Metzler Philosophen-Lexikon: Gramsci, Antonio
Geb. 22. 1. 1891 in Ales (Sardinien);
gest. 27. 4. 1937 in Rom
Das Dorf Ghilarza im wirtschaftlich verarmten und zurückgebliebenen Sardinien sowie Turin, frühes Zentrum der italienischen Automobilindustrie – die enorme Spannung zwischen diesen Polen seiner Lebenswelt ist bestimmend für G.s Leben und Denken. Viertes von sieben Kindern eines Provinzbeamten, sind G.s Kindheit und Jugend von größter Armut und Entbehrung gezeichnet, was bis zu Symptomen gefährlicher Unterernährung während der Gymnasialzeit reicht. Zu dieser äußeren sozialen Erniedrigung kommt die frühe körperliche Mißbildung des Kindes durch einen verkrüppelten Rücken – sein Leben lang liegt der nur etwa 1,50 m große G. in geradezu tragischem Kampf zwischen der klaren, disziplinierten Entschlossenheit seines Willens und Intellekts und seinem zu schwachen, kranken Körper. In einer Zeit wirtschaftlicher Verelendung Sardiniens ist der junge G. zunächst Anhänger des sardismoˆ, des Kampfes für die nationale Unabhängigkeit Sardiniens von der ausbeuterischen (Wirtschafts-) Politik des italienischen Nordens und seiner Regierung. Ein bescheidenes Stipendium gibt ihm 1911 die Möglichkeit, an der Turiner Universität Literaturwissenschaft zu studieren; im Frühjahr 1915 jedoch bricht er das Studium ab. Nicht zuletzt aufgrund von Freundschaften (Angelo Tasca, Palmiro Togliatti) gerät G. schnell in Kontakt mit der Turiner sozialistischen Bewegung, so daß er die separatistische Einstellung aufgibt und – Ende 1913 – dem Partito Socialista Italiano beitritt. In den folgenden Jahren entfaltet G. eine immense journalistische Aktivität für die Wochenzeitung Il grido del popolo (Stimme des Volkes) sowie die Turiner Lokalredaktion des sozialistischen Avanti! und wird schnell wegen seines klaren und leerer Rhetorik abholden Stils bekannt; daneben widmet er sich mit fast missionarischem Eifer der Arbeiterbildung. Das entscheidende Ereignis der Oktoberrevolution gibt seinem noch eher vagen und stark von Benedetto Croces Neuidealismus geprägten Sozialismus eine klarere Zielrichtung. Sie drückt sich in der Gründung einer neuen Zeitung aus: L Ordine Nuovo (ab Mai 1919) wird – auf dem Höhepunkt der Klassenkämpfe in Turin – »Zeitung der Fabrikräte«.
Im Konzept der Fabrikräte als »Modell des proletarischen Staates« fließen zwei für G. charakteristische Auffassungen zusammen: einmal das stark willensbetonte, schöpferische und unbürokratische Verständnis des Marxismus (»die Fabrikräte haben ihr Gesetz in sich selbst«); zum anderen der Schlüsselbegriff »Bündnis«, da der Fabrikrat auch den nicht organisierten Arbeitern offensteht und so tendenziell die ganze Wirklichkeit in ihrer Unterschiedlichkeit umgreift. Hier fließt die Erfahrungsbasis des Sarden G. ein, der zum Theoretiker des Mezzogiornoˆ des italienischen Südens wird, den es als eigenständige, von der bäuerlich-katholischen Tradition geprägte Lebenswelt ernst zu nehmen und zu begreifen gilt. Trotz dieser grundsätzlich antisektiererischen Haltung trägt G. – unter dem Einfluß Lenins – die Abspaltung der Kommunisten von der Sozialistischen Partei und die Gründung des Partito Comunista Italiano (PCI) im Januar 1921 mit und gibt nun als Mitglied ihres Zentralkomitees den Ordine Nuovo als Tageszeitung und Parteiorgan heraus. In den folgenden Jahren der zunehmenden Verschärfung der innenpolitischen Situation (Oktober 1922 Mussolinis »Marsch auf Rom«) ist G. einer der wenigen, welche die faschistische Partei in ihrer bedrohlichen Andersartigkeit im Vergleich zu den bürgerlichen Parteien erkannt haben. Als Repräsentant des PCI im Exekutivkomitee der Dritten Internationale (Komintern) lebt er vom Juni 1922 ab für eineinhalb Jahre in Moskau, wo er seine Frau Julia Schucht kennenlernt, und vom Dezember 1923 bis Mai 1924 in Wien. Aufgrund seiner Wahl ins italienische Parlament kehrt G. im Vertrauen auf den Schutz der Immunität im Mai 1924 nach Italien zurück und lebt die folgenden zwei Jahre in Rom. Sie stehen im Zeichen intensiver politischer (Untergrund-)Arbeit, bei großer persönlicher Einsamkeit in einer »nur von der Politik beherrschte Einöde«, wie es in einem Brief heißt. Im Mai 1925 hat der 34jährige seinen ersten und einzigen parlamentarischen Auftritt, bei dem er sich Mussolini direkt gegenüberstellt und das Regime demaskiert. Trotz zunehmender Bedrohung lehnt G. eine Flucht ins Ausland ab. Im November 1926 wird er von den Faschisten verhaftet und nach zweijähriger Untersuchungshaft in einem großangelegten Schauprozeß zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt.
»Ich bin von der Idee besessen, daß man etwas vollbringen müsse, was für ewig ist.« – In den Jahren der Haft entstehen die Quaderni del carcere, die Gefängnishefte, die G. bis heute zum bedeutendsten marxistischen Theoretiker Italiens machen. Diese 32 Hefte, insgesamt etwa viertausend Schreibmaschinenseiten, die vollständig seit 1991 auch auf deutsch erscheinen, sind ein immenses Laboratorium von Notizen und Entwürfen, die großenteils unausgeführt bleiben mußten. Ihre durchgängige Absicht läßt sich umschreiben mit den Worten: Erneuerung des Marxismus als »Philosophie der Praxis«, womit G. in der Linie des westlichen Marxismus der 20er Jahre steht (Ernst Bloch, Georg Lukács, Karl Korsch). Zu Recht wurde G. aber auch in Bezug zu Mao Tse-tung gesetzt, da es ihm immer um das Begreifen der geschichtlichen Wirklichkeit (s)eines Landes geht, von der Alltagssprache über Sitten und Gebräuche, Schulwesen und Kirchen bis in die Verästelungen der Philosophie. Indem G. »Herrschaft« nicht abstrakt, sondern vor allem als Konsens der Beherrschten begreift, rückt so die Kultur in den Brennpunkt der Analyse: »Eine herrschende Klasse (d.h. einen Staat) zu schaffen, kommt der Schaffung einer Weltanschauung gleich.« Dabei gilt seine besondere Aufmerksamkeit der geschichtlichen Funktion der Intellektuellen und hier wiederum des exemplarischen »großen« Intellektuellen, Benedetto Croce, dessen Philosophie des geschichtlichen Handelns er einerseits als Voraussetzung für die Erneuerung des Marxismus begreift, andererseits aber als »eine Form des politisch gemäßigten Konservativismus« kritisiert. Für diese Untersuchungen entwickelt G. in den Gefängnisheften den Begriff der »Hegemonie«, der sowohl die politische und militärische Herrschaft einer Klasse als auch ihre intellektuell-moralische Führung umfaßt. Die Tätigkeiten des politischen Publizisten, Arbeiterlehrers, Parteipolitikers und Theoretikers G. fließen in der Überzeugung zusammen, daß jeder Revolution eine intensive Umwälzung der kollektiven Weltanschauung vorausgehen muß. Genauer: die Aufgabe der Revolution ist zu begreifen als dieser Prozeß. – Da ihm das Regime eine angemessene ärztliche Behandlung versagt, sind die Jahre der Haft Jahre des zunehmenden körperlichen Verfalls im Zeichen von Tuberkulose, nervlicher Überreizung, Angina pectoris, Arteriosklerose. G. lehnt jedes Gnadengesuch ab, da dies ihm als moralisch-politische Kapitulation erscheint. Im November 1932, zum zehnten Jahrestag der Regierung Mussolinis, wird seine Strafzeit auf 12 Jahre und vier Monate reduziert. Durch die Gründung eines Befreiungskomitees 1933 in Paris und aufgrund des internationalen Drucks wird Ende 1933 die Überführung in eine Privatklinik in Formia und im Oktober 1934 die bedingte Freilassung gewährt. Doch bereits wenige Tage nach Ablauf der Strafzeit stirbt G. im Alter von 46 Jahren.
Baratta, Giorgio: Das dialogische Denken Antonio Gramscis. Frankfurt am Main/Berlin usw. 2003. – Losurdo, Domenico: Der Marxismus Antonio Gramscis: von der Utopie zum kritischen Sozialismus. Hamburg 2000. – Fiori, Giuseppe: Das Leben des Antonio Gramsci. Berlin 1969.
Christoph Helferich
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