Metzler Philosophen-Lexikon: Garve, Christian
Geb. 7. 1. 1742 in Breslau;
gest. 1. 12. 1798 in Breslau
Als G. wenige Wochen vor seinem Tod Bilanz zieht über seine philosophische Lebensleistung, scheint er ein deutliches Bewußtsein davon zu haben, daß die Zeit und die philosophische Entwicklung über ihn und sein Philosophieverständnis bereits hinweggegangen sind. »Es gibt Philosophen«, so rechtfertigt er sich, »die nicht anders, als zu Folge gegenwärtiger Empfindungen denken. Eine durch ihre vorzügliche Klarheit sich auszeichnende Wahrnehmung oder ein lebhaftes Gefühl muß ihre Denkkraft erwecken und beständige Rücksichten auf die Welt und ihre Erfahrung und die diesen gemäßen Empfindungen begleiten sie während ihrer ganzen Meditation.« Davon grenzt er eine mehr abstrakt-spekulative Art des Philosophierens ab, für die Kant steht und die sich am Ende des Jahrhunderts wieder weitgehend durchgesetzt hatte. Mit seiner Selbstrechtfertigung ordnet sich G. jener vielgeschmähten Richtung der deutschen Aufklärungsphilosophie zu, die als »Popularphilosophie« bekannt ist und als deren Hauptvertreter G. neben Mendelssohn gilt. Als Popularphilosoph orientierte sich G. an der alltäglichen Lebenspraxis: den Menschen durch ein an die Erfahrung rückgebundenes, sich auf gesunden Menschenverstand berufendes und in allgemein verständlicher Sprache geschriebenes »Meditieren«, das weniger belehren als zum Selbstdenken anregen wollte, praktische Lebenshilfe zu vermitteln, das war nach G.s Meinung Aufgabe der Philosophie; und dieser Aufgabe hat er sich in seinen zahlreichen Aufsätzen und wenigen Büchern gewidmet. Originalität, Schärfe und Gründlichkeit des Denkens dagegen waren seine Sache nicht.
Die ersten Jahre seines Lebens verbrachte G. in Breslau in Obhut seiner Mutter, die nach dem frühen Tod des Vaters, eines Färbereibesitzers, zeit ihres Lebens für den Sohn wichtigste Bezugsperson blieb. Von 1762 bis 1766 studierte er in Frankfurt/Oder und Halle Philosophie und Mathematik und wurde 1768 Professor der Philosophie in Leipzig, eine Stellung, die er bereits 1772 wegen seiner labilen Gesundheit wieder aufgab. Er zog sich nach Breslau zurück und lebte hier bis zu seinem Tod ein an äußeren Ereignissen armes Leben als Privatgelehrter.
Einen beträchtlichen Teil von G.s Arbeit bilden Übersetzungen, vorwiegend von Werken der britischen Philosophie (Adam Ferguson, Edmund Burke, Adam Smith), womit er einen bedeutenden Beitrag zur Verbreitung der empiristischen Tradition in Deutschland leistete. Daneben übersetzte er in späteren Jahren auch Werke der klassischen Antike, etwa Aristoteles und Cicero. Der Übersetzung von Ciceros De Officiis fügte er drei Bände mit Anmerkungen und kommentierenden Abhandlungen bei, in denen er seine eigenen Gedanken zu den bei Cicero erörterten Fragen der Moral und Politik formulierte (Philosophische Anmerkungen und Abhandlungen zu Ciceros Büchern von den Pflichten, 1783). Diese kommentierende Methode, die G. auch in anderen Übersetzungen praktizierte, kam seinem unsystematischen Naturell sehr entgegen. »Es ist wahr«, so gibt er zu, »daß ich zu allen meinen Ideen Veranlassungen brauche, und daß die Gedanken anderer, die ich prüfe, mir am öftersten diese Veranlassung geben
Ich habe im Grunde immer fremde Werke kommentiert.« Dabei ist das Kommentieren für ihn durchaus eine Form des »Selbstdenkens«, wenn nämlich der Kommentierende sich »in die Stelle des Schriftstellers setzt, an dessen Feuer sein eigenes anzündet, und mit ihm gemeinschaftlich denkt«. Solch gemeinschaftliches Denken führte G. in seinem Cicero vor, von dem er sich auch zu einer Abhandlung über die Verbindung der Moral mit der Politik (1788) anregen ließ. Darin versucht G. mit naturrechtlichen und utilitaristischen Argumenten die bestehende amoralische politische Praxis der absolutistischen Staaten zu rechtfertigen: Eroberungskriege und Vertragsbrüche seien unter bestimmten Umständen durchaus akzeptabel. Daß eine derart konservativ-apologetische politische Philosophie am Vorabend der Französischen Revolution auf wenig Verständnis stieß, läßt sich denken.
Seit Mitte der 80er Jahre war G.s Kränklichkeit in eine ernsthafte Krankheit übergegangen; er litt unter Gesichtskrebs, der zunehmend die Augen in Mitleidenschaft zog und das Lesen und Schreiben immer schwieriger machte. Dennoch sind es gerade die letzten, im Zeichen der schmerzhaften Krankheit stehenden Jahre seines Lebens, in denen G. eine bis dahin ungekannte schriftstellerische Produktivität entwickelt. Jetzt schreibt er seine großen Essays über Themen der Moral (Über die Geduld, 1792), der Literatur und vor allem der Gesellschaft (Über Gesellschaft und Einsamkeit, 1797/1800), die unter dem Titel Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Literatur und dem gesellschaftlichen Leben (5 Teile, 1792–1802) veröffentlicht werden. Die Essays über Fragen des gesellschaftlichen Lebens sind geprägt von einer deutlichen Vorliebe für adlige Umgangsformen, die immer wieder gegen die bürgerliche Einseitigkeit als Muster wahrer, unentfremdeter Menschlichkeit dargestellt werden. Die Kritik an der bürgerlichen Einseitigkeit bestimmt auch G.s Moralphilosophie, die er im Anschluß an seine Übersetzung der aristotelischen Ethik entwickelte. In einer als Einleitung zu dieser Übersetzung veröffentlichten Übersicht der vornehmsten Prinzipien der Sittenlehre (1798) setzt er sich vor allem mit Kants Ethik auseinander, wobei ihm allerdings für dessen radikale Unterscheidung von Moralität und Glückseligkeitsstreben jedes Verständnis fehlt. Bei der Formulierung seiner eigenen Prinzipien (Eigene Betrachtungen über die allgemeinsten Grundsätze der Sittenlehre, 1798) bleibt er denn auch auf einer vorkantisch-aristotelischen Position stehen und hält gegen Kant daran fest, daß Moralität die Motivation durch das Glückseligkeitsstreben benötige. Die sittliche Vollkommenheit, die Tugend und Glückseligkeit vereinige, bestehe in einer von der Vernunft geleiteten Harmonie aller menschlichen Anlagen.
Die ersten Jahre nach G.s Tod erlebten noch ein gewisses Interesse an seinen Schriften, von denen einige erst jetzt veröffentlicht wurden. Dieses Interesse aber sollte sehr bald nachlassen; schon etwa zehn Jahre später war G. weitgehend vergessen, nicht zuletzt, weil er einen Begriff von Philosophie vertrat, für den die Generation von Fichte, Schelling und Hegel nicht das geringste Verständnis mehr aufbrachte. Heute kennt man G. meist nur noch als Mitverfasser jener unglückseligen Rezension von Kants Kritik der reinen Vernunft in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen, die Kant mit Berkeleys Idealismus in Verbindung gebracht und dafür den Zorn des Königsbergers auf sich gezogen hatte. Dabei wird übersehen, daß die Rezensionsaffäre, für die G. zudem wohl nur den geringeren Teil der Verantwortung trägt, eine doch eher nebensächliche Episode in seinem Werk bildet. Um eine historisch gerechte, unvoreingenommene Beurteilung dieses Werkes und des darin zum Ausdruck kommenden Philosophieverständnisses hat sich die Forschung erst in jüngster Zeit bemüht.
Altmayer, Claus: Aufklärung als Popularphilosophie. Bürgerliches Individuum und Öffentlichkeit bei Christian Garve. St. Ingbert 1992. – Bachmann-Medick, Doris: Die ästhetische Ordnung des Handelns. Moralphilosophie und Ästhetik in der Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1989. – Stolleis, Michael: Staatsraison, Recht und Moral in philosophischen Texten des späten 18. Jahrhunderts. Meisenheim/Glan 1972.
Claus Altmayer
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