Metzler Philosophen-Lexikon: Gentile, Giovanni
Geb. 30. 5. 1875 in Castelvetrano/Sizilien;
gest. 15. 4. 1944 in Florenz
Zusammen mit Benedetto Croce, dem anderen großen Vertreter des italienischen Neoidealismus, hat G. ein halbes Jahrhundert lang die philosophische Kultur seines Landes beherrscht. Sein streng antipositivistisches Denken – eine Neuformulierung des Rechtshegelianismus – wirkt sich heute noch auf die Grundorientierung des italienischen Philosophierens aus. G. wird häufig für die historische, antiempirische Prägung eines Denkens verantwortlich gemacht, das sich an Marx oder Heidegger orientiert und das durch seine Wissenschaftsfeindlichkeit riskiert, den Anschluß an die Moderne zu verpassen.
G. kritisiert Hegel, um eine Philosophie des absoluten Ich zu entwickeln, die jede Pluralität verneint und alles Gegenständliche in das Bewußtsein aufhebt. Seinem Denken, das die Identität von Theorie und Praxis, von Philosophie und Leben postuliert, liegt eine streng moralische, antihedonistische Lebensauffassung zugrunde, die von einem fast schwärmerischen Glauben an die unbegrenzten Möglichkeiten des menschlichen Geistes getragen ist. Tragisch wurde für sein Leben eine Verblendung, die ihn dazu führte, im faschistischen Staat Mussolinis die Verkörperung des sittlichen Staates zu erblicken, der fähig ist, die Egoismen und die abstrakte Freiheit des Liberalismus zu überwinden. Unter Mussolini wurde G. zum Organisator der italienischen Kultur und zum Theoretiker der faschistischen Ideologie. Er lieferte durch das Siegel seiner Autorität dem Faschismus eine moralische Rechtfertigung und erlaubte Mussolini »eine bemerkenswerte Mystifizierung des Faschismus« (Ernst Nolte). Schwieriger ist die Frage zu beantworten, ob sein Denken, dem Rassismus und jede Verherrlichung von Gewalt fremd waren, in seinem Wesen faschistisch ist. Abgesehen von dezisionistischen Elementen in der Ethik wurden G. Realitätsfremdheit und eine gefährliche Trennung der Kultur von der Reflexion über die konkreten Bedingungen der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung angelastet.
G. studierte zunächst Literaturwissenschaft und Philosophie bei Donato Jaja, einem Schüler des Hegelianers Bertrando Spaventa, dessen Nachfolger er 1914 in Pisa wurde. 1917 bekam er den Lehrstuhl für theoretische Philosophie an der Universität Rom. Nach seiner Dissertation über Antonio Rosmini und Vincenzo Gioberti, in der er eine Annäherung zwischen Katholizismus und deutschem Idealismus versuchte, kritisierte G. in seinem zweiten Werk La filosofia di Marx (1899) den historischen Materialismus vom Standpunkt eines orthodoxen Idealismus aus. In dieser Zeit beginnt die Freundschaft mit Benedetto Croce, mit dem er bis 1922 die berühmte Zeitschrift La Critica herausgab. Die entgegengesetzte Einstellung gegenüber dem Faschismus – Croce wurde die geistige Führungsgestalt der liberalen Opposition gegen den Faschismus – wird später der Freundschaft ein Ende setzen.
In dieser Zeit schreibt G. seine wichtigsten Werke: Teoria generale dello spirito come atto puro (1916; Allgemeine Theorie des Geistes als reinen Aktes) und Il sistema di logica come teoria del conoscere (1917–1921; Das System der Logik als Theorie des Wissens), in denen er seine Philosophie, den Aktualismus, entwickelte. 1922 zum Senator ernannt, war er von Oktober 1922 bis Juli 1924 Unterrichtsminister in der ersten Regierung Mussolinis. 1923 schuf er die Schulreform, die seinen Namen trägt. Diese Reform hält an den humanistischen Grundlagen fest, verstärkt den Religionsunterricht in den Grundschulen und trägt vor allem durch den obligatorischen Lateinunterricht ab der sechsten Klasse konservative Züge. G. wurde 1924 Präsident des »Istituto nazionale fascista della cultura« und leitender Herausgeber der Enciclopedia Italiana. Aus dieser Zeit stammen die Werke Che cos è il fascismo. Discorsi e polemiche (1925; Was ist der Faschismus? Reden und Polemiken) und Origini e dottrina del fascismo (1929; Grundlagen des Faschismus). 1931 erschien seine Theorie der Kunst: Filosofia dell arte. G. gründete das Giornale critico della filosofia italiana und wurde das Haupt der philosophischen Schule der Aktualisten »Gli attualisti«, der A. Volpicelli, A. Carlini, U. Spirito und andere angehörten. Er trug die faschistische Politik mit bis hin zur Treue gegenüber der Republik von Salò; ein Beleg dafür ist auch seine berühmte Rede Discorso agli Italiani von 1943. Im selben Jahr verfaßte er sein letztes Werk Genesi e struttura della società (Ursprung und Struktur der Gesellschaft). Eine Gruppe von Partisanen tötete den Philosophen am 15. April 1944 in Florenz.
Kern seiner Philosophie ist die Entwicklung eines konsequenten Idealismus auf der Grundlage einer Kritik am Positivismus, der die italienische Kultur in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts beherrscht hatte. G. sieht seine Philosophie als kritische Fortsetzung einer langen historischen Tradition, die in einem direkten Zusammenhang mit der deutschen Philosophie von Kant bis Hegel steht, aber auch auf die Philosophie der italienischen Renaissance zurückgeht und an Giambattista Vico anknüpft. Das Grundprinzip seines Denkens ist ein rigoroser Immanentismus, welcher jeden Dualismus zwischen Geist und Materie, zwischen Natur und Geschichte ablehnt und alles aus der Tätigkeit des denkenden Ich ableitet: »Dies ist der feste Punkt, auf den sich der Aktualismus stützt. Die einzige feste Wirklichkeit, die ich zu bejahen vermag und mit der daher jede von mir denkbare Wirklichkeit verbunden werden muß, ist jene Wirklichkeit, die selber denkt. Diese wird nur so verwirklicht, sie ist daher nur im Akt des Denkens eine Wirklichkeit.«
Zentral ist für G. die Unterscheidung zwischen abstraktem und konkretem Denken; hier setzt auch die Kritik an Hegels Logik an. Der Fehler Hegels liegt nach G. darin, eine Dialektik des Gedachten versucht zu haben, eine Dialektik des Begriffes oder der gedachten Realität also. Hegel setzt demnach zu Unrecht Sein und Nichtsein als abstrakte Momente voraus und läßt daraus das Werden entspringen. Für G. ist Dialektik aber nur als Entwicklung des denkenden Subjekts möglich; der Akt des Denkens stellt die einzige Realität dar. G. kritisiert Hegel gleichsam durch Fichte, indem er die Grundthese der ersten Wissenschaftslehre von 1794 entwickelt und die strenge Immanenz jeder Realität im denkenden Subjekt behauptet: »Nichts ist denkbar außerhalb des Denkens, außerhalb unseres Denkens. Folglich nichts außerhalb des Menschen, auch die Natur, auch Gott selbst.« Die Transzendenz – so verteidigt sich G. gegen katholische Kritik – ist nicht etwas, das sich jenseits des Geistes befindet und ihn begrenzt, sondern sie wird aus dem Leben des Geistes selbst geboren, der sie als sein Ideal hervorbringt: »Die Transzendenz ist der menschliche Geist, der sich als solcher verwirklicht« – Transzendenz also als Dialektik der freien Tätigkeit des Selbstbewußtseins.
G. versucht in seinem gesamten Werk den spekulativen und praktischen Beweis dieses Immanentismus; denn der denkende Geist ist nicht nur als theoretisches, sondern auch als praktisches Moment zu verstehen, so daß der Geist, indem er sich verwirklicht, auch seine verschiedenen Konkretionen ins Leben ruft: Nach der Metaphysik folgen Abhandlungen über Logik, Ethik, Pädagogik, Religion, Kunst, Recht und Politik. Das Leben des Geistes entwickelt sich in einer triadischen Bewegung: These und Antithese sind abstrakte Momente eines Prozesses, der erst in der Synthese real wird. So sieht G. in der Kunst das Moment der reinen Subjektivität, das in seiner Unmittelbarkeit jeder Anstrengung des Geistes, es einzuholen, widersteht; während die Religion das Moment der reinen Objektivität als Bewußtsein des Objektes darstellt, demgegenüber das Subjekt sich annulliert. So bildet die Religion für G. anders als bei Croce ein wesentliches Moment des dialektischen Prozesses des Geistes: Als absolutes Subjekt und absolute Freiheit behauptet sich der Geist dennoch nur in der Philosophie, welche die Wahrheit der Kunst und der Religion darstellt.
Die Dialektik, die G. in der Logik entwickelt hat, bestimmt auch die Sphären der Rechtsphilosophie und der Politik. Das Recht wird von ihm als Moment der Moral aufgefaßt, als das Gewollte gegenüber dem Wollen, als die Norm, die man überwinden muß, indem man sie verwirklicht. Die Politik wird verstanden als das Leben des Staates im Individuum, als das Universale, in dem das Individuum seine Partikularität überwindet. Der Staat ist ethisch nicht neutral gegenüber dem wissenschaftlichen, künstlerischen und religiösen Leben der einzelnen, sondern verwirklicht sich durch diese Werte. Den Begriff des sittlichen Staates – des Staates als höchste Offenbarung des Absoluten – übernahm G. von Hegel, freilich nicht ohne Verschärfung. Während des Hegel-Kongresses in Berlin 1935 vertrat er die These, daß man die drei Schranken, die Hegel vor dem Staat aufgebaut hatte, überwinden müsse. Dabei dachte G. an die Bestimmung und Begrenzung des Staates durch die Existenz anderer souveräner Staaten, an die Unterordnung des Staates unter die Sphäre des absoluten Geistes, wie er in Philosophie, Religion und Kunst sich repräsentiert, sowie an die Konditionierung des Staates durch die niedrigeren Sphären der bürgerlichen Gesellschaft und der Familie. Diese Romantisierung der Hegelschen Staatslehre eignete sich vorzüglich, um eine Rechtfertigung des faschistischen Staates gegenüber der liberalen Forderung nach einer Autonomie der Individuen im Staat und der marxistischen Forderung nach Autonomie der Klassen zu liefern. Auch seine Unterscheidung zwischen einer »volontà volente« (dem wollenden Willen) und einer »volontà voluta« (dem gewollten Willen), welche jener anderen Unterscheidung zwischen »pensiero pensante« und »pensiero pensato« (dem denkenden und gedachten Gedanken) entspricht – wobei nur dem ersteren Wahrheit und Güte zukommt, während das Gedachte und Gewollte als Vergangenes das Negative darstellen –, befindet sich in gefährlicher Nähe zu einem puren Dezisionismus, der jede Wertorientierung unmöglich macht.
G. hinterließ ein umfangreiches Werk; die mit der Herausgabe seines Werkes betraute »Stiftung Gentile« hat bis heute über vierzig Bände herausgegeben. Sein Einfluß innerhalb der italienischen Universität – Croce hat nie eine akademische Funktion wahrgenommen – blieb auch aufgrund seiner hervorragenden pädagogischen Fähigkeiten und seiner moralischen Integrität über Jahrzehnte außerordentlich wirksam. Sein Werk und sein Leben können als Beispiel für jene unheilvolle Verstrickung der Intellektuellen in die Sphäre der Macht gelten, die – wie die jüngste Auseinandersetzung um das philosophische Erbe Martin Heideggers erweist – immer wieder auftritt. Sein von moralischem Pathos und religiöser Kraft durchdrungenes Denken ist trotz der Anknüpfung an den deutschen Idealismus tief in der italienischen Geschichte des Risorgimento verwurzelt und kann als Produkt des romantischen idealistischen Geistes des 19. Jahrhunderts verstanden werden, als Ausdruck des Unbehagens vor dem laizistischen, aufklärerischen und dabei technisch orientierten Denken der sich entwickelnden Industriegesellschaft, das dem Faschismus den Boden bereitet hat. Die kritische Auseinandersetzung um die Bedeutung der idealistischen Philosophie G.s für die Moderne sowie um die Frage nach der Beziehung zwischen seinem Denken und der faschistischen Ideologie bewegt noch immer, insbesondere im geistigen Klima der ausklingenden Postmoderne, die Gemüter der Italiener. Dies hat jüngst die Polemik gezeigt, welche die Einweihung einer Ehrentafel an der Universität Pisa im Jahre 2000 ausgelöst hat. In diesem Zusammenhang ist auch der Streit um die Verantwortung für den tragischen Tod des Philosophen neu entfacht.
Campi, Alessandro: Giovanni Gentile e la RSI. Morte »necessaria« di un filosofo. Presentazione di A. James Gregor. Quaderni Terziaria. Mailand 2001. – Gregor, A. James: Giovanni Gentile. Philosopher of Fascism. London 2001. – Sasso, Gennaro: Le due Italie di Giovanni Gentile. Bologna 2000. – Charnitzky, Jürgen: Giovanni Gentile und der Faschismus. Ein Verhältnis zwischen Kohärenz und Ambivalenz. Frankfurt am Main 1995. – Garin, Eugenio: Croce e Gentile un secolo dopo. Saggi, testi inediti e un’appendice bibliografica 1980–1993. Florenz 1994. – Di Giovanni, Pietro (Hg.): Il neoidealismo italiano. Bari 1988.
Franca Janowski
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