Metzler Philosophen-Lexikon: Hippias von Elis
Geb. nach 470 v. Chr.
H. gehört mit Prodikos zu den Sophisten der »zweiten Generation« nach Protagoras und Gorgias. Sein Bild als unbeständiger, eitler Alleswisser ist durch Platons Dialoge Hippias Minor, Hippias Maior und Protagoras geprägt. Xenophon erwähnt ihn in seinem Gastmahl als Lehrer der Mnemotechnik, zeigt ihn in seinen Erinnerungen an Sokrates als dessen Partner im Gespräch über das Gerechte und Gesetzmäßige. Von den zahlreichen Schriften, die H. verfaßt haben muß, sind nur einige zufällige Titel und Hinweise aus verschiedenen Wissensgebieten erhalten.
Wegen seiner Fähigkeiten als Redner und Unterhändler, seiner Kenntnisse des politischen Geschäfts war H. häufig als Gesandter seiner Vaterstadt in ganz Hellas bis nach Sizilien unterwegs, besonders in Sparta und Athen, reiste wohl auch, um seine Vorträge, sprachlich kunstvoll ausgefeilte »Schau«-Reden, zu halten, sich von seinen Zuhörern über alles und jedes befragen zu lassen, Unterricht zu erteilen – für Honorare, die ihn zum reichen Mann machten. Gestützt auf sein phänomenales Gedächtnis, breitete er bei solchen Gelegenheiten das ganze enzyklopädische Wissen aus, das er erarbeitet hatte: Rechenkünste, Arithmetik und Geometrie, Astronomie und Musik, Malerei und Bildhauerkunst, die »Bedeutung der Buchstaben, Silben, Rhythmen und Harmonien«, die »Versmaße, Tonarten, grammatischen Formen«, Leben und Werke der Dichter, besonders Homers, deren Auslegung, die Geschlechter der Heroen und Menschen, die ersten Ansiedlungen, alte Städtegründungen. Als erster Nicht-Musiker befaßte sich H. mit Rhythmus und Metrik; er untersuchte Sprache im Zusammenhang mit Musik, legte Parallelexzerpte der alten Dichter Orpheus, Musaios, Hesiod und Homer an, führte den Begriff »Archäologie« ein, beschäftigte sich in seiner Schrift Benennungen der Völker vermutlich mit Ethnographie, legte die erste Liste der Sieger bei den Olympischen Spielen an, Grundlage späterer Versuche, eine hellenische Chronologie zu schaffen und trug in seiner Sammlung offenbar interessante Geschichten und Anekdoten zusammen. Nichts aber förderte sein Ansehen bei den Zeitgenossen so sehr wie seine regelmäßigen Auftritte bei den Olympischen Spielen in Elis, wo er sich erbot, nicht nur jede seiner vorbereiteten »Schau«-Reden zu halten, sondern auch jede Frage mit einer Stegreifrede zu beantworten – ein Wettbewerb, in dem er nie übertroffen wurde. In Olympia machte er seine Epen, Tragödien, Dithyramben bekannt. Dort soll er sich auch gerühmt haben, alles, was er am Leib und bei sich trage, sei von ihm selbst gefertigt: Ring und Siegel, Badekratzer und Salbenfläschchen, Schuhe, Mantel und Unterkleid samt Gürtel: Zeichen der von ihm proklamierten Autarkie des Sophisten. Der Nachruhm galt dem Mathematiker H., dem Erfinder einer Kurve zur Dreiteilung des Winkels und zur Quadratur des Kreises, der »Quadrierenden«. Der Philosoph H. wurde erst im 20. Jahrhundert von Eugène Dupréel in den Platonischen Dialogen wiederentdeckt.
Hinter der Sammlung und Veröffentlichung seines enzyklopädischen Wissens stand zunächst seine Forderung, ein rechter Mann müsse imstande sein, über alles sachlich fundiert zu reden und Gespräche zu führen, einen Sachverhalt unter immer wieder anderen Gesichtspunkten darzustellen; H. entwarf als erster das dann durch die ganze Antike vertretene Idealbild des enzyklopädisch gebildeten Rhetors, der fähig ist, über jeden Gegenstand angemessen zu sprechen – im Bildungskanon des »trivium« und »quadrivium« der »Sieben Freien Künste« durch das ganze Mittelalter weitertradiert. Darüber hinaus forderte H., die »Natur der Dinge« zu erfassen, sich in seinem Handeln an ihr auszurichten, weil dieses Wissen allein »wahr« ist, effizientes Handeln ermöglicht. Dabei suchte er als erster die Synthese zwischen der Naturphilosophie und der neuen anthropozentrischen, pädagogisch orientierten Philosophie, zwischen »Naturalismus« und »Humanismus«, »Natur- und Kulturwissenschaft«. H. stellte in einem Vorgriff auf das spätere Naturrechtsdenken die natürlichen, universal gültigen Gesetze der »Menschheit« den durch Konvention entstandenen, also künstlich geschaffenen Gesetzen, Gebräuchen und Institutionen gegenüber, die der menschlichen Natur Gewalt antun – »Tyrannen« oft.
Long, A.A. (Hg.): Handbuch Frühe Griechische Philosophie. Von Thales bis zu den Sophisten. Stuttgart/Weimar 2001. – Kirk, Geoffrey S./Raven, John E./Schofield, Malcolm (Hg.): Die vorsokratischen Philosophen. Stuttgart/Weimar 2001. – Narcy, Michel: Art. »Hippias«. In: Der Neue Pauly. Stuttgart/Weimar 1996ff., Bd. 5, Sp. 575–578. – Taureck, Bernhard H. F.: Die Sophisten zur Einführung. Hamburg 1995. – Baumhauer, Otto A.: Die sophistische Rhetorik. Eine Theorie sprachlicher Kommunikation. Stuttgart 1986. – Classen, Carl Joachim (Hg.): Sophistik. Darmstadt 1976 (Quellen, Literaturangaben). – Guthrie, W.K.C.: The Sophists. Cambridge 1971. – Dupréel, Eugène: Les sophistes. Neuchâtel 1948. – Gomperz, Heinrich: Sophistik und Rhetorik. Leipzig 1912, Nachdruck 1965.
Otto A. Baumhauer
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