Metzler Philosophen-Lexikon: Guattari, Félix
Geb. 30. 3. 1930 in Villeneuve-les-Sablons;
gest. 29. 8. 1992 in Cour-Cheverny
G. wird gern in Personalunion mit dem Philosophen Gilles Deleuze als »Deleuze/Guattari« gehandelt; das beruht auf der Tatsache, daß er sein vielleicht wichtigstes Buch Anti-– dipe (1972; Anti-Ödipus) und dessen zweiten Teil Mille plateaux (1980, Tausend Plateaus) zusammen mit Deleuze verfaßte. Eine symptomatische Geste, wenn man bedenkt, daß Anti-Ödipus sich explizit gegen einen festgelegten Subjektbegriff wendet: »Wir haben Anti-Ödipus zu zweit geschrieben. Da jeder von uns schon mehrere war, ergab das schon eine ganze Menge.«
Nach seinem Pharmazie- und Philosophiestudium wurde G. Psychoanalytiker, zunächst als Schüler Jacques Lacans. Auch wenn sich die Argumentation in Anti-Ödipus innerhalb Lacanscher Begriffsnetze entwickelt, setzt er sich schon dort dezidiert von der klassischen Psychoanalyse ab. Seit 1953 arbeitet G. als Psychoanalytiker an der alternativen Klinik »La Borde« in Cour-Cheverny. Während der 68er-Bewegung nahm er eine exponierte Stellung innerhalb der kommunistischen Linken ein, so daß viele seiner theoretischen Konzepte auf dem Hintergrund des damaligen politischen und sozialen Aufbegehrens zu lesen sind. Neben Anti-Ödipus veröffentlichte er Psychoanalyse et transversalité (1972; Psychotherapie, Politik und die Aufgabe der institutionellen Analyse), La Révolution moléculaire (1977), L inconscient machinique (1978), Pratique de l institutionnel et politique (1985), Les Années d hiver (1986), Cartographies schizoanalytiques (1989), Les Trois écologies (1989; Die drei Ökologien) und Chaosmose (1992). In diesen Schriften entwickelt er seine Vorstellung eines materialistischen, grundsätzlich positiven, außerhalb des psychoanalytischen Verdrängungsmechanismus definierten »maschinellen Unbewußten«, dessen rein funktionale und »bedeutungslose« Systematik er mit sozialen Revolutionstheorien verband. Er ist Mitbegründer der Zeitschrift Recherches, aktives Mitglied des »Centre d’Initiative pour des Nouveaux Espaces de Liberté« und lehrte am »Collège de Philosophie« in Paris. Mit Deleuze verfaßte er außerdem Bücher über Kafka (Kafka: pour une littérature mineure, 1975; Kafka, für eine kleine Literatur) und die Philosophie (Qu est-ce que la philosohie?, 1991; Was ist Philosophie?), und mit Toni Negri veröffentlichte er Les Nouveau Espaces de Liberté (1985).
Die Zusammenarbeit von Deleuze und G. in Anti-Ödipus ergibt eine Mischung aus Philosophie und Psychoanalyse: Vitalistische und von Nietzsche ausgehende Tendenzen der Philosophie Deleuzes verbinden sich mit einer »Psychoanalyse der Psychoanalyse« auf seiten von G. zu einer grundlegenden Kritik klassischer Denkschemata und Wissenschaftstheorien. Obwohl eines ihrer Grundthemen das »nomadenhafte Denken« ist, sind G. und Deleuze geographisch sowie intellektuell eher seßhaft und stark in einer spezifisch französischen Denktradition verwurzelt, die auch eine Reihe anderer einflußreicher Denker in und um Paris bestimmt. Der Gruppe von Strukturalisten, als deren wichtigste Vertreter Claude Lévi-Strauss und Ferdinand de Saussure zu nennen wären, folgt in den 50er Jahren eine Generation von Autoren, die sich kritisch mit den strukturalistischen Systematisierungen auseinandersetzt und deren herausragende Vertreter der Kulturarchäologe Michel Foucault – er schrieb auch das Vorwort zu Anti-Ödipus –, der Exegetiker Freuds Jacques Lacan und der Semiologe Roland Barthes sind. Sie fungieren als Scharnier zwischen den Strukturalisten und einer Gruppe von Poststrukturalisten – wie dem Soziologen Jean Baudrillard, dem Philosophen und Kunstkritiker Jean-François Lyotard und dem Philosophen Jacques Derrida –, welche die streng hierarchischen Systematisierungen der Strukturalisten zu einem Spiel von divergierenden und simultan nebeneinander bestehenden Strukturen aufbrechen und als deren erste wahre Vertreter Deleuze und G. gelten können. Besonders in der deutschen Rezeption wurden sie jedoch oft als »Deliranden« und »Schwätzer« etikettiert und abgetan.
Ihr Buch Anti-Ödipus nimmt innerhalb dieser Entwicklung eine Schlüsselstellung ein und ist, was seinen bewußt antiwissenschaftlichen Stil wie auch den Inhalt angeht, das erste große poststrukturalistische Pamphlet. Schon der Untertitel – Kapitalismus und Schizophrenie – läßt erkennen, in welchen Bereichen ihre Kritik ansetzt. Aus einer Diskussion der psychoanalytischen Thesen Lacans und der Strukturalisten heraus entsteht anhand einer neo-marxistischen Analyse das Bild eines Unbewußten, das sich von der psychischen Determination der klassischen Psychoanalyse gelöst hat und nicht länger ödipalen Zwängen und Bestimmungen unterworfen ist. Mit dieser Befreiung entsteht das Modell des Unbewußten als lediglich sozial definiertes »maschinelles Aggregat«. Dessen Utopie sehen Deleuze und G. in einer polymorphperversen »Wunschmaschine«, in der »Triebe, Ströme und Intensitäten« frei zirkulieren können und in dessen Dynamik der reinen Begierde sich das Subjekt in Staub auflöst. Diese Wunschmaschinen sind in ihren gesellschaftlichen Einbindungen jedoch von einer Vielzahl »repressiver Formationen« umlagert, zu denen G. auch die klassische Psychoanalyse mit ihrer Ausrichtung auf das Subjekt zählt. Für ihn sind es diese »sozialen Zwangsbeschriftungen«, die den Menschen erst zu dem machen, was man ein Subjekt nennt. Seine »Schizo-Analyse« zielt darauf ab, mit diesen »individualisierten Formen der Subjektivierung des Unbewußten« zu brechen und durch Veränderung der sozialen Strömungen selbst zu einer neuen Subjektivität zu gelangen. Das System der Schizophrenie, in dem sich alle psychischen und sozialen Systematisierungen »verquirlen«, wird dabei zur Gegenutopie des fremdbestimmten, kapitalistischen und familiären Zwängen unterworfenen Subjekts. Innerhalb der Bewegung der internationalen Anti-Psychiatrie (Ronald Laing, David Cooper, Franco Basaglia), aber gegen deren Mystifizierungen und Privatisierungen gerichtet, versucht G. in seiner Klinik »La Borde«, eine theoretische Variante der »revolutionären, psychiatrischen Praxis« zu entwickeln; diese wendet sich insbesondere gegen die Mitschuld der »psychiatrischen Repression und den anderen Formen der Repression«, wie sie sich in den hierarchischen, zentralisierten und »viskosen« Organisationsformen der institutionellen Psychiatrie niederschlägt. Die »geschlossene Anstalt« der Psychiatrie bringt er dabei mit dem Gefängnis in Verbindung, beides »Institutionen des Einschlusses«, durch deren Reglementierungen das Subjekt letztlich denselben Zwängen unterworfen wird, an denen es bereits im sozialen Umfeld gescheitert ist.
Gegen diese starren (»molaren«) Bürokratiemaschinerien stellt G. in »La Borde« kleine (»molekulare«), polyzentrische Selbstverwaltungsformen und Kollektive, deren Mitglieder in einem durchlässigen System netzartig (»rhizomatisch«) ein »Arbeitsfeld« überspannen, welches durch das ständige Spiel von Gruppenauflösungen und Gruppenbildungen (»Deterritorialisierungen« und »Reterritorialisierungen«) dynamisiert wird. Nur innerhalb einer solchen offenen Strukturierung des sozialen Raums, so glaubt G., kann man zu einem Unbewußten gelangen, das »schöpferisch und konstruktiv ist, nicht an die Vergangenheit gebunden oder auf universell geschichtete Komplexe fixiert«: In einem Rückgriff auf die Chaostheorie, insbesondere in der Ausprägung Ilya Prigogines und Isabelle Stengers’, und die Katastrophentheorie René Thoms, entwickelt er dabei in den 80er Jahren das Konzept einer ethisch-politischen und ästhetischen »Ökosophie« und beschäftigt sich mit der Entwicklung neuer »heterogener, diverser und dissensueller Wert-Attraktoren«, die den profitgesteuerten, strukturstabilen Mechanismus des »Weltweit Integrierten Kapitalismus« durchkreuzen, und so erneut die Möglichkeit einer morphogenetischen, »reich-facettierten«, instabilen, inhärent chaotischen Dynamik (»Heterogenese«) eröffnen; einem Feld, in dem, wie der Titel des zweiten Teils von Anti-Ödipus (Mille plateaux, 1980; Tausend Plateaus) andeutet, das Denken nicht in genau vorbestimmten Bahnen und Schemata abläuft, sondern auf »tausend Ebenen« zugleich.
Massumi, Brian: A User’s Guide to Capitalism and Schizophrenia. Cambridge 1992. – Altwegg, Jürg/Schmidt, Aurel: Französische Denker der Gegenwart. München 1987. – Frank, Manfred: Was ist Neostrukturalismus? Frankfurt am Main 1984.
Hanjo Berressem
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