Recht haben. Ob Astrologie, Voodoo-Praktiken oder die Relativitätstheorie angemessene Formen der Lebensorientierung und Welterfassung sind, entscheiden in einer freien Gesellschaft alle Bürger und nicht nur Wissenschaftler und Gelehrte. »Bürgerinitiativen statt Erkenntnistheorie«, so lautet F.s immer wiederkehrender Slogan. Er bestreitet das Vorliegen von Maßstäben, nach denen eine Tradition beurteilt werden kann; solche Maßstäbe konstituieren sich erst im Urteil und stehen bereits auf dem Boden einer bestimmten Tradition. F. plädiert für eine pragmatische Philosophie, welche Überlegungen aus allen Traditionen aufnimmt und ermittelt, wie weit man mit ihnen kommt. Er fordert eine strikte Trennung von Staat und Wissenschaft, da auch die Wissenschaften Ideologien sind, welche ebenso wie einstmals die Kirche die freie Entfaltung menschlicher Fähigkeiten und Bedürfnisse verhindern. Eine freie Gesellschaft verfährt nach relativistischen Prinzipien, der Grundsatz »Anything goes« wird hier zum Leitmotiv der gesellschaftlichen Praxis.
In der Schrift Wissenschaft als Kunst stützt F. sich auf Überlegungen des Kunsthistorikers Alois Riegl. Dieser hatte die Auffassung entwickelt, daß die Geschichte der Kunst nicht an der Idee des Fortschritts gedacht werden kann. In der Kunstgeschichte gibt es nur den Wechsel aufeinanderfolgender Stilformen, die alle jeweils ihren eigenen Gesetzen gehorchen. Diesen Gedanken Riegls überträgt F. auf die Wissenschaften, auch diese sind ihm eine Frage des Stils. Ebenso wenig wie in der Kunst, kann auch hier nicht objektiv über den Wert eines Stils geurteilt werden. In der Philosophie gelten die Konzeptionen F.s als Formen »fröhlicher Wissenschaft«, die nicht nur zum Lachen, sondern ebenso zum Widerspruch reizen.
Das Buch Irrwege der Vernunft besteht aus einer Reihe von Aufsätzen, die F. zu ganz verschiedenen Anlässen verfaßt und für die Buchform überarbeitet hat. Alle Themen seiner Philosophie kehren hier wieder: die Kritik an den Ideen der Vernunft und des Objektivismus, das Plädoyer für den Relativismus und die Aufforderung, die Wissenschaften einer demokratischen Kontrolle zu unterwerfen. Diese Überlegungen werden ergänzt und untermauert u. a. durch Studien zu Xenophanes, Aristoteles und Ernst Mach. Die Dialoge Über Erkenntnis erlauben dem Leser einen sehr unterhaltsamen Einstieg in die Philosophie F. s. Gleiches gilt für die kurz vor seinem Tod entstandene Autobiographie mit dem Titel Zeitverschwendung, in der man auch mehr über den Menschen F. erfährt.
Döring, Eberhard: Paul K. Feyerabend zur Einführung. Hamburg 1998. – Preston, John: Feyerabend. Philosophy, Science and Society. Cambridge 1997. – Couvalis, George: Feyerabend’s Critique of Foundationalism. Adlershot/Brookfield 1989. – Marschner, J.: Paul K. Feyerabends Kritik an der empiristischen Wissenschaftstheorie. Wien 1984. – Duerr, Hans-Peter (Hg.): Versuchungen. Aufsätze zur Philosophie Paul Feyerabends. Frankfurt am Main 1981.
Christoph Demmerling
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