Metzler Philosophen-Lexikon: Heß, Moses
Geb. 21. 1. 1812 in Bonn;
gest. 6. 4. 1875 in Paris
H. war Sohn eines Zuckerfabrikanten, der die Erziehung des Knaben dem Großvater überließ. Über seine Kindheit schreibt er: »Welche Bildung habe ich genossen? In der Judengasse geboren und erzogen; bis in mein fünfzehntes Jahr über den Talmud schwarz und blau geschlagen; Unmenschen für Lehrer, schlechte Kameraden für Gesellschafter« Erst 1828 löst sich H. vom orthodoxen Judentum, nachdem er bereits zwei Jahre im väterlichen Kontor arbeitet und als Autodidakt die klassische deutsche Philosophie und unter der zeitgenössischen vornehmlich die Ludwig Feuerbachs rezipiert. Von 1837 bis 1839 studiert er Philosophie an der Universität Bonn; bereits 1837 veröffentlicht er seinen literarischen Erstling Die heilige Geschichte der Menschheit. Von einem Jünger Spinozas, dem 1841 Die europäische Triarchie folgt. In mystisch-religiöser Färbung betrachtet H. in seinem ersten Werk die verschiedenen Perioden der Menschheitsgeschichte als notwendige Entwicklungsstufen zu einem Sozialismus diesseitiger geistiger und materieller Harmonie. In seiner zweiten, anonym erschienenen Schrift tritt er für eine politische Neugestaltung Europas ein, welche eine Synthese von deutscher Philosophie, französischer Revolutionstheorie und englischer Sozialpraxis anleiten soll. Wenige Jahre später, 1845, urteilt H., dieser spekulative Sozialismus sei gescheitert, weil die Philosophie für die Praxis keinen Sinn gehabt habe, und die gleichzeitige revolutionäre Praxis – in Deutschland und der Schweiz vornehmlich der Handwerkerkommunismus Wilhelm Weitlings – habe umgekehrt »an dem Mangel philosophischer Durchbildung« gekrankt. H. war sodann Mitbegründer und Frankreich-Redakteur der in Köln erscheinenden Rheinischen Zeitung für Politik, Handel und Gewerbe, deren Chefredakteur in den letzten Monaten ihres Bestehens Karl Marx war. H. war Mitarbeiter an nahezu allen wichtigen deutschsprachigen sozialkritischen Zeitschriften des Vormärz und gab selbst 1845/46 in Elberfeld den wirkungsmächtigen Gesellschaftsspiegel. Organ zur Vertretung der besitzlosen Volksklassen und zur Beleuchtung der gesellschaftlichen Zustände der Gegenwart heraus. Seinen wichtigsten theoretischen Beitrag veröffentlichte H. 1845 im ersten Band der Rheinischen Jahrbücher zur gesellschaftlichen Reform mit dem gegenüber der Zensur unverfänglichen Titel Über das Geldwesen. Der von Hegel und Feuerbach herausgebildeten Entfremdungstheorie – der These von der Entfremdung des Menschen von sich selbst, von der Natur und der Gesellschaft – gibt er eine strikt materialistische Wendung, indem er am Geldfetisch zentrale Momente der die bürgerliche Gesellschaft definierenden Subjekt-Objekt-Verkehrung transparent macht: »Was der Gott fürs theoretische Leben, das ist das Geld für’s praktische Leben der verkehrten Welt: das entäußerte Vermögen der Menschen, ihre verschacherte Lebenstätigkeit Das Geld ist das Produkt der gegenseitig entfremdeten Menschen, der entäußerte Mensch.« Hier wird der »rohe Kommunismus« transzendiert und eine dialektische Anthropologie anvisiert, die erstmals kulturrevolutionär den ganzen Menschen, also auch psychologische Tiefenschichten in die Bedingungen sozialer Veränderung einbezieht. Kurz darauf, ebenfalls 1845, veröffentlichte H. eine Über die sozialistische Bewegung in Deutschland betitelte Abhandlung, in der er seine Sozialismuskonzeption präzisierte und gegen heilsgeschichtliche Utopien abgrenzte. Es heißt da: Nur im planvollen gesellschaftlichen Zusammenwirken überwinde der Einzelne die Mystifikationen, die ihn »im politischen Leben als Staatsmacht, im religiösen als himmlische Macht, theoretisch als Gott, praktisch als Geldmacht« lähmend gegenüberstehen. Wo dem Menschen bisher sein entäußertes Wesen in immer neuer Gestalt »tyrannisierend entgegen trat«, waren auch seinem Freiheitsstreben enge Grenzen gesetzt. Erst die neue, konsequent diesseitige Lehre vom Menschen transformiere die »theologische Anthropologie«, in die wissenschaftliche Lehre »von der menschlichen Gesellschaftung« und erlaube nun zu sagen: »Anthropologie ist Sozialismus.«
In der akademischen wie der marxistischen theoriegeschichtlichen Forschung ist unbestritten, daß H. mit diesen Versuchen, dem Sozialismus eine wissenschaftliche Fundierung zu geben – neben Marx und Engels –, zum »wichtigsten kommunistischen Theoretiker der vierziger Jahre« wird (Jindrich Zelený). Kontroversen begleiten dagegen die Frage, ob und inwieweit er Marx und Engels beeinflußte. Einem Brief von H. an Berthold Auerbach vom 19. 6. 1843 ist zu entnehmen, daß er Engels anläßlich eines Besuchs im Jahre 1842 für den Kommunismus angeworben hat. Ob der »Kommunisten-Rabbi« H. auch Marx’ Konversion vom radikalen Demokraten zum Kommunisten bewerkstelligte, ist nicht verbürgt und in der Forschung ein unentschiedener Streitfall. Beide begegneten sich im Oktober und November 1842 in Köln als Redakteure der Rheinischen Zeitung. Shlomo Naàman meint, hier sei nicht zu entscheiden, wessen Ideen Originalität beanspruchen könnten, da beide ja in einem ständigen Gedankenaustausch gestanden hätten. Anders Zwi Rosen: Form und Inhalt der frühen Theorien von Marx und H. philologisch vergleichend resümiert er, ohne den Ideenreichtum des Denkens von H. sei die Marxsche Theorie undenkbar. Er ignoriert dabei die Möglichkeit, daß da, wo Marx und H. in theoretischen Äußerungen dieser Periode übereinstimmen, dies auch aus der selbständigen Benutzung derselben literarischen Quellen resultieren kann, denn immerhin kannten beide die wesentlichen französischen Soziallehren von Babeuf bis Proudhon (so Paul Kägi). Die marxistischen Marx und H.-Forscher Auguste Cornu und Wolfgang Mönke räumen lediglich ein, H. habe durch seine persönliche Aktivität Marx und Engels in einer Zeit ihrer ersten theoretischen Entwicklungen einige Anregungen gegeben. Neuerdings reduziert Mönke die Frage »Wer, wen?« auf die These, H. habe sich unter dem Einfluß von Marx und Engels während seiner Mitarbeit 1845/46 in Brüssel an der Deutschen Ideologie revolutionär- kommunistischen Anschauungen angenähert, sein Unvermögen, sich von kleinbürgerlichen Vorstellungen zu lösen, hätten ihn jedoch zu einem unzuverlässigen Bundesgenossen gemacht. Hier wird Theorie nicht inhaltlich, sondern von ihrer gesellschaftlichen Zuordnung her beurteilt. Verbürgt ist, daß H. in Brüssel 1845/46 eng mit Marx und Engels zusammenarbeitete (er verfaßte kurze Abschnitte für deren erstes gemeinsames Werk, die Deutsche Ideologie), sich jedoch im Mai 1846, ausgelöst durch den Konflikt zwischen Marx und Wilhelm Weitling, von Marx lossagte: »Mit Dir persönlich möchte ich noch recht viel verkehren; mit Deiner Partei will ich nichts mehr zu tun haben.« Doch ungeachtet dieser Distanzierung befindet H. wenige Jahre später, allein Marx und seine Anhänger seien in der Lage, »den Körper unserer Gesellschaft zu sezieren, ihre Ökonomie zu entwickeln und ihre Krankheit klarzulegen«. Diese analytischen Fähigkeiten resultierten u. a. daraus, daß hier Sozialisten erstmals die englische politische Ökonomie gründlich verarbeitet und so den nebelhaften Standpunkt der deutschen Philosophie endgültig aufgegeben hätten. Die Behauptung von Mönke im Ost-Berliner Philosophenlexikon von 1983, dem kleinbürgerlichen Sozialisten H. sei das Verständnis der materialistischen Geschichtsauffassung von Marx und Engels versperrt geblieben, wird nachdrücklich in Frage gestellt durch ein nachgelassenes Manuskript von H., in welchem er Marx’ 1859 erschienene Schrift Zur Kritik der Politischen Ökonomie referiert. Er schreibt: »Im Geld ist nach Marx, wie nach Hess, die absolute Entäußerungˆ der gesellschaftlichen Arbeit vergegenständlicht. Was in der philosophischen Sprache der Hegelianer absolute Entäußerungˆ genannt wird, ist in der profanen Sprache die allgemeine Veräußerlichkeit der Produkte, welche ihnen erst ihren Tauschwerth gibt, sie zu verkäuflichen Waaren macht. Der Tauschwerth der Produkte wird bestimmt durch die qualitativ unterschiedslose Arbeitszeit, welche auf deren Hervorbringung verwandt wurde. Aber nur auf dem Markt wird der Widerspruch der qualitativ verschiedenen, (spezifischen) individuellen und der gesellschaftlichen Arbeit, der Widerspruch des Gebrauchswerthes und des Tauschwerthes gelöst. Hier erst erlangt die individuelle Arbeit ihren gesellschaftlichen Werth. Dieser Werth, der dadurch entsteht, daß jeder Gebrauchswerth in jedem andern ein Äquivalent sucht, kristallisiert sich in einer ausschließlichen Waare«, im Geld. Keiner der Zeitgenossen – Engels ausgenommen – war damals in der Lage, die Wert- und Geldtheorie von Marx in derart konzisen Sätzen wiederzugeben. H. veröffentlichte 1862 ein weiteres gewichtiges Buch – Rom und Jerusalem, die letzte Nationalitätsfrage –, dessen Quintessenz lautet: Die Emanzipation der Juden kann nur in einem eigenen Staat realisiert werden, und dieser hat dann die Chance, zum Focus einer weltweiten, alle Menschen erfassenden Emanzipationsbewegung zu werden. Für die kurz vor der Jahrhundertwende von Theodor Herzl ins Leben gerufene zionistische Massenbewegung figuriert diese Arbeit als eine ihrer frühen Programmschriften.
In der posthum in Paris 1877 veröffentlichten Dynamischen Stofflehre zeigt sich H. überraschend als Bundesgenosse des naturwissenschaftlich orientierten Materialismus von Karl Vogt, Jakob Moleschott und Ludwig Büchner. Doch auch der ab 1863 entstehenden sozialdemokratischen Bewegung galt sein Interesse: Zuerst unterstützte er Lassalles »Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein«, dann, kurz vor seinem Tode, auch die im Gothaer Vereinigungskongreß konstituierte »Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands«, die Keimzelle der heutigen SPD. Bereits als Teilnehmer des Basler Kongresses der »Internationalen Arbeiterassoziation« (1. Internationale) votierte H. nachdrücklich für einen Sozialismus vermittels parlamentarischer Arbeit und durch Genossenschaften. »Ein dritter Weg, der darin besteht, soziale Reformen durch die Diktatur einer Klasse einzuführen, ist heute allen Klassen, auch der Arbeiterklasse, verschlossen.«
Koltun-Fromm, Ken: Moses Hess and modern Jewish Identity. Bloomington/Indiana 2001. – Rosen, Zwi: Moses Heß. In: Euchner, Walter (Hg.): Klassiker des Sozialismus, Bd. 1. München 1991, S. 121–138 u. 291–294. – Naàman, Shlomo: Emanzipation und Messianismus. Leben und Werk des Moses Heß. Frankfurt am Main 1982. – Mohl, Ernst Theodor: Marginalien zum Nachdruck der von Moses Heß redigierten Zeitschrift »Gesellschaftsspiegel (1845/46)«, nebst Fußnoten zur neueren Marx- und Heß-Forschung. Glashütten im Taunus 1971. – Silberner, Edmund: Moses Heß. Geschichte seines Lebens. Leiden 1966.
Ernst Theodor Mohl
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