Metzler Philosophen-Lexikon: Jaspers, Karl
Geb. 23. 2. 1883 in Oldenburg;
gest. 26. 2. 1969 in Basel
In einem seiner Hauptwerke, der dreibändigen Philosophie von 1932, hatte er angekündigt: »Ein Philosophieren aus möglicher Existenz, welche sich durch philosophisches Leben zur Wirklichkeit bringen will, bleibt Suchen. Das Ursprungsbewußtsein drängt zu diesem Ursprung als selbstbewußtes Suchen, das seine Bereitschaft steigert, das Sein zu empfangen, wo immer es zu ihm spricht.« Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wünschte er sich »Ruhe und Freiheit und nichts als Philosophieren«. In diesen beiden Äußerungen bildet sich – bedenkt man die geschichtlichen Ereignisse, die dazwischen liegen und auch in sein Leben tief eingegriffen haben – die merkwürdige Beharrlichkeit eines Denkers ab, der über Jahrzehnte hinweg stets in einem Atemzug mit Martin Heidegger und Jean-Paul Sartre genannt wurde, wenn das Stichwort der Existenzphilosophie fiel und nach der philosophischen Stellung des Menschen in der modernen Welt gefragt wurde. Die geistige Wirkung eines solchen suchenden Philosophierens kann, insbesondere nach 1945, auch nicht annähernd in ihrem Umfang beschrieben werden; zu fragen aber ist, welchem philosophischen Impuls sie sich verdankt. Nietzsche und Kierkegaard sind als Ausgangspunkte des universal ausgreifenden Orientierungsversuchs zu nennen, den J. unternommen hat. Der eine als Verkünder des Endes vom christlichen Äon, der Heraufkunft des europäischen Nihilismus und der Wiederherstellung eines natürlichen Verhältnisses von Mensch und Welt, der andere als verzweifelter »Vollender« einer urchristlich empfundenen Religiösität lebendes Zeugnis eines radikalen Zurück zu einer unmittelbaren Konfrontation von Mensch und Gott.
Der von J. eingeschlagene Lebensweg deutete zunächst nicht auf eine denkerische Radikalisierung hin. Dem Hause eines begüterten Bankdirektors entstammend, studierte er nach seiner Gymnasialzeit drei Semester Rechtswissenschaften in Heidelberg und München, hörte aber lieber Kunstgeschichte und Philosophie. Während eines durch sein Lungenleiden notwendig gewordenen Kuraufenthalts in Sils-Maria faßt er den Entschluß, Medizin zu studieren, mit einem Seitenblick auf Psychiatrie und Philosophie. Er beschließt dieses Studium 1908 mit einer Dissertation Heimweh und Verbrechen, wird 1909 Volontärassistent an der Psychiatrischen Klinik in Heidelberg. Damit beginnt sich die künftige akademische Laufbahn abzuzeichnen. Sicherlich ist die Heidelberger Psychiatrische Klinik eine der in Deutschland führenden, aber über eine klassifikatorische Betrachtung der Geisteskrankheiten als Schizophrenien und Manien ist man auch dort noch nicht so recht hinaus. Mit einer Reihe von Arbeiten – über Entwicklung und Prozeß psychischer Erkrankungen, den Begriff der Demenz, über Trugwahrnehmungen u.a.m. – tastet sich J. an eine dem Vorbild Wilhelm Diltheys verpflichtete, genetisch-verstehende Theorie der Geisteskrankheiten heran. Er habilitiert sich 1913 bei Wilhelm Windelband im Fach Psychologie; im selben Jahr erscheint seine Allgemeine Psychopathologie. Ein Leitfaden für Studierende, Ärzte und Psychologen (1946 vollständig neubearbeitet), die sich rasch den Ruf eines theoretischen Grundlagenwerks der Psychiatrie erworben hat. J. hat sich nach dem Erscheinen dieses Buchs nur noch gelegentlich mit speziellen psychiatrischen Fragestellungen beschäftigt. Infolge seines Lungenleidens, das ihn wie ein ständig drohender Schatten verfolgte, früh vom therapeutischen Wert der Philosophie überzeugt, hat er stets deren Nähe gesucht. Er gehörte dem Kreis um Max Weber an, in dessen Person sich für J. unbedingte Wissenschaftlichkeit und menschliche Größe vorbildlich zusammenfanden. Er befreundete sich mit Heidegger, war bekannt mit Husserl und Geiger, Lask, Scheler und Simmel, Bloch und Lukács. Mit dem Heidelberger Neukantianer Heinrich Rickert lag er – naturgemäß – in Dauerfehde. Als J. 1922 neben ihm den zweiten Lehrstuhl für Philosophie übernahm, sah Rickert das Ende der Philosophie nahen.
In Wirklichkeit aber hat sie mit der Psychologie der Weltanschauungen, die J. 1919 veröffentlichte, bereits einen neuen Anfang genommen: J. hat damit das erste Buch der modernen Existenzphilosophie vorgelegt. Es zeigt sein Denken im Übergang von der Psychologie zur Philosophie. Sein vorrangiges Interesse gilt dabei nicht den psychologisch möglichen Einstellungen und Weltbildern, sondern den seelischen Antrieben, die hinter den weltanschaulichen Manifestationen stecken und von diesen nicht zufriedengestellt werden. Angesichts dieses Sachverhalts – der Frage, worin die Seele denn ihren Halt findet – ist für J. die Erfahrung der »Grenzsituation« von entscheidender Bedeutung. In sie gerät der Mensch, wenn er die mit dem Dasein unvermeidlichen Erfahrungen wie Tod, Schuld, Leiden, Geschichtlichkeit der Situation macht. Er kann diese Erfahrungen weltanschaulich »verschleiern«, aber es kommt darauf an, diese Grenzen erkennend zu überschreiten, um sich als Existenz gegenüber der Transzendenz zu erfahren und so den herrschenden Skeptizismus und Nihilismus zu überwinden. Diesen kulturkritischen Appell einer philosophierenden »Existenzerhellung« hat J. im Vorwort seines Buchs unterstrichen: »Dieses Buch hat nur Sinn für Menschen, die beginnen, sich zu verwundern, auf sich selbst zu reflektieren, Fragwürdigkeiten des Daseins zu sehen, und auch nur Sinn für solche, die das Leben als persönliche, irrationale, durch nichts aufhebbare Verantwortung erfahren. Es appelliert an die freie Geistigkeit und Aktivität des Lebens durch Darbietung von Orientierungsmitteln, aber es versucht nicht, Leben zu schaffen und zu lehren.«
Als 1000. Band der Sammlung Göschen ließ J. 1931 eine überaus erfolgreiche Studie folgen: Die geistige Situation der Zeit. Im Interesse der Existenzerhellung zeigt er die Grenzen der gegenwärtigen »Daseinsordnung« auf und unterzieht in einem weiten geschichtsphilosophischen Bogen die Herrschaft der Technisierung, die Erscheinung der Massengesellschaft, die Entfremdung von Arbeitswelt und Lebenswelt einer umfassenden Kritik. Das Ziel dieses Buches besteht im Aufruf zu einer Veränderung: »Jeder weiß, daß der Weltzustand, in dem wir leben, nicht endgültig ist.« Aber J. warnt entschieden vor einer oberflächlichen, z.B. politischen Interpretation dieses Aufrufs. Er stellt nicht nur die Frage nach der Nivellierung und Vermassung des Geistes, sondern fragt auch nach den Absichten und Zwecken derjenigen, die dieses Geschäft betreiben – ein Zusammenhang, den er nach 1945 unter veränderten Vorzeichen mehrfach scharf kritisiert hat. Das Buch von 1931 jedenfalls hat er mit einer »betrachtenden und erweckenden Prognose« beschlossen: »Was geschehen wird, sagt keine zwingende Antwort, sondern das wird der Mensch, der lebt, durch sein Sein sagen. Die erweckende Prognose des Möglichen kann nur die Aufgabe haben, den Menschen an sich selbst zu erinnern.« In einem kurzen Nachtrag zur Neuausgabe dieses Buchs im Jahr 1946 – bei weitem keine äußerliche Tatsache – hat J. vermerkt: »Dieses Buch ist im Jahre 1930 geschrieben. Ich hatte damals kaum Kenntnis vom Nationalsozialismus, etwas mehr Kunde vom Faschismus. In der Befriedigung über den gerade erreichten Abschluß des Manuskripts war ich bei den Septemberwahlen 1930 erstaunt und erschrocken über den damals ersten Erfolg der Nationalsozialisten. Das Manuskript blieb ein Jahr liegen, da ich es nicht an die Öffentlichkeit lassen wollte ohne meine Philosophie.«
Nicht ganz unwichtig erscheint, diesen intentionalen Zusammenhang mit der dreibändigen Philosophie von 1932 (Philosophische Weltorientierung; Existenzerhellung; Metaphysik) im Auge zu behalten – auch was die Protesthaltung von J. nach 1945 anlangt. Er hat mit dieser Philosophie den Versuch gemacht, den methodischen Gang seines Philosophierens umfassend zu beschreiben. Es versucht, sich zunächst in der Welt der Objekte, der wissenschaftlichen Objektivierungen, der Kunst, der Religion, der Philosophie zu orientieren. Es erkennt aber letztlich die Grenzen dieser Weltorientierung durch die Erfahrung eines in philosophische Logik übersetzten ursprünglichen Suchens, die als vorläufige Form der »Existenzerhellung« ihre eigene Dynamik entfaltet. In einer Annäherung von Philosophie und Religion rückt J. »Wahrheit« und »Gemeinschaft« in der existenziellen Kommunikation zusammen; eine geistesaristokratische Symbiose, in der sich der Mensch nur philosophierend als mögliche Existenz erweist. Metaphysischer Zielpunkt dieses sich aus sich selbst heraustreibenden Philosophierens ist das Lesen der »Chiffrenschrift«, über die nichts weiter ausgemacht ist, als daß der Mensch durch sie seine transzendentale Geborgenheit erfährt, zugleich aber auch sein Scheitern an ihr: »Nicht durch Schwelgen in der Vollendung, sondern auf dem Weg des Leidens im Blick auf das unerbittliche Antlitz des Weltdaseins, und in der Unbedingtheit aus eigenem Selbstsein in Kommunikation kann mögliche Existenz erreichen, was nicht zu planen ist und als gewünscht sinnwidrig wird: im Scheitern das Sein zu erfahren.« J. hat diese doppeldeutige Transzendenz und die chiffrenhafte Weise ihrer Erfahrung von allen religionsphilosophischen und geschichtsphilosophischen Inhalten freigehalten, welche die Moderne bestimmt haben. Er geriet damit zwangsläufig im Spektrum der Existenzphilosophie in weitgreifende Differenzen zu Heidegger und Sartre und in die Nähe der Theologie seiner Zeit. Ein »Irrationalist« – wie man ihm gelegentlich vorgeworfen hat – war J. damit nicht; aber es entsprach doch einer merkwürdigen Zwiespältigkeit seines Denkens, wenn er als philosophisch-moralische Instanz von höchstem Ansehen zu Fragen der deutschen Geschichte und der gegenwärtigen Politik auf die in seiner Philosophie geleistete Kritik der Weltorientierung als zentrales Argument zurückgriff. Eine philosophische Antwort auf die mit Nietzsche und Kierkegaard beschriebene Ausgangslage der europäischen Modernität – auch im Sinne einer politischen Philosophie der Verweigerung – hat J. nicht gegeben.
Die Wirklichkeit nach 1933 verlangte Bescheideneres, Lebensnäheres. Zunächst wurde J. von der Universitätsverwaltung ausgeschlossen, aber noch glaubte er, wie viele Bürgerliche, daß der Spuk der Nationalsozialisten rasch verfliegen werde. 1935 legte er die Geschäftsführung des Philosophischen Seminars nieder, 1937 wurde er im Zuge einer Verwaltungsvereinfachung in den vorzeitigen Ruhestand versetzt; ab 1938 verhinderte die Reichsschrifttumskammer, daß weitere Veröffentlichungen erschienen. Obwohl seine Frau Gertrud unter die Nürnberger Gesetze fiel, reiste das Ehepaar J. nicht aus Deutschland aus. Während der Kriegsjahre war ständig mit der Verhaftung durch die Gestapo und dem Abtransport in ein Konzentrationslager zu rechnen. Für diesen Fall hatte J. mit Zyankali vorgesorgt. Unmittelbar nach dem Waffenstillstand trieb er die Wiedereröffnung der Heidelberger Universität voran. Im Wintersemester 1945/46 hielt er eine Vorlesung über die Schuldfrage (1946 als Buch erschienen) und betonte: »Wir Überlebenden haben den Tod nicht gesucht. Wir sind nicht, als unsere jüdischen Freunde abgeführt wurden, auf die Straße gegangen, haben nicht geschrieen, bis man auch uns vernichtete. Wir haben es vorgezogen, am Leben zu bleiben mit dem schwachen, aber auch richtigen Grund, unser Tod hätte nichts helfen können. Daß wir leben, ist unsere Schuld. Wir wissen vor Gott, was uns tief demütigt.« Zusammen mit Dolf Sternberger gründete er die Zeitschrift Die Wandlung, die als Instrument einer geistigen und ethischen Erneuerung gedacht war. J. galt in jenen unmittelbaren Nachkriegsjahren im In- und Ausland als einer der ganz wenigen großen Repräsentanten des »anderen Deutschland«.
Dennoch folgte er 1948 einem Ruf der Universität Basel. J. veröffentlichte im Laufe der Jahre eine Reihe von Schriften, die das Verständnis seines existenzphilosophischen Ansatzes vertieften und andeutungsweise in Richtung einer Philosophie der Vernunft verschoben (Von der Wahrheit, 1947; Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, 1947; Der philosophische Glaube, 1948; Einführung in die Philosophie, 1950; Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, 1962), aber auch Autobiographisches (Schicksal und Wille, 1967). Es war eine Zeit der Ehrenmitgliedschaften und Ehrenpromotionen, der Preise und Auszeichnungen, aber auch eine Zeit, in der er in der breiten Öffentlichkeit seine warnende Stimme erhob und ein vielfältiges Echo fand (Die Atombombe und die Zukunft des Menschen. Politisches Bewußtsein in unserer Zeit, 1957; Hoffnung und Sorge. Schriften zur deutschen Politik 1945..1965, 1965; Wohin treibt die Bundesrepublik? Tatsachen, Gefahren, Chancen, 1966). Seinem philosophischen Grundgestus ist er damit bis zuletzt treu geblieben.
In jüngster Zeit kommt J. als einem Denker nach allen Ontologien wieder gesteigerte Aufmerksamkeit zu. Sein Versuch, die weltgeschichtliche Entwicklung mit dem Konstrukt der »Achsenzeit« geschichtsphilosophisch zu untermauern, findet Eingang in die soziologische Kulturtheorie. Von Interesse ist seine Philosophie als eine Haltung kommunikativer Vernunft – ebenso seine Bestimmung der Grenzen wissenschaftlicher Rationalität. Für eine philosophische Interpretation symbolischer Formen ist J.’ Chiffrenbegriff zentral, dem Ernst Bloch eine »physiognomische Phantasie« bescheinigte und der eine geistige Erfahrung faßt, die sich in der Nähe des eschatologischen Denkens weiß. J. ist neben Heidegger der zweite große Vertreter der Existenzphilosophie in Deutschland. Er hat breit als lebenspraktisches Vorbild bis in die 70er Jahre auf Pädagogik (O. F. Bollnow u.a.) und evangelische Theologie (R. Bultmann u. a.) eingewirkt. Sein Einfluß auf die Grundlagen und Methoden der modernen Psychiatrie aus dem philosophischen Geist der »Existenzerhellung« ist noch wenig erforscht.
Bormuth, Matthias: Lebensführung in der Moderne. Karl Jaspers und die Psychoanalyse. Stuttgart-Bad Cannstatt 2002. – Wiehl, Reiner/Kaegi, Dominic (Hg.): Karl Jaspers. Philosophie und Politik. Heidelberg 1999. – Harth, Dietrich (Hg.): Karl Jaspers. Denken zwischen Wissenschaft, Politik und Philosophie. Stuttgart 1989. – Hersch, Jeanne/Lochmann, Jan Milic/Wiehl, Reiner (Hg.): Karl Jaspers. Philosoph, Arzt, politischer Denker. München/Zürich 1986. – Burkard, Franz-Peter: Karl Jaspers. Einführung in sein Philosophieren. Würzburg 1985. – Salamun, Kurt: Karl Jaspers. München 1985. – Habermas, Jürgen: Karl Jaspers. In: Ders.: Philosophisch-politische Profile. Wozu noch Philosophie? Frankfurt am Main 1981. – Saner, Hans: Karl Jaspers. Reinbek 1970.
Bernd Lutz
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