Metzler Philosophen-Lexikon: Hildegard von Bingen
Geb. 1098 in Bermersheim;
gest. 17. 9. 1179 in Bingen
H. zählt zu den einflußreichsten Gestalten des 12. Jahrhunderts im Ordenswesen, der Theologiegeschichte, der Volksseelsorge und auch der (Kirchen-)Politik. Das Bild von der Heilkundlerin und »Kräuterfrau«, das in Teilen der modernen Hildegardrezeption dominiert, entspricht dagegen der historischen und theologiegeschichtlichen Wirklichkeit nur am Rande. Über H.s Leben sind wir nicht nur durch ihre erhaltenen Briefe, sondern auch durch eine kurz nach ihrem Tod entstandene Vita, in die autobiographische Fragmente eingeflossen sind, recht gut informiert. H. wird im Jahre 1098 als zehntes Kind einer hochadeligen Familie geboren und wohl im Alter von 8 Jahren in eine Klause am Benediktinerkloster Disibodenberg bei Sobernheim gegeben. Hier genießt sie durch ihre Lehrerin Jutta von Sponheim eine gute Ausbildung und legt 1115 die Ordensgelübde ab. Als Jutta 1136 stirbt, wird H. ihre Nachfolgerin als Lehrerin in der inzwischen zu einem kleinen Frauenkonvent angewachsenen Klause. Seit 1141 beginnt H. damit, ihre Visionen, die sie nach eigener Aussage schon von Kindesbeinen an gehabt hat, niederzuschreiben bzw. niederschreiben zu lassen, was ihr im Jahr 1148 nach Prüfung und Entscheidung durch Papst Eugen III. auch offiziell genehmigt wird. An dieser kirchlichen Approbation der Visionen ist auch Bernhard von Clairvaux, Lehrer Eugens III., als Fürsprecher der H. mit beteiligt.
1150 zieht H. mit zwanzig adeligen Schwestern gegen den Widerstand des Disibodenberger Männerkonventes an den Rupertsberg bei Bingen um. Die geistlich und materiell schwierige Anfangszeit bewältigt sie durch strenges Insistieren auf der Regel nach innen und durch Verhandlungsgeschick nach außen. Als H. 1158 vom Mainzer Erzbischof eine Besitzurkunde über das Rupertsberger Klostergut und eine Verfassungsurkunde über die weitgehende Unabhängigkeit vom Mutterkloster erhält, steht ihre Bingener Gründung endlich auf einer rechtlich soliden Basis, auch wenn die Sorge um geistliche und materielle Probleme des Klosters bis zu ihrem Tod immer wieder eine Rolle spielen sollte. 1165 gründet H. zusätzlich das ehemalige Augustinerkloster in Eibingen bei Rüdesheim neu und versorgt von Bingen aus den hier entstehenden Frauenkonvent durch regelmäßige Besuche.
Die 1160er und 70er Jahre bilden den eigentlichen Höhepunkt von H.s Wirken. Ausweislich ihrer zahlreichen überlieferten Briefe betätigt sie sich als Seelsorgerin und Ratgeberin in allen nur denkbaren Lebensfragen und erwirbt ein hohes Ansehen im Volk. Gut bezeugt sind ihre öffentlichen Predigtauftritte vor jeweils großer Zuhörerzahl. In der Gestaltung des benediktinischen Klosterlebens ihrer Zeit wirkt sie als Ansprechpartnerin von Äbten und Äbtissinnen. Im Kampf der katholischen Kirche mit der seit 1164 auftretenden neuen Häresieˆ des Katharismus stellt sie sich in Köln öffentlich gegen die Irrlehrerˆ. Auf dem Parkett der Politik schaltet sich H. in das vom Staufer Friedrich Barbarossa seit 1159 herbeigeführte Papstschisma ein, in dem sie – nach anfänglicher Neutralität – entschieden für Alexander III. gegen die kaiserlichen Päpste Partei nimmt. Die Unerschrockenheit, mit der sie in diesem Konflikt Barbarossa gegenübertritt, findet sowohl in ihrer hochadeligen Herkunft als auch in ihrem prophetischen Sendungsbewußtsein eine Erklärung. Aber auch gegenüber den Oberen der Kirche beweist H. Durchsetzungsvermögen: Berühmt geworden ist eine kurz vor Ende ihres Lebens spielende Episode: Das Mainzer Domkapitel verlangt die Exhumierung eines auf dem Rupertsberger Friedhof liegenden exkommunizierten Edelmannes, die H. mit dem Hinweis verweigert, daß dieser sich vor seinem Tod mit der Kirche ausgesöhnt und die Sakramente empfangen hat. Gleichwohl versuchen die Mainzer Prälaten, die Ausgrabung des Toten durch Verhängung des Interdikts über das Rupertsberger Kloster zu erzwingen. H., die sich im Recht sieht, nimmt jedoch diese schwere Strafe auf sich und erwirkt eine schriftliche Befreiung vom Interdikt durch den Erzbischof Christian von Mainz. – Am 17. 9. 1179 ist H. auf dem Bingener Rupertsberg im Kreise ihrer Schwestern gestorben. Ihre Reliquien werden heute in der Pfarrkirche in Eibingen aufbewahrt.
Von entscheidender Bedeutung für das Verständnis von H.s Denken sind ihre drei Visionsschriften, die von Inhalt und Anlage her so aufeinander abgestimmt sind, daß man in der Forschung von einer »Visionstrilogie« gesprochen hat. Das erste und bekannteste dieser drei Werke ist die Scivias (Wisse die Wege). Hier entfaltet H. in Bildern von großer Gestaltungskraft die gesamte Landkarteˆ der Theologie. Im ersten Teil behandelt sie die Schöpfung und den Fall der Engel, die Erschaffung des Menschen und den Sündenfall, im zweiten Teil das Werk der Erlösung durch Christus und die Vermittlung des Heils durch die Kirche. Im dritten Teil schildert sie schließlich die Errichtung der Gotteskräfte in den Gläubigen und die Wiederkunft Christi, der in den Wolken des Himmels erscheint und als Liebe den Kreislauf des Kosmos vollendet.
Die zweite Visionsschrift H.s ist der Liber vitae meritorum (Buch der Lebensverdienste), eine Tugendlehre in Bildern, die als Kampfspiel zwischen den personifiziert dargestellten Lastern und den Tugenden gestaltet ist. In diesem Werk zeigt H. eindrucksvoll die Folgen menschlichen Tuns auf und schildert die soziale und kosmologische Unordnung, die durch die Sündentaten verursacht wird, wie auch die Harmonie, die durch die Befolgung der Tugenden erhalten bleibt bzw. neu entsteht. Diese Harmonie zwischen Schöpfung und Schöpfer beschreibt sie in ausführlichen Passagen, in denen sie über die irdische Schönheit, den Glanz, die Blühkraft (viriditas) und die Leuchtkraft der geschaffenen Dinge jubelt. Die dritte Schrift aus der Visionstrilogie, der Liber divinorum operum (Welt und Mensch), entfaltet schließlich die Kosmologie H. s. In einer ersten Vision sieht sie den Schöpfergott als Mensch mit ausgebreiteten Armen, der mit Haupt, Händen und Füßen in die Kosmoskreise hineinragt und so das Universum zugleich ausfüllt und hält. Dieses hat von Gott das Leben erhalten und erhält es weiter; durch die Menschwerdung Gottes ist die Welt vom Licht durchflutet; das Universum befindet sich in unauflösbarem Zusammenhang mit dem dreieinigen Schöpfergott.
Die Frage, was man sich unter den Visionen der H. eigentlich genau vorzustellen habe, hat schon die Zeitgenossen bewegt. H. selbst hat gegen Ende ihres Lebens darauf hingewiesen, daß sie die mitgeteilten Bilder nicht in ekstatischem Zustand sehe, sondern wachend und im Vollbesitz ihrer Sinne. Wenn man ergänzend auf den traditionelltheologischen Hintergrund aller drei Visionstexte und auf deren streng systematische Zuordnung aufmerksam macht, kann man die Visionen gut als bebilderten systematisch-theologischen Gesamtentwurf deuten, wobei im »Denken in Bildern« die für H. spezifische Zugangsweise und Ausdrucksform der Theologie zu sehen ist. Das bedeutet, daß H. s Visionen von denen der mittelalterlichen Frauenmystik deutlich zu unterscheiden sind.
Die weiteren erhaltenen Werke H.s zeugen von dem immensen Gedankenspektrum und auch Arbeitspensum der Äbtissin vom Rupertsberg. Die naturkundlichen Schriften Causae et curae (Heilkunde) und Physica (Naturkunde) zeigen eine erstaunliche Kenntnis von Natur und Mensch, die stets im theologisch-kosmologischen Gesamtzusammenhang in den Blick kommen. Deshalb beginnt auch die Heilkunde mit der Schöpfung der Welt und dem Aufbau des Kosmos, ehe sie dann auf die einzelnen Krankheiten eingeht, die als Symptome einer Störung des Mensch-Gott-Verhältnisses interpretiert werden. Als Weisung für eine gesunde Lebensführung empfiehlt H. das Maßhalten und die Ausgewogenheit in Verhalten und Ernährung. Das Leitbild des Arztes ist Christus, der Heilbringer des Kosmos. – Die Naturkunde ist ein der Volkstradition zuzuordnendes Arzneibuch, in dem H. in über 500 Kapiteln ihre detaillierten Beobachtungen zu Botanik und Zoologie mitteilt und die mögliche Nutzanwendung des jeweiligen Tieres oder der jeweiligen Pflanze für den Menschen erörtert. Dabei erstaunt, in welch hohem Maße ihre Beobachtungen (etwa zur Fischfauna im Rheingau) und Empfehlungen (etwa zur Heilkraft bestimmter Pflanzen) mit den modernen Erkenntnissen der Heilkunde übereinstimmen.
Neben den naturkundlichen Schriften sind unter den Werken noch eine Auslegung der Benediktsregel und eine Erklärung des athanasianischen Glaubensbekenntnisses zu nennen, ferner eine Lebensbeschreibung des Heiligen Disibod, des Gründers des Disibodenberger Klosters, eine Vita des Heiligen Rupert sowie ein geistliches Singspiel (Ordo virtutum) und Texte zu zahlreichen Liedern; unter letzteren nehmen die Marienlieder schon zahlenmäßig eine besondere Stellung ein. H.s bis heute andauernde Faszination findet ihre Begründung in der Geschlossenheit des von ihr entworfenen Gottes-, Welt- und Menschenbildes, in dem kein Bereich isoliert vom anderen gedacht werden kann. Dabei stellt sie sich zugleich der Frage nach der Lesbarkeit der Welt und der Erfahrbarkeit der Schöpfungsordnung. In dieser Hinsicht geht von ihrem Werk in der Tat eine erhebliche, bis heute andauernde Orientierungskraft aus.
Forster, E. (Hg.): Hildegard von Bingen. Freiburg 1997. – Schipperges, H.: Hildegard von Bingen. München 21995. – Kerner, C.: Alle Schönheit des Himmels. Weinheim 1993. – Lautenschläger, G.: Hildegard von Bingen. Stuttgart 1993. – Newman, B.: Sister of Wisdom. Berkeley 1987. – Brück, A. P.: Hildegard von Bingen 1179–1979. Mainz 1979. – Liebeschütz, H.: Das allegorische Weltbild der heiligen Hildegard von Bingen. Leipzig 21964.
Jörg Ulrich
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