Metzler Philosophen-Lexikon: Goffman, Erving
Geb. 11. 7. 1922 in Manville (Kanada);
gest. 20. 11. 1982 in Philadelphia
Auf einer Tagung, deren Hauptredner G. war, wurde ihm zu Ehren am Abend ein Empfang gegeben, der im Beobachtungsturm einer von Schinkel gebauten Sternwarte – nun ein sozialwissenschaftliches Institut – stattfand. Der Ehrengast wurde begrüßt, sagte einige höfliche Sätze, trat zurück und schien wenige Minuten später verschwunden. Schließlich fand man ihn: auf dem ursprünglich für das Fernrohr vorgesehenen drehbaren Podest am – bezeichnenden – Rand der Abendgesellschaft, deren Gegenstand, Teil und Beobachter er war.
Beobachtungshaltung, wissenschaftliche Einstellung und tiefes Mißtrauen gegenüber Globalerklärungen rücken das Werk dieses Sozialwissenschaftlers eher in die Nähe der Darwinschen Beschreibungen, der Ethnologie oder sogar der Humanethologie als in den Mainstream der Soziologie, von dem er sich nicht treiben lassen wollte: Er zog es vor, aufmerksam mitschwimmend zwar, am Rande des Stromes zu bleiben. In seiner Disziplin verkörperte er den Typus des »marginal man«, und dies nicht nur als Beobachter, sondern auch als Theoretiker. Er konnte sich beobachtend in das Handeln (nicht: in die Handelnden!) hineinversetzen, weil er es verstand, sich dem Handeln als Mithandelnder zu entziehen. Ziel seiner oft als befremdend neutral mißverstandenen, disziplinierten Aufmerksamkeit war es, durch Außenbeobachtung zunächst die inneren Organisationsprinzipien des Handelns (wiederum nicht: der Handelnden) zu beschreiben und schließlich analytisch darzustellen. Daß der Beobachter denselben Prinzipien zu gehorchen gezwungen war, verstand sich von selbst. G. beobachtete handelnde Individuen als objektivierender und dennoch individueller Beobachter. Er nahm sich in die Pflicht, durch phänomenologische Nüchternheit die Evidenz methodisierter, individueller Wahrnehmung als Fundament wissenschaftlicher Beobachtung zu legitimieren und zu verallgemeinern – ohne sich selbst als konkreten Beobachter verschwinden zu lassen. Wie schwer eine solche Einstellung durchzuhalten ist, zeigen nicht nur seine Arbeiten, sondern auch die Tatsache, daß er zwar Nachahmer, aber keine Schüler gefunden hat. Er hat sie wohl auch nicht gewollt.
Im disziplinierten Einzelbeobachter sah G. das Wahrnehmungsorgan seiner Disziplin oder – wie einer seiner Lehrer, Everett C. Hughes, es formulierte – »the sociological eye«. Mit dieser Einsicht ist das nicht nur methodisch, sondern auch grundlagentheoretisch fundierte Gebot der Enthaltsamkeit gegenüber einer künstlichen sozialwissenschaftlichen Herstellung und Messung von Daten verknüpft. Der Soziologe sollte vielmehr, soweit dies eben möglich ist, natürliche Daten (»data in situ«) sammeln, beschreiben und interpretieren: Zwischen den Beobachter (Interpreten) einerseits und das/die Beobachtete(n) andererseits sollten sich neben die ohnehin schon wirksamen perspektivischen Verkürzungen in der Beobachtung nicht noch zusätzlich künstliche Filter schieben. Der Grund: Die Verfahren, mit deren Hilfe Gesellschaftsmitglieder ihr Handeln und Wissen organisieren, sich selbst gegenüber anderen darstellen und ihre jeweiligen Relevanzen herstellen, sollen in weitgehend unverstellter Form erscheinen und damit relativ unbeeinflußt wiedergegeben werden können.
So einzigartig die Stellung G.s innerhalb der Sozialwissenschaften ist, sie läßt die – sehr verschiedenartigen – Traditionszusammenhänge, aus denen er kam, erkennen: Strukturfunktionalistisch orientierte Ethnologie (Alfred Radcliffe-Brown), Pragmatismus (Charles Cooley, George Herbert Mead), Phänomenologie (Edmund Husserl, Alfred Schütz) und die »Chicago School« (Everett C. Hughes) haben ihre Spuren in seinem Werk ebenso hinterlassen wie die »Klassiker« Emile Durkheim und Georg Simmel. Keiner der an diese Traditionen anknüpfenden Schulen kann G. zugerechnet werden; er selbst hat sich vehement jeder Etikettierung ebenso widersetzt wie den diskreten oder weniger diskreten Ritualen seines Berufsstandes. An Diskussionen über seine Arbeiten nahm er nicht teil – bis auf eine Ausnahme. Bezeichnenderweise ging es dabei um einen besonders unerfreulichen Etikettierungsversuch. Anlaß war die Besprechung von Frame Analysis (1974) durch einen die reine Lehre des Interaktionismus gegen jede »strukturalistische« Verunreinigung verteidigenden Kollegen. Sonst reagierte G. weder auf Kritiken, noch unterzog er sich in Fußnoten und Einleitungen rituellen Danksagungen. Ebensowenig begab er sich in die Arenen der jeweils aktuellen Theoriedebatten. Trotz dieses selbstgewählten Abstandes und der ironischen, bisweilen sarkastischen Distanz zum eigenen Berufsstand zollte dieser dem Einzelgänger Respekt und Beachtung: G.s Berufsweg, gekennzeichnet durch das Ineinandergreifen von Feldbeobachtungen und extensiver, auf die Feldstudien bezogener Schriftstellerarbeit, führte zu Professuren in Berkeley (1961 bis 1969) und zur Benjamin Franklin Professur an der University of Pennsylvania in Philadelphia (1968 bis zu seinem Tod), zu internationaler Anerkennung (weltweite Übersetzung seiner Bücher), zu akademischen Ehrungen (McIver Award 1961, Mead-Cooley Award 1979, George Orwell Award der Harvard University Press 1979) und sogar zur Präsidentschaft in der Amerikanischen Gesellschaft für Soziologie (1981).
War er, bezogen auf die Hauptrichtungen seiner Disziplin, marginal, so war er doch gleichzeitig nicht nur ein geachteter Gelehrter, sondern auch einer der am häufigsten gelesenen sozialwissenschaftlichen Autoren. Anders als die meisten seiner Fachkollegen fand er seine Leser nicht nur – nicht einmal vorwiegend – innerhalb der Soziologie. Er hatte ein interdisziplinäres Publikum. Vor allem aber gelang es ihm, auch diejenigen als Leser zu gewinnen, über die er schrieb. Dies gilt für nahezu alle seiner Bücher – von Communication Conduct in an Island Community (1953), seiner Dissertation, bis hin zu seinem letzten Buch Forms of Talk (1981). Er zog die Aufmerksamkeit seines Publikums zurück zur Soziologie, indem er diese zurückführte zur Beschreibung und Analyse konkret gelebter Sozialität: Er beschrieb nur, was er kannte. Und: Was er beschrieb, kannte jedermann; doch neu war, wie er es beschrieb, wie er es als etwas zeigte, das deswegen so wenig gesehen und befragt wurde, weil jeder es bereits gesehen und verstanden zu haben glaubte.
Dennoch ging es ihm nicht vorrangig um das Alltägliche, Normale, wenig Beachtete an sich, auch wenn er dessen Ethnograph war und dessen Apologet zu sein schien. Es war ihm als gut zugängliches »Datum« Anlaß, nicht aber per se wichtigster Gegenstand. Seine Aufmerksamkeit galt einer zentralen sozialwissenschaftlichen Fragestellung: Wie entsteht und erhält sich eine sinnhaft interpretierbare soziale Ordnung im Handeln der Menschen. Bewährungsfeld für die Fragestellung war ihm die universale und zugleich ursprüngliche Kommunikationssituation – die Vis-à-vis-Interaktion – gerade wegen dieser Eigenschaften. Dabei setzte er, vielen seiner Interpreten zum Trotz, voraus, daß »der eigentliche Gegenstand der Interaktion nicht das Individuum und seine Psychologie ist, sondern eher die syntaktischen Beziehungen zwischen den Handlungen verschiedener gleichzeitig anwesender Personen«.
Es geht also vorrangig um die Bauformen und Organisationsprinzipien sozialen Handelns und sozialer Ordnung und zugleich um die »allgemeinen Eigenschaften«, die Handelnde haben müssen, um sinnhaft handeln zu können. Die mikrosoziologisch angelegte Detailbeobachtung scheint demnach auf ein makrologisches Ziel hin ausgerichtet zu sein. Tatsächlich jedoch bewegt sich G.s Fragestellung diesseits von »Mikro« und »Makro«. Es geht ihm vielmehr um das Fundament, um einige Bedingungen der Möglichkeit von Interaktion, um die Basisaktivitäten und Grundelemente des sozialen Austausches (Interaction Ritual, 1967; Frame Analysis, 1974; Forms of Talk, 1981; Encounters, 1961; Stigma, 1963; Relation in Public, 1971; Gender Advertisements, 1979) innerhalb jenes Spiel-Raumes der Face-to-Face-Interaktion, auf dem von jedem Gesellschaftsmitglied der Kampf um die »Territorien des Selbst« im Austausch mit dem/den Anderen ausgefochten wird. Bis hin zur letzten Schrift steht diese Problematik im Zentrum seiner – damit notwendig unvollendeten, weil unvollendbaren – Arbeit.
Bei aller Neutralität und Kühle der Beschreibungen und Analysen ist dennoch unverkennbar, daß G. innerhalb des Formen- und Regelwerks der »sozialen Mechanik« nach dem engen Bewegungsraum der Freiheit sucht, der eine Sicherung der »Territorien des Selbst« ermöglicht: nach der Freiheit der Bewegung im (sozialen) Käfig. Am deutlichsten wohl in der taktvollen Beschreibung derer, die er beobachtet, ebenso aber auch in der feinfühligen Distanz zu programmatischem Moralisieren und schwadronierendem Pädagogisieren wird deutlich, worin G. die Möglichkeit einer solchen Freiheit sah. Voraussetzung für sie ist die Einsicht in das Regelwerk der »sozialen Mechanik«, in das Reich der Notwendigkeit. Erst diese Einsicht macht es möglich, das Regelwerk im Sinne eines »fair play« zu beherrschen: Aus allgemein bestimmtem und bestimmbarem sozialem Verhalten wird dann humanes Handeln, wenn es gelingt, ein aufgezwungenes Spiel – mit allen dazugehörigen Taktiken und Finessen – nicht nur gut, sondern auch fair zu spielen.
Willems, H.: Rahmen und Habitus. Zum theoretischen und methodischen Ansatz Erving Goffmans. Vergleiche, Anschlüsse und Anwendungen. Frankfurt am Main 1997. – Verhoeven, J. C.: An Interview with Erving Goffman, 1980. In: Research on Language and Social Interaction 3 (1993), S. 317–348. – Burns, T.: Erving Goffman. London 1992. – Hettlage, Robert/Lenz, Karl (Hg.): Erving Goffman. Ein soziologischer Klassiker der zweiten Generation. Bern/Stuttgart 1991. – Ditton, Jason (Hg.): The View from Goffman. London 1980.
Hans-Georg Soeffner
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