Metzler Philosophen-Lexikon: Holbach, Paul-Henri Thiry d’ (d.i. Paul Heinrich Dietrich)
Geb. 8. 12. 1723 in Edesheim/Pfalz;
gest. 21. 1. 1789 in Paris
Als H.s Hauptwerk, das Système de la nature, 1770 unter falschem Namen und fingierter Angabe des Druckortes erschien, gingen die meisten aufklärerischen Philosophen, namentlich Voltaire, auf Distanz zu diesem streng materialistischen und kompromißlos atheistischen Buch. Bezeichnenderweise gehörte gerade der Marquis de Sade zu den wenigen zeitgenössischen Lesern, die das Système mit Beifall aufnahmen (»la base de ma philosophie«), während der junge Goethe und seine Straßburger Freunde sich trotz großen Interesses letztlich doch abgestoßen fühlten: »wie hohl und leer ward uns in dieser tristen atheistischen Halbnacht zu Mute, in welcher die Erde mit allen ihren Gebilden, der Himmel mit allen seinen Gestirnen verschwand« (Dichtung und Wahrheit).
Kaum jemand mochte damals glauben, daß der Autor dieses auf Anordnung des französischen Parlaments umgehend öffentlich verbrannten Traktats der als liebenswürdig, großzügig und tolerant geltende Baron H. sein sollte, in dessen Pariser Salon die »philosophes«, die Autoren der großen Encyclopédie, ein und aus gingen, der aber auch verfolgten Jesuiten Zuflucht geboten hatte. Auf Wunsch seines durch Finanzspekulationen reich gewordenen Onkels, der ihm neben seinem Vermögen auch den 1722 erkauften Adelstitel vererbte, war der deutschstämmige H. im Anschluß an sein 1744 begonnenes Jurastudium in Leyden 1749 nach Paris gekommen, wo er schnell Bekanntschaft mit der intellektuellen Avantgarde um Diderot und d’Alembert schloß. Für deren Encyclopédie schrieb der profunde Kenner der deutschen Naturwissenschaften ab 1753 weit über 300 Artikel, die sich hauptsächlich mit mineralogischen und metallurgischen Gegenständen befaßten; darüber hinaus übersetzte er – neben naturwissenschaftlichen Arbeiten vorwiegend deutscher Forscher – zahlreiche religionskritische, deistische Schriften aus dem Englischen.
Die einzigen größeren Ereignisse in seinem Leben bestanden in einer kurzen London-Reise 1765 und in der 1780 erfolgten Wahl zum Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg. In seinen eigenständigen philosophischen Werken (neben dem Système unter anderen Le Christianisme dévoilé, vermutlich 1766; L Éthocratie, 1776; La Morale universelle, 1776) vertrat H. einen materialistisch fundierten Atheismus, wobei es ihm in erster Linie um die Begründung einer natürlichen, vernünftigen Moral ging. Die umfassendste, vor allem aber die systematische Durchführung dieses Ansatzes bietet das Système de la nature (System der Natur oder von den Gesetzen der physischen und der moralischen Welt), mit dem H. trotz der beinahe einhelligen Kritik an seiner anti-religiösen Radikalität sehr schnell eine tiefe und dauerhafte Wirkung erzielte.
Den zentralen Gedanken des Système formuliert bereits der erste Satz des Vorworts: »Der Mensch ist nur darum unglücklich, weil er die Natur verkennt.« Hauptabsicht H.s ist demgemäß die Aufklärung über metaphysische Irrtümer, d.h. die Aufdeckung der wahren, kausalen Beziehungen zwischen den Menschen und den Dingen. Damit richtet sich H.s Angriff notwendig gegen religiöses Denken jeglicher Art. Der empirisch nicht abzusichernde Glaube an transzendente Mächte gilt ihm als Grundübel, weil er die ethisch als an sich neutral verstandenen körperlichen Affekte der rationalen Kontrolle entzieht und so ihre mögliche positive Wirkung auf die Gesellschaft verhindert. H. versucht demgegenüber, aus seiner streng mechanistisch-kausalen Naturauffassung eine weltimmanente Ethik abzuleiten. Als deren Grundlage dient das monistische Axiom, daß alles Denken nur eine spezifische Form der allgemeinen Bewegung der Materie sei; die cartesianische These des Dualismus von Körper und Geist wird zurückgewiesen.
Alle moralischen Gesetze müssen deshalb wie physikalische Gesetze empirisch und kausal fundiert sein. Wie Newton die Gravitation als das wesentliche Organisationsprinzip der Materie, so nimmt H. das Bedürfnis der Selbsterhaltung als zentrales Gesetz des menschlichen Zusammenlebens an und entwickelt daraus in Analogie zur Physik seine Ethik der sozialen Nützlichkeit: »Tugend ist also das, was wirklich und auf die Dauer den in Gesellschaft lebenden Wesen der menschlichen Gattung nutzt; Laster ist das, was ihnen Schaden bringt.« Inhaltlich unterscheidet sich dieses Tugend-Konzept kaum von dem der englischen Moralisten, wohl aber in seiner Begründung. Hatten Shaftesbury und die anderen »moral sense«- Optimisten einen angeborenen moralischen Trieb behauptet, so kommt der Rationalist H. ohne empfindsamen Rückgriff auf eine derartige göttliche Fügung aus: Da jeder sich selbst erhalten und in größtmöglichem Glück leben möchte, muß er als vernünftiges Wesen auf das Selbsterhaltungsbedürfnis der anderen Rücksicht nehmen und seine Leidenschaften so steuern, daß sie zum Glück der Allgemeinheit beitragen.
In der Tradition des französischen Rationalismus (Pierre Bayle) hat H. damit einen strikt materialistischen »Tugend«-Begriff entwickelt. Gescheitert ist er allerdings an dem Problem, dieses Vertrauen auf die Vernunft als sozialem Faktor, wobei sich alle Hoffnungen auf die Macht der Erziehung richten, mit dem Glauben an die mechanische Notwendigkeit in der Bewegung der Materie überzeugend zu vermitteln. H.s Determinismus wurde deshalb von den zeitgenössischen Lesern als Spielart des Nihilismus verstanden und abgelehnt. Auch der umständliche Argumentationsstil H.s schien auf fatale Weise seinem nüchternen Entwurf einer entgötterten Welt zu entsprechen und mußte insbesondere die junge Künstlergeneration in Deutschland provozieren, die sich eher für die ästhetisch fundierte Moral der Engländer (»moral beauty«) begeistern mochte. Zudem hatte gerade Shaftesbury jegliches Systemdenken grundsätzlich abgeurteilt: »The most ingenious way of becoming foolish, is by a system«. Der Vorwurf des mit Pedanterie gepaarten Nihilismus verhinderte das Begreifen des ebenso individuell wie politisch emanzipatorischen Potentials in H.s materialistischem Tugendkonzept: der Legitimation der Sinnlichkeit und der Ablehnung jeglicher autoritärer Herrschaft.
Boulat-Ayoub, Josiane (Hg.): Paul Henri Thiry Baron d’Holbach: Epistémologie et politique au 18ième siècle. Paris 1992. – Kors, Alan Charles: D’Holbach’s coterie. An Enlightenment in Paris. Princeton/New Jersey 1976. – Naville, Pierre: Paul Thiry d’Holbach et la philosophie scientifique au XVIIIe siècle. Paris 1943 (revidierte und erweiterte Neuauflage Paris 1967).
Albert Meier
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