Metzler Philosophen-Lexikon: Johannes Philoponos
Geb. um 490 n. Chr;
gest. um 575 n. Chr. in Alexandria
Die Spätantike rühmte viele Philosophen als »Arbeitsliebhaber« (»philóponos«). Aber allein dem christlichen Universalgelehrten J. bewahrt die Tradition diesen ehrenden Beinamen. Sie würdigt damit den Umfang und die Qualität seines literarischen Werkes. Vieles ist verlorengegangen, aber das Erhaltene kündet eindrucksvoll von der Produktivität und den Fähigkeiten des J. Hinter der Leistung tritt Persönliches zurück, nur wenig Sicheres ist über das Leben bekannt. Sich selbst bezeichnet J. zwar als »grammatikós«, doch betreibt er weit mehr als nur Philologie. Es gibt beinahe kein Gebiet der antiken Hochschulwissenschaft und Theologie, auf dem er nicht tätig ist. Vor allem als Aristoteles-Kommentator macht er sich einen Namen und liefert in der Auseinandersetzung mit dem Meister und der Geistestradition insgesamt wegweisende Beiträge zur Naturphilosophie. Studiert hat er bei Ammonios Hermeiu, der an der Hochschule Alexandrias die fruchtbare Zeit des 6. Jahrhunderts einleitete. Dessen Vorlesungen zu den beiden Analytiken, zu De Generatione et Corruptione und zu De Anima des Aristoteles schreibt er mit und versieht sie mit eigenen Bemerkungen. Ohne eine solche Vorlage verfaßt er die Kommentare zu den Kategorien (wohl vor dem Jahr 517), zur aristotelischen Physik (517) und zum ersten Buch der Meteorologie (nach 529). Im Physikkommentar entwickelt er u.a. die von Galilei aufgegriffene, der Neuzeit selbstverständlich anmutende sog. Impetuslehre: Die Übertragung einer Kraft auf einen Gegenstand, etwa das Werfen eines Steines, geschieht nicht, wie Aristoteles glaubt, dadurch, daß die Luft durch den Werfer dazu gebracht wird, die Kraft sukzessiv weiterzuvermitteln, sondern der Stein fliegt, weil der Werfer ihm direkt die Kraft, den Impetus, vermittelt. Ein anderes Beispiel seines analytischen Verstandes ist die Schrift De aeternitate mundi (529). Darin demonstriert er mit scholastischer Akribie gegen die Weltewigkeitslehre des Proklos Anfang und Endlichkeit der Materie, d.h. den christlichen Schöpfungsglauben, indem er z.B. in bis dahin nicht gekannter Weise den Unendlichkeitsbegriff des Aristoteles problematisiert oder zeigt, daß die »prima materia« des Aristoteles nur als dreidimensionale Erstreckung verstanden werden könne. Die Kritik an Aristoteles führt er in der durch paraphrasierende Auszüge des Gegners Simplikios erhaltenen Schrift Contra Aristotelem wenig später weiter. Neben philosophischen Themenstellungen befaßt er sich mit Arithmetik, Astronomie und wohl auch Medizin. Seine Schrift über das Astrolab, ein Gerät zur Bestimmung von Sternpositionen, gilt als ältester erhaltener Text über dieses Instrument.
Die Fruchtbarkeit des geschulten Denkens und des gelehrten, sorgfältigen Abwägens von Hypothesen für theologische Themenstellungen zeigen Werke, die in die Zeit nach 547 fallen. De opificio mundi (zwischen 547 und 560) ist die älteste erhaltene Schrift zum biblischen Schöpfungsbericht in Form des wissenschaftlichen Kommentars. Sie geht der Frage nach, in welcher Weise Schöpfungsgeschichte und Naturerkenntnisse miteinander in Beziehung stehen. Für J. hat die Bibel wichtige Einsichten damaliger Kosmologie vorweggenommen: So lehrt sie das von den Philosophen favorisierte ptolemäische Weltbild mit der Erde als Kugel im Weltzentrum. Mit dieser »modernen« Sichtweise wendet sich J. gegen die bei vielen Christen durch Lehrer der antiochenischen Theologenschule verbreitete Vorstellung, die Erde sei eine flache Scheibe. Auch in die Christologie, Trinitäts- und Auferstehungslehre bringt J. seine philosophischen Begriffsbildungen ein. Als Mitglied der monophysitischen Kirche gibt er in seinem christologischen Hauptwerk Diaitētḗs (Schiedsrichter, syrisch erhalten, um 553) der Anschauung von der »phýsis« als Einheitsprinzip in Christus neue spekulative Impulse. Auf schnelle Ablehnung sind seine Gedankengänge zu den drei Hypostasen der einen Gottheit in De trinitate (ca. 567, syrische Fragmente) gestoßen. – Daß sich J. jedoch nicht vergeblich abgemüht hat, wie die Polemik ihm wegen seiner eigenwilligen Trinitätslehre nachsagte, indem sie seinen Beinamen zu »mataióponos« verballhornte, zeigt die Überlieferung und die Diskussion seiner Schriften bei arabischen Philosophen. Diese haben auch den Weg für die mittelalterliche Rezeption des J. im lateinischen Westen gebahnt.
Lang, U. M.: John Philoponus and the Controversies over Chalcedon. Löwen 2001. – Fladerer, L.: Johannes Philoponos. De opificio mundi. Spätantikes Sprachdenken und christliche Exegese. Stuttgart/Leipzig 1999. – Haas, F.A.J. de: John Philoponus’ New Definition of Prime Matter. Leiden 1997. – Wildberg, C.: John Philoponos’ Criticism of Aristotle’s Theory of Aether. Berlin 1988. – Sorabji, R. (Hg.): Philoponos and the Rejection of Aristotelian Science. London 1987.
Clemens Scholten
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