Metzler Philosophen-Lexikon: Habermas, Jürgen
Geb. 18. 6. 1929 in Düsseldorf
Der Sozialphilosoph H. ist ein beharrlicher Aufklärer. Immer hat er sich in politisch brisanten Situationen eingemischt und Diskussionen auf hohem intellektuellen Niveau geführt, bereits in der Adenauer-Ära, dann anläßlich der Notstandsgesetze, in der Studentenbewegung, bei der Hochschulreform, später in der gefährlichen Pogromstimmung des deutschen Herbstes von 1977, bei den NATO-Beschlüssen zur Nachrüstung, im Historikerstreit, in dem es wieder einmal um unsere unzulänglich aufgearbeitete Vergangenheit ging, dann wieder bei der deutschen Vereinigung, im Irak-Krieg, beim NATO-Einsatz in Jugoslawien und zuletzt in der Gentechnik-Debatte. Auch seine wissenschaftlichen Werke zur Gesellschaftstheorie waren politisch motiviert.
H. wuchs in einer Zeit auf, in der die Menschen sich dem Konformitätsdruck der Nazi-Ideologie beugten, um das zu tun und zu denken, was andere nicht störte und was opportun war. Aus dieser persönlichen Erfahrung resultierten seine sozialphilosophischen Forschungen, die von der Feststellung ausgingen, daß sich in der Zeit der Aufklärung das Modell des Vernunftgebrauchs in bürgerlicher Öffentlichkeit entfaltete. H. stellte sich die Frage, wie dieses Modell derartig ausgezehrt werden konnte, daß der Stumpfsinn des Nationalsozialismus obsiegte. Dieses Problem behandelte er in seinem ersten wissenschaftlichen Buch Strukturwandel der Öffentlichkeit von 1961, das zugleich seine von Wolfgang Abendroth geförderte Habilitationsschrift an der Universität Marburg war. Über diese Studie hatten H.’ Lehrer, Horkheimer und Adorno, gegensätzliche Ansichten. H. war von 1956 bis 1959 Forschungsassistent am Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main. H. war in Horkheimers Augen zu parteiisch, zu links. H. setze auf gesellschaftliche Veränderungen statt auf Etablierung im Fach, meinte Horkheimer. H. kündigte daraufhin am Institut für Sozialforschung. Damit hatte Horkheimer sein Ziel erreicht, H. »loszuwerden, der seiner Ansicht nach die Mitarbeiter des Instituts zum Klassenkampf im Wasserglas aufgewiegelt hatte« (Rolf Wiggershaus).
H.’ Rezept gegen einen erneuten Verfall bürgerlicher Öffentlichkeit war die hochaufmerksame Wachheit in bezug auf das politische Geschehen, die bei ihm nie nachließ. Sein sozialphilosophisches Interesse war darauf gerichtet, die Ursachen für die negativen Effekte des technischen Fortschritts aufzuspüren. Dabei war er zunächst an Heidegger orientiert. Heidegger hatte bei seiner geschichtlichen Betrachtung zwar die Entwicklung gesehen, die zum rechnenden und auf Beherrschung zielenden Denken führte, das gleichzeitig sich entfaltende moralische Bewußtsein hingegen nicht. Letzteres kann nach H. als Korrektiv des technisch-instrumentellen Denkens wirken. Das moralische Denken als Korrektiv des technischen wurde darum fortan Gegenstand H.scher Untersuchungen.
H.’ Forschungsgegenstand konnte man folglich als »Dialektik der Rationalisierung« bezeichnen, aber nicht mit dem ausschließlich negativen Ergebnis der Dialektik der Aufklärung seiner Lehrer Horkheimer und Adorno. H. legte sein Forschungsdesign im Gegensatz zu seinen Lehrern als Dreischritt an: Das Ideal einer gerechten Gesellschaft war der normative Maßstab seiner soziologischen Analysen; zweitens müsse offenbart werden, welche Mechanismen in der unzulänglichen Gesellschaft deren Weiterentwicklung zu einer gerechten verhinderten, und drittens müsse das Entwicklungspotential aufgezeigt werden, das auf dem Weg zu einer gerechteren Gesellschaft zu entfalten sei.
Für H. war demnach klar, daß beide Stränge, die positiven wie die negativen Auswirkungen des Rationalisierungsprozesses, verfolgt werden müssten, um eine valide Gesellschaftstheorie entwerfen zu können. Das führte ihn in seiner Schrift Technik und Wissenschaft als Ideologieˆ (1968) zunächst zur Unterscheidung von Arbeit und Interaktion. Das war bereits in der Zeit, da er nach einer Zwischenstation an der Universität Heidelberg von 1964 bis 1971 Professor in Frankfurt am Main war, pikanterweise als Nachfolger von Max Horkheimer. – Die Arbeit im Kapitalismus – so H.’ These – ist bestimmt durch den technisch-instrumentellen Rationalisierungstypus, den man auch als zweckrationales Handeln zu bezeichnen pflegte. Demgegenüber steht die normative Rationalität, die am besseren Argument, das vorgetragen wird, orientiert ist. Damit waren erstmals die beiden gesellschaftlichen Bereiche benannt, die zum Zentrum seiner Gesellschaftstheorie in seinem zweibändigen Hauptwerk Theorie des kommunikativen Handels (1981) wurden, das ihn weltberühmt machen sollte und ihm viele Ehrungen bescherte. Zu dieser Zeit war er Direktor des »Max-Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt«, später »Max-PlanckInstitut für Sozialwissenschaften« in Starnberg, wo H. von 1971 bis 1983 war, bevor er als Professor für Philosophie an die Frankfurter Universität zurückkehrte.
Der Inhalt seiner in diesem Buch entfalteten Gesellschaftstheorie ist folgender: Jede moderne Gesellschaft hat zwei Sphären. Auf der einen Seite steht eine durch Kommunikation bestimmte Lebenswelt, auf der anderen die durch instrumentelle Rationalität bestimmte Welt der Systeme, die ein Eigenleben entwickelt und die Menschen beherrscht. Hier finden wir erste Übernahmen aus den Analysen der Luhmannschen Systemtheorie, die H. nach einer intensiven Auseinandersetzung mit Luhmann, in seine Gesellschaftstheorie zu integrieren suchte. Die Lebenswelt ist in H.’ Gesellschaftstheorie ein Komplement zu den Systemen. Die Möglichkeit der Integration der individualisierten Einzelnen zeigt H. mit Hilfe des Begriffs der Lebenswelt. Der Begriff taucht in seiner Theoriebildung sehr früh auf, in dem Buch Zur Logik der Sozialwissenschaften (1967). Dort sagt er, es müsse einen wissenschaftlich-stringenten Zugang zum gesellschaftlichen Normsystem geben. Dieser wird von H. Lebenswelt genannt. Sie enthält eine umfassende Komplexität von Hintergrundüberzeugungen, zu denen nicht nur die individuellen Fertigkeiten, sondern auch die kulturellen Erbschaften gehörten. »Soziales Handeln«, führt H. in Anlehnung an Max Weber fort, »ist eine Befolgung von Normen. Handlungsbestimmende Normen sind kollektive Verhaltenserwartungen. Diese Erwartungen sind ein für das institutionalisierte Handeln relevanter Ausschnitt der kulturellen Überlieferung. Diese ist ein Zusammenhang von Symbolen, der das umgangssprachlich artikulierbare Weltbild einer sozialen Gruppe und damit den Rahmen für mögliche Kommunikationen in dieser Gruppe festlegt.« Und hier schon wird eine für die H.sche Theoriebildung wichtige Vorentscheidung getroffen, daß der Bezugsrahmen für die Entfaltung des Begriffs der Lebenswelt nicht das soziale Handeln schlechthin sei, sondern das kommunikative Handeln, das sprachliche Handeln also. In Zur Logik der Sozialwissenschaften heißt es: »Noch ist Sprache nicht als das Gespinst durchschaut, an dessen Fäden die Subjekte hängen und an ihnen zu Subjekten sich erst bilden.« Sprachanalyse wird im kommenden Jahrzehnt die zentrale Aufgabe in der H.schen Theoriebildung.
Was aber ist die Lebenswelt, auf die sich nach H.’ Ansicht alle Gesellschaftsmitglieder beziehen? Die Menschen vollziehen kommunikative Handlungen bzw. soziale Interaktionen. Damit diese möglich sind und nicht mißlingen, müssen sich die Gesellschaftsmitglieder auf eine von ihnen geteilte Lebenswelt beziehen. Und gleichviel, ob die kommunikativen Handlungen eine explizit sprachliche Form annehmen oder nicht, sind sie auf einen Kontext von Handlungsnormen und Werten bezogen, die die Gesellschaft ausmachen. Diesen Kontext nennt H. Lebenswelt. Ohne diesen normativen Hintergrund von Routinen, Rollen, soziokulturell eingeübten Lebensformen oder kurz: den Konventionen, die alle in Sprache »konserviert« sind, bliebe die einzelne Handlung unbestimmt. Die Lebenswelt ist für ihre Bewohner deshalb von so hoher Selbstverständlichkeit, weil man sie sich nicht ständig bewußt macht. Die natürlichen Sprachen konservieren die kulturellen Evidenzen, in ihr haben sie ihren Bestand. »Der lebensweltliche Hintergrund besteht aus individuellen Fertigkeiten, dem intuitiven Wissen, wie man mit einer Situation fertig wird, und aus sozial eingelebten Praktiken, dem intuitiven Wissen, worauf man sich in einer Situation verlassen kann, nicht weniger als aus den trivialerweise gewußten Hintergrundüberzeugungen.« Die semantische Kapazität einer Sprache muß der Komplexität der gespeicherten kulturellen Inhalte in Deutungs-, Wert- und Ausdrucksmustern angemessen sein.
Alle kommunikativen Handlungen erfüllen oder verletzen normativ festgeschriebene soziale Erwartungen und Konventionen. Durch den Bezug auf das gemeinsame Hintergrundwissen bilden nach H. die Individuen mit der Gesellschaft eine Einheit. Über dieses Hintergrundwissen, das H. Lebenswelt nennt, geschieht also die Sozialintegration. Er sagt dazu: »Das Konzept des verständigungsorientierten Handelns hat den weiteren und ganz anderen Vorzug, daß es diesen Hintergrund impliziten Wissens beleuchtet, welches a tergo in die kooperativen Deutungsprozesse eingeht. Kommunikatives Handeln spielt sich innerhalb einer Lebenswelt ab, die den Kommunikationsteilnehmern im Rücken bleibt. Diesen ist sie nur in der präreflexiven Form von selbstverständlichen Hintergrundannahmen und naiv beherrschten Fertigkeiten präsent. Wenn die sozio-, ethno- und psycholinguistischen Untersuchungen des letzten Jahrzehnts in einem konvergieren, dann ist es die vielfältig demonstrierte Erkenntnis, daß das kollektive Hintergrund- und Kontextwissen von Sprechern und Hörern die Deutung ihrer expliziten Äußerungen in außerordentlich hohem Maße determiniert. Es ist ein implizites Wissen, das nicht in endlich vielen Propositionen dargestellt werden kann; es ist ein holistisch strukturiertes Wissen, dessen Elemente aufeinander verweisen; und es ist ein Wissen, das uns insofern nicht zur Disposition steht, als wir es nicht nach Wunsch bewußt machen und in Zweifel ziehen können.« Dieses Wissen macht das aus, was H. Lebenswelt nennt. Die »strukturellen Komponenten der Lebenswelt [sind] Kultur, Gesellschaft und Person. Kultur nenne ich den Wissensvorrat, aus dem sich die Kommunikationsteilnehmer, indem sie sich über etwas in einer Welt verständigen, mit Interpretationen versorgen. Gesellschaft nenne ich die legitimen Ordnungen, über die die Kommunikationsteilnehmer ihre Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen regeln und damit Solidarität sichern. Unter Persönlichkeit verstehe ich die Kompetenzen, die ein Subjekt sprach- und handlungsfähig machen, also instandsetzen, an Verständigungsprozessen teilzunehmen und dabei die eigene Identität zu behaupten.«
Der Sinn der Begriffsbildung »Lebenswelt« liegt auch noch in einer anderen Dimension. H. will System und Lebenswelt miteinander verknüpfen, um des alten Problems Herr zu werden, an dem schon Karl Marx und Max Weber gescheitert sind. Sie wollten beide eine von Menschen bewußt gesteuerte Gesellschaftsentwicklung postulieren, stellten aber im Verlauf ihrer Analyse fest, daß die Hermetik der gesellschaftlichen Selbstreproduktion, was einem System im Sinne Luhmanns sehr nahe kommt, einen menschlichen Eingriff mit dem Ziel der teleologisch-positiven Gesellschaft ausschließt. Die Möglichkeit des handelnden Eingriffs sieht H. weiterhin gewahrt, trotz dieser Systembildungen in modernen komplexen Gesellschaften und der zunehmenden Kolonialisierung der Lebenswelt durch die Systeme. Beides zusammen, System und Lebenswelt, stellt für H. die Gesellschaft dar. Dies einmal konstatiert, muß er nun das Zusammenspiel beider Elemente der modernen Gesellschaft zeigen.
H. will dafür zunächst analysieren, wie Systeme aus der Lebenswelt heraus entstehen. Er begreift die Entkopplung von System und Lebenswelt als einen evolutionären Differenzierungsvorgang. Als Ausgangspunkt des historischen Entkopplungsprozesses nimmt er die Verschränkung von System- und Sozialintegration bei Stammesgesellschaften an. Es entwickeln sich Mechanismen, die den evolutionären Prozeß der Entkopplung vorantreiben. Sinn dieses Prozesses ist es, den bei zunehmender Komplexität überforderten Mechanismus sprachlicher Verständigung durch entsprachlichte Kommunikationsmedien zu ersetzen. Komplexer und immer komplexer werdende Gesellschaften müssen zwei Risiken in der Lebenswelt zu vermeiden suchen: »Das Risiko der fehlschlagenden Verständigung, also des Dissenses oder des Mißverständnisses, und das Risiko des fehlschlagenden Handlungsplanes, also des Mißerfolges.« Es entsteht in komplexen Gesellschaften ein immer dichter werdendes Netz von Interaktionen, die der unmittelbaren normativen Steuerung entbehren. Dabei sieht H. im Prozeß evolutionärer Entwicklung zwei Arten von Entlastungsmedien entstehen: die Kommunikationsmedien und die Steuerungsmedien. Als Beispiele für Kommunikationsmedien nennt er Schrift, Druckerpresse, elektronische Medien. Sie entlasten die Kommunikation nur in erster Instanz von Ja/Nein-Stellungnahmen zu kritisierbaren Geltungsansprüchen, denn sie ermöglichen die Bildung von Öffentlichkeit, werden somit an kulturelle Überlieferung angeschlossen und sind in letzter Instanz vom Handeln zurechnungsfähiger Aktoren abhängig. Neben den Kommunikationsmedien entstehen die Steuerungsmedien Macht und Geld. Bei ihnen wird ein Rückgriff auf die Lebenswelt für die Koordinierung von Handlungen nicht mehr benötigt. Sie regulieren ganz im Luhmannschen Sinne sich selbst. Sie sind autopoietische Systeme. H. will auf diese Weise die Systemtheorie in seine vom kommunikativen Handeln ausgehende Gesellschaftstheorie integrieren und sieht als Ergebnis eine Gesellschaft, die bei steigender Komplexität in einem historisch zu verfolgenden Entkopplungsprozeß zu ihrer eigenen Entlastung Systeme aus sich entläßt, die sich verselbständigen und in die Lebenswelt zurückwirken. Das nennt er »Kolonialisierung der Lebenswelt«. Zur Konsequenz hat diese Formation eine real sich durchsetzende neue »Gewaltenteilung zwischen Markt, administrativer Macht und öffentlicher Kommunikation«.
H. zeigt anhand von Verrechtlichungsprozessen – wie er es nennt –, wie aus der Lebenswelt ein System erwächst, das dann wieder auf die Lebenswelt zurückwirkt. Diese Verrechtlichungsprozesse haben auf der einen Seite die Idee der Freiheit insofern eingelöst, als sie die Menschen im Zuge der Idee, daß gleiches Recht für alle zu gelten habe, aus vormodernen Gewalt- und Abhängigkeitsverhältnissen befreit haben. Auf der anderen Seite übernimmt das Recht aber die Rolle eines Steuerungsmediums. Die Subsysteme Wirtschaft und Staat werden immer komplexer und dringen tiefer in die symbolische Reproduktion der Lebenswelt mittels Verrechtlichungen ein. Je mehr Freizeit, Kultur, Erholung, Tourismus von den Gesetzen der Warenwirtschaft erfaßt werden und Schule die Funktion übernimmt, Berufs- und Lebenschancen zuzuteilen, desto stärker wird die Lebenswelt von Systemen bestimmt. Aber auch jetzt noch werden von H. die Ambivalenzen gesehen. Auf der einen Seite wird der Rechtsschutz erweitert, werden Schule und Familie der Willkür entzogen. Auf der anderen Seite werden Handlungsbereiche für bürokratische Eingriffe und gerichtliche Kontrollen geöffnet. Der Rechtsschutz wird mit einer tief in Lehr- und Lernvorgänge eingreifenden Justizialisierung und Bürokratisierung erkauft.
Ein anderes Phänomen, das H. darüber hinaus hervorhebt, ist die kulturelle Verarmung der Lebenswelt durch die Ausdifferenzierung der Wertsphären Wissenschaft, Moral und Kunst. Alle drei Wertsphären haben eine vergleichbare interne Geschichte, die darin besteht, daß in ihnen der Abstand zwischen den Experten-Kulturen und dem breitem Publikum wächst. Die Ursache für die kulturelle Verarmung der kommunikativen Alltagspraxis sei nicht die Ausdifferenzierung der Wertsphären, sondern die elitäre Abspaltung der Expertenkulturen von der Alltagspraxis. Dieses zweite Phänomen, die kulturelle Verarmung, tritt neben die Verdinglichung, die durch das Eindringen von administrativer und ökonomischer Rationalität in Handlungsbereiche erzeugt wird.
H. zeigt jedoch ebenso, daß sich eigensinnige kommunikative Strukturen den Systemimperativen widersetzen, so daß er unvoreingenommen Tendenzen und Gegentendenzen untersuchen kann. Für H. gehört es – wie schon gesagt – zu einer Gesellschaftstheorie zum einen, die Mechanismen zu ermitteln, die die Weiterentwicklung der Gesellschaft verhindern, und zum anderen, das gesellschaftliche Entwicklungspotential aufzuzeigen, das zu entfalten sei. Letzteres geschieht, wenn H. das Konfliktpotential beschreibt, das an den Nahtstellen von System und Lebenswelt entsteht, wenn sich kommunikative Strukturen nicht ohne pathologische Nebenwirkungen auf systemintegrative Mechanismen umstellen lassen. Treten solche Nebenwirkungen auf, kann sich gegen die systemische Vereinnahmung Protest entfalten: »Die alternative Praxis richtet sich (dann) gegen die gewinnabhängige Instrumentalisierung der Berufsarbeit, gegen die marktabhängige Mobilisierung der Arbeitskraft, gegen die Verlängerung von Konkurrenz- und Leistungsdruck bis in die Grundschule. Sie zielt auch gegen die Monetarisierung von Diensten, Beziehungen und Zeiten, gegen die konsumistische Umdefinition von privaten Lebensbereichen und persönlichen Lebensstilen.« Damit schließt sich der Kreis: H. konnte auf der Basis seiner wissenschaftlich ausgearbeiteten Gesellschaftstheorie zeigen, wie notwendig politische Aktivität ist. Daraus speiste sich sein Eifer für den Eingriff ins politische Tagesgeschehen, der bis heute nicht nachgelassen hat. H. hat sich in seiner Theoriebildung damit von Parsons abgegrenzt, dem er ein umfangreiches Kapitel in seiner Theorie des kommunikativen Handelns widmete. H. trägt nicht alles nur auf der Folie der Sozialintegration ab, was nach seiner Ansicht der Komplexität moderner Gesellschaft nicht entspricht, sondern er sieht auch die Mechanismen der Systemintegration.
Wie ein großer Teil der Soziologen vor ihm geht auch H. von der Überzeugung aus, daß es einen kontinuierlichen, fast gesetzmäßigen Geschichtsverlauf in Stadien gibt. Diese Stadien sind für ihn: neolithische Gesellschaften, frühe Hochkulturen, entwickelte Hochkulturen, Moderne. Sie sind gekennzeichnet durch immer höhere, entwicklungslogisch angeordnete Lernniveaus, entsprechend Jean Piagets Stufenmodell, das H. in seinem Buch Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus von 1976 ausführlich behandelte. Die Lernniveaus reichten also von mythischen Weltbildern bis hin zu rationalen.
H.’ Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen, an den Mechanismen also, die die Entwicklung der Gesellschaft zu einer gerechteren verhindern, begann sehr früh. Im 1958 geschriebenen Vorwort zu Student und Politik deckt H. die unüberbrückte Kluft zwischen Verfassungsidee und Verfassungswirklichkeit auf. Zur Verfassungsidee – so ist das Ergebnis – gehöre die von Kant angesprochene notwendige Orientierung des Gesetzgebers an der Herstellung individueller Freiheit. Gesetz und Rechtsprechung müssten stets den Sinn haben, dazu beizutragen, die menschliche Freiheit im Staat zu realisieren. Der demokratische Verfassungsstaat diene dazu, die Freiheit der Menschen zu steigern und sie Wirklichkeit werden zu lassen. Dieses Motiv nimmt H. in seiner Rechtstheorie erneut auf, die er 1992 mit Faktizität und Geltung vorlegte. Darin beklagt er die in der Realität zunehmende Aufhebung der Gewaltenteilung, die doch ein zentraler Bestandteil des demokratischen Staates sei und gewährleisten soll, daß die Macht im Staate nicht verdeckt oder offen mißbraucht werden kann. Eine immer undurchsichtiger werdende Diffusion der drei Elemente demokratiestaatlicher Gewaltenteilung, die die Entscheidungsbefugnisse der Legislative in steigendem Maße auf die anderen Instanzen verschiebt, besonders auf die Legislative in Gestalt des Bundesverfassungsgerichts, erfordere eine neue Theorie des Rechts. Kern dieser von H. hier vorgestellten Theorie bildet seine These von der Verfahrensrationalität: Nach H. können nur solche Rechtsnormen Gültigkeit erlangen, »denen alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen zustimmen könnten«. Hier, in seiner Diskurstheorie, wird – wie so oft in H.’ Theorie – seine Orientierung an Kant sichtbar. Kant ist der Auffassung, daß ein Gesetz nur dann gerecht sein könne, wenn das ganze Volk ihm zustimmt und es für gerecht hält.
Die H.sche Diskurstheorie besagt, daß alle verbindlichen gemeinschaftlichen Regeln, seien es nun moralische oder rechtliche, konsensual zustande kommen müßten. Diese Idee einer diskursiven Ethik läßt sich vor H.s lebensgeschichtlichem Hintergrund erklären. Er gehört zu der Generation, von der sein sieben Jahre älterer Freund Karl-Otto Apel einmal sagte, daß sie die »Zerstörung des moralischen Bewußtseins« selbst erlebt habe und die nach 1945 in dem »dumpfen Gefühl« lebte, daß alles falsch gewesen sei, für was man sich bis dahin eingesetzt habe. Bei allem guten Willen habe man auch keine »normativ verbindliche Orientierung für die Rekonstruktion der eigenen geschichtlichen Situation« finden können. H., der im kleinstädtischen Gummersbacher Milieu und einem durch Anpassung an die politische Umgebung geprägten Elternhaus aufwuchs, erlebte das Kriegsende im Alter von 15 Jahren. Erst da hätte ihm – wie er sagte – bewußt werden können, daß er bis dahin in einem politisch kriminellen System gelebt habe. Hatte H. zunächst die Hoffnung, daß grundlegende politische Änderungen eintreten würden, erlebte er in seiner Jugend statt dessen zwei große Enttäuschungen. Die eine war die Regierungsbildung von 1949, als H. gerade 20 Jahre alt war. Er hatte es nicht für möglich gehalten, daß ein Mann wie Hans-Christoph Seebohm, der durch sein Eintreten für eine nationalistische Politik und für Soldatenehreˆ politische Kontinuität verkörperte, in das erste Kabinett eines demokratischen Staates berufen würde. Die Befürchtung, daß ein wirklicher Bruch im politischen Denken nicht stattgefunden hatte, wurde durch die zweite Enttäuschung noch verstärkt. Sie wurde ausgelöst durch die Veröffentlichung der Heideggerschen Einführung in die Metaphysik von 1953. Dies war eine Vorlesung aus dem Jahre 1935, die ohne ein Wort der Erklärung 18 Jahre später veröffentlicht wurde. In seiner damaligen Stellungnahme dazu sagte H., daß inzwischen doch Zeit gewesen sei, sich mit dem, »was war, was wir waren« auseinander zu setzen. »Statt dessen veröffentlichte Heidegger seine inzwischen achtzehn Jahre alt gewordenen Worte von der Größe und der inneren Wahrheit des Nationalsozialismus, Worte, die zu alt geworden sind und gewiß nicht zu denen gehören, deren Verständnis uns noch bevorsteht.« Daß dies geschah, mußte H. um so mehr erschüttern, als er bis dahin in der Heideggerschern Philosophie gelebt hatte. Diese politischen Enttäuschungen motivierten H.’ Suche nach einer triftigen Gesellschaftsanalyse.
Joas, Hans/Honneth, Axel (Hg.): Kommunikatives Handeln. Beiträge zu Jürgen Habermas’ »Theorie des kommunikativen Handelns«. Erweiterte und aktualisierte Ausgabe. Frankfurt am Main 2002. – Schomberg, René von/Baynes, Kenneth (Hg.): Discourse and Democracy. Essays on Habermas. Between Facts and Norms. Albany 2002. – Aboulafia, Mitchell/Bookman, Myra/Kemp, Cathy (Hg.): Habermas and Pragmatism. London 2001. – Günther, Klaus/Wingert, Lutz (Hg.): Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit. Frankfurt am Main 2001. – Paetzelt, Ulrich: Kunst und Kulturindustrie bei Adorno und Habermas. Wiesbaden 2001. – Müller-Doohm, Stefan (Hg.): Das Interesse an Vernunft. Rückblicke auf das Werk von Jürgen Habermas seit »Erkenntnis und Interesse«. Frankfurt am Main 2000. – Honneth, Axel: Jürgen Habermas. In: Dirk Kaessler (Hg.): Klassiker der Soziologie, Bd. 2. München 1999, S. 230–251. – Beer, Raphael: Zwischen Aufklärung und Optimismus. Vernunfttheorie und Gesellschaftstheorie bei Jürgen Habermas. Wiesbaden 1999. – Horster, Detlef: Jürgen Habermas. Stuttgart 1991.
Detlef Horster
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