Metzler Philosophen-Lexikon: Hemsterhuis, Frans (François)
Geb. 27. 12. 1721 in Franeker/Friesland;
gest. 7. 7. 1790 in Den Haag
Für die große Zeit der deutschen Geistesgeschichte ist er eine Figur ersten Ranges. Nicht nur Goethe, der ihn 1785 in Weimar kennengelernt hatte, behält den »fein gesinnten« Niederländer zeitlebens zustimmend in Erinnerung. Während der gesamten Epoche, deren verschiedene Schübe mit dem Sturm und Drang beginnen, verwandelt man H.’ Gedanken deutend und fortschreibend an. Kaum einer der wichtigen Namen fehlt dabei, von Herder, Hamann, Lichtenberg, Lessing und Friedrich Heinrich Jacobi angefangen, über Schiller, Hölderlin und Jean Paul bis hin zur Theoriebildung der Frühromantik durch Novalis, die Brüder Schlegel, Schleiermacher oder Schelling. Dieser ungewöhnliche Widerhall des »Plato unseres Jahrhunderts« (Georg Forster) spiegelt den Umbruch der geistigen Situation am Ausgang der Aufklärung. Dem Bedürfnis nach ihrer produktiven Überschreitung hat er in der Tat einige suggestive Stichworte angeboten. H. ist ein Spätentwickler. Von einer geringfügigen Ausnahme abgesehen erscheinen alle seine Schriften in den beiden letzten Lebensjahrzehnten. Gemeinsam ist ihnen, daß es sich um schmale Bändchen handelt, auf Französisch verfaßt, die er nur in kleinen Auflagen als Privatdrucke herausbringt. Ausschließlich für den Kreis seiner Freunde und Bekannten sollten sie bestimmt sein.
Der Sohn eines bekannten Altphilologen studierte an der Universität Leiden, wo sein Vater 1740 Professor für Griechisch geworden war, insbesondere Mathematik sowie Physik und Astronomie, die ihn – als international anerkannte Autorität zumal in der praktischen Optik – das ganze Leben hindurch beschäftigen. Nachdem sich die Aussicht auf einen philosophischen Lehrstuhl in Leiden zerschlägt, wird er Beamter beim niederländischen Staatsrat in Den Haag. Von dem Amt, das ihm hinreichend Muße zur Vertiefung seiner Gelehrsamkeit läßt, entbindet man ihn 1780 auf eigenen Wunsch. Fünf Jahre zuvor hatte der Junggeselle die folgenreichste Freundschaft seines Lebens geschlossen: mit Amalia von Gallitzin, der 27 Jahre jüngeren, vielseitig gebildeten Frau des russischen Gesandten in den Niederlanden. Als seine »Diotima«, die den Formenwandel seiner eigenen Schriften vom philosophischen Brief zum Dialog nach Platonischem Vorbild beeinflußte, 1779 nach Münster übersiedelt (wo sie als Mittelpunkt einer »Familia Sacra« von Intellektuellen keinen unbeträchtlichen Einfluß ausübt), bleibt er mit ihr im regelmäßigen, sehr ausführlichen Briefwechsel. Mehrmals besucht er sie auch, zuletzt im Sommer 1788. Von der schweren Erkrankung, die er sich dort zuzieht, ist er nicht mehr genesen. Eine Gesamtausgabe seiner – uvres philosophiques erscheint bereits zwei Jahre nach seinem Tod. In einem beigegebenen Kommentar wird ausdrücklich hervorgehoben, daß H. »auf seinen freien Wanderungen der kritischen Philosophie« Kants schon »auf mehr als einer Stelle begegnet« sei – ein in Grenzen durchaus zutreffendes Urteil.
Auffallendstes Kennzeichen seines Denkens aber ist die Ebenbürtigkeit von Intuition und rationaler Exaktheit, die auf eine Verteidigung unausgeschöpfter Wirklichkeitszugänge hinausläuft. Vor allem in den späteren Schriften seit Sophyle ou de la philosophie (1778) stößt man auf eine entschiedene Aufwertung des Gefühls für die philosophische Erkenntnis: »Ich fühle, folglich bin ich«, heißt es, die Gewißheitsmaxime von Descartes subversiv parallelisierend, in einem Vorentwurf zu diesem Text. Später, in Alexis ou de l age d or (1787), wo sich die wichtigsten Tendenzen von H.’ Philosophie bündeln, wird dem »Enthusiasmus« all jene Stimmigkeit zugesprochen, wie sie der Verstand zu geben vermag. Am gleichen Ort entfaltet H. auch seine geschichtsphilosophisch ungemein wirksame Vorstellung von der Wiederkehr eines goldenen Zeitalters: Die (bei ihm mit einer klimatheoretischen Hypothese begründete) Auffassung, aus einem paradiesischen Anfangszustand gefallen zu sein, verbindet er mit dem Gedanken der Bewußtseinsentwicklung, durch die die Menschheit auf höherer Ebene wieder zu ihrem Ursprung zurückfinden könne.
Sein umfangreichstes Werk, der Lettre sur l homme et ses rapports (1772), übergibt H. Diderot zur kritischen Durchsicht (in der sich die Diskrepanz zwischen dem aufgeklärten Materialismus und H.’ Entwurf einer unverkürzten menschlichen Erfahrung beispielhaft zeigt). Er behandelt darin das Weltverhältnis des Menschen, seine Stellung im Kosmos, und entwickelt gegen das lineare Fortschrittsdenken die Idee einer jeweils eigene Beschränkungen und Kulminationen hervorbringenden Vielgestaltigkeit des geschichtlichen Lebens. Besonders ausführlich widmet sich H. den verschiedenen Vermögen der menschlichen Seele (Simon ou des facultés de l ame, 1781/1792): Zu den Konstitutiva der Willenskraft, der Imagination und des Verstandes tritt bei ihm noch etwas anderes hinzu, das von einem Bereich des Universums kündet, der jenseits sensualistischer Wahrnehmbarkeit wie rationaler Ordnung liegt und als dessen Teil die Seele sich erlebt. H. nennt diese Anlage »moralisches Organ«, ein »Prinzip, das allein die Personalität des Menschen ausmacht«. Den Verweis hierauf hat er selbst seine bedeutendste philosophische Leistung genannt.
Im Streben nach vollkommener Harmonie dieser elementaren Dispositionen bestehe die ethische Aufgabe des Menschen. Darüber hinaus erhebt eine platonisch inspirierte Eros-Konzeption (Lettre sur les désirs, 1770) das Streben nach Vereinigung zum universalen kosmischen Prinzip. Dieses eröffnet neue Dimensionen für die Erfahrung der Wirklichkeit Gottes (Aristée ou de la divinité, 1779), der bei H. nicht nur Urheber des Universums im Sinne des Deismus ist, sondern eine unmittelbar als anziehend empfundene große Kraft, die das All durchdringt und die Einheit von Natur und Mensch, Schönheit und Sittlichkeit bewirkt. Die Geltung bestehender Religionen lehnt
H.’ hingegen ab. Seine letzte Schrift, Lettre de Dioclès a Diotime, sur l athéisme (1787), ein auf Veranlassung Jacobis überarbeiteter Brief an Amalia von Gallitzin, gehört in den Kontext von dessen Auseinandersetzung mit dem Spinozismus Lessings, der in Aristée – wohl zu unrecht – entsprechende Tendenzen hineingelesen hatte. Jedenfalls verwahrt der Verfasser selbst sich gegen diese Interpretation.
H.’ Beitrag zur Ästhetik ist bereits in seiner frühesten Veröffentlichung grundgelegt, der Lettre sur la sculpture (1769). Die Idee des Schönen beinhaltet für ihn die Wahrnehmung eines Mannigfaltigen als Einheit. Im ästhetischen Erkennen vollzieht sich wesentlich die Begegnung der Seele mit ihrem eigenen transzendenten Ursprung. Zum einzig angemessenen Ausdruck dieses Prozesses erklärt Alexis ou de l age d or die Poesie. Nicht zuletzt hier knüpft die H.-Rezeption der Zeitgenossen vielfach an.
Desbordes, Anne: Die ungehört verhallten Widerlegungen antiker Determinismen und ihrer restaurationes durch Frans Hemsterhuis. Münster u.a. 2002. – Fresco, Marcel F./Geeraedts, Loek/Hammacher, Klaus (Hg.): Frans Hemsterhuis (1721–1790). Quellen, Philosophie und Rezeption. Münster 1995. – Pelckmann, Paul: Hemsterhuis sans rapports. Contribution à une lecture distante des Lumières. Amsterdam 1987. – Moenkemeyer, Heinz: François Hemsterhuis. Boston 1975. – Hammacher, Klaus: Unmittelbarkeit und Kritik bei Hemsterhuis. München 1971.
Hans-Rüdiger Schwab
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