Metzler Philosophen-Lexikon: Jung, Carl Gustav
Geb. 26. 7. 1875 in Kesswil/Thurgau;
gest. 6. 6. 1961 in Küsnacht
»Was für eine Therapie man wähle, hängt davon ab, was man für ein Mensch ist« – diese Abwandlung des bekannten Fichteschen Mottos drängt sich geradezu auf angesichts der beiden Gründungsväter der modernen analytischen Psychologie, Sigmund Freud und J., die beide gleichermaßen von der Wissenschaftlichkeit ihrer Gesamttheorie überzeugt waren. Dabei stand die Leistung J.s lange Zeit im Hintergrund gegenüber der seines Lehrers; erst heute wird, im Zeichen einer umfassenden Technik- und Rationalitätskritik, auch die philosophische Bedeutung des Werkes in breitem Umfang neu entdeckt und gewürdigt.
J. stammt aus den ärmlichen Verhältnissen einer evangelisch-reformierten Landpfarrersfamilie am schweizerischen Bodensee und lebt schon als Kind gleichsam in einer Doppelwelt (der »langweilige« Konfirmandenunterricht des kirchlich beamteten Vaters gegenüber dem lebendigen Bewußtsein, »daß Gott, für mich wenigstens, eine der allersichersten, unmittelbaren Erfahrungen war«). Nach dem Gymnasium in Basel studiert J. dort von 1895 bis 1900 Medizin; der Titel seiner Doktorarbeit, Zur Psychologie und Pathologie sogenannter okkulter Phänomene (1902), zeigt schon sein frühes Interesse an der Erforschung von Bereichen der Wirklichkeit, die sich der Alltagserfahrung entziehen. Der Entschluß, Psychiater zu werden, erlaubt ihm die Verbindung seiner philosophischen Interessen mit der Medizin und den Naturwissenschaften. Während der »Lehrjahre« an der psychiatrischen Universitätsklinik Burghölzli in Zürich (1900–1909) kann er sich an einem der führenden Institute seiner Zeit eine ebenso breite wie fundierte Erfahrungsbasis erwerben, insbesondere auf dem Gebiet der Schizophrenie. 1903 verheiratet sich J. mit der Industriellentochter Emma Rauschenbach; alles deutet darauf hin, daß sich hier die erfolgreiche Karriere eines Oberarztes, Privatdozenten und ab 1909 frei praktizierenden Psychiaters in Küsnacht anbahnt.
Aber: J. war schon früh auf das im Entstehen begriffene Werk Freuds gestoßen, der 1895 zusammen mit Josef Breuer die Studien über Hysterie und 1900 die nicht weniger bahnbrechende Traumdeutung veröffentlicht hatte. 1906, im Zusammenhang mit seiner Arbeit Über die Psychologie der Dementia praecox, eröffnet J. einen Briefwechsel mit Freud, dem im Februar 1907 ein Besuch in Wien folgt: »Freud war der erste wirklich bedeutende Mann, dem ich begegnete.« Im September 1909 reist J. zusammen mit Freud und dessen Schüler Sándor Ferenczi zu Gastvorlesungen an die Clark University in Worcester/Mass. Das zunächst sehr intensive, dann aber von fortschreitender Entfremdung gekennzeichnete Verhältnis zwischen Freud und J. – von 1910 bis 1914 Präsident der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung – ist nicht einfach zu beschreiben, da sich hier persönliche und sachbezogene Differenzen überlagerten. Wie die Diskussion etwa um die Rolle der Sexualität, den Begriff der Libido oder die Funktion der Religion zeigt, sind hier letztlich gegensätzliche weltanschauliche Grundeinstellungen aufeinandergeprallt. Gegenüber dem prinzipiell antimetaphysischen, rational-aufklärerischen Freud bejaht J. entschieden einen Erfahrungsbereich, den man im weitesten Sinne als »religiös« bezeichnen kann – eine Differenz, die zu sehr unterschiedlichen Gesamtkonzeptionen geführt hat. In Wandlungen und Symbole des Libidobegriffs aus dem Jahre 1912 kommt dieser Unterschied bereits voll zum Tragen – »Ich wußte, daß es ums Ganze ging« –, und nach seinem Rücktritt als Präsident im April 1914 verläßt J. drei Monate später auch die Psychoanalytische Vereinigung.
Sein eigentliches Werk hat J. erst in der zweiten Hälfte seines Lebens geschaffen. Dem ging, etwa von 1913 bis 1918, eine tiefe Krise voraus, die er auch als seelische »Nachtmeerfahrt« bezeichnet hat – eine introspektive Erfahrung, die die Grenzen des scheinbar so kerngesunden, lebensbejahenden Schweizers zu sprengen drohte: »Die Jahre, in denen ich den inneren Bildern nachging, waren die wichtigste Zeit meines Lebens, in der sich alles Wesentliche entschied. Meine gesamte spätere Tätigkeit bestand darin, das auszuarbeiten, was in jenen Jahren aus dem Unbewußten aufgebrochen war und was mich zunächst überflutete.« Diese Ausarbeitung besteht in der Objektivierung des persönlichen Krisen- und Heilungsprozesses einerseits, der Entwicklung eines neuen therapeutischen Ansatzes andererseits. Objektivierung – »Meine Resultate schienen in der Luft zu hängen, indem sich nirgends eine Vergleichsmöglichkeit bot« – meint hier, daß J. sich in den folgenden Jahren und Jahrzehnten intensiv mit den (Bild-) Welten der christlichen Gnosis, der Mystik, der östlichen und europäischen Alchimie sowie generell des Mythos und Märchens auseinandersetzt und in diesen so verschiedenen Welten gewisse allgemein vergleichbare Bilder, Strukturen und symbolische Wandlungsprozesse der Person entdeckt, die den Erfahrungen der eigenen »Nachtmeerfahrt« verwandt sind. Sie liegen gleichsam noch eine Schicht tiefer als das, was bisher (persönliches) Unbewußtes genannt wurde und das er daher als »kollektives Unbewußtes« bezeichnet – seine in dieser Differenzierung entscheidende Entdeckung. Das kollektive Unbewußte ist, vereinfacht gesagt, als Generator von allen Menschen gemeinsamen Urbildern – Archetypen – vorzustellen, die im Moment ihrer Wahrnehmung bzw. Erzeugung jedoch immer auch verändert und so zu mehr oder weniger persönlich gefärbten »archetypischen Vorstellungen« werden. Als »Erlebniskomplexe, die schicksalhaft eintreten«, spiegeln bzw. begleiten sie das Drama der Seele auf ihrem Lebensweg: etwa der Archetyp des Lebens selbst, die »Seele«; das »Wasser«, Archetyp des Unbewußten schlechthin; »der alte Weise« als Archetyp von »Sinn« (Die Archetypen des kollektiven Unbewußten, 1934). Der bevorzugte Zugang zu dieser Schicht der Persönlichkeit ist für J. der Traum. Gegenüber Freuds auf »Wunscherfüllung« basierendem, letztlich kausalem Deutungsansatz geht J. auch von einer finalen Kontinuität aus (»Wozu geschieht es?«) – der Traum ist ihm immer »spontane Selbstdarstellung der aktuellen Lage des Unbewußten in symbolischer Audrucksform«, weshalb er auch den Begriff einer »Traumzensur« zurückweist. (Allgemeine Gesichtspunkte zur Psychologie des Traums, 1916/1928). Generell verhält sich der Traum »kompensatorisch« zur jeweiligen Bewußtseinslage des Träumers, und hier liegt auch der Ansatz der jungianischen Therapie: Im gemeinsamen Durcharbeiten seiner Träume stößt der Patient mit dem Erfassen der Bedeutung ihrer Symbolik zu den Ebenen seines persönlichen wie des kollektiven Unbewußten vor; in Auseinandersetzung mit dem »Schatten« seines oft maskenhaft verzerrten Ich findet er so sein »Selbst«. Diesen Prozeß nennt J. »Individuation«. Sowohl subjektiver Integrations- wie objektiver Beziehungsvorgang ist ihr Ziel: »Einswerdung mit sich selbst und zugleich mit der Menschheit.«
J., dessen Schülerkreis sich ab 1916 im Psychologischen Club in Zürich organisierte, wurde im Laufe der 20er und vor allem der 30er Jahre zu einer international anerkannten Persönlichkeit, insbesondere in England und den USA. Ein dunkles Kapitel der Biographie ist hingegen sein Verhältnis zum Nationalsozialismus. In gefährlicher Weise »ein ganz unpolitischer Mensch« – wie er sich selbst sah –, erlag er der von seinem Denken her naheliegenden Versuchung, die nationalsozialistische Bewegung als schicksalhafte Realisierung autonomer, überpersönlicher seelischer Kräfte zu sehen (Wotan, 1936); als Präsident der Internationalen Gesellschaft für ärztliche Psychotherapie und Herausgeber des Zentralblattes für Psychotherapie und ihre Grenzgebiete ließ er sich öffentlich über den Unterschied zwischen jüdischer und arischer Psychologie aus. In den Aufsätzen Nach der Katastrophe (1945) und Der Kampf mit dem Schatten (1946) hat er sich korrigiert und Hitler gedeutet als »den Schatten, den inferioren Teil von jedermanns Persönlichkeit«, dem man aus diesem Grunde verfiel – womit er sich selbst eingeschlossen haben dürfte.
J.s Persönlichkeit zeichnet sich durch eine ungeheure Schaffenskraft aus: als Gelehrter mit einem immensen – uvre, als Therapeut und nicht zuletzt als begabter Handwerker. Auf ausgedehnten Studienreisen nach Afrika, zu den Pueblo-Indianern und nach Indien hat er sich umfassende Kenntnisse außereuropäischer Denkformen erworben und war selbst maßgebend beteiligt an ihrer Verbreitung im Westen: Kommentare zum Geheimnis der Goldenen Blüte (1929), einem altchinesischen alchimistischen Werk; zum Tibetanischen Totenbuch (1935) und zum tibetischen Buch der großen Befreiung (1955); Einführung in das Wesen der Mythologie (1942), in Zusammenarbeit mit dem Mythenforscher Karl Kerényi. Dennoch hat J. stets an den europäischen Voraussetzungen seiner Existenz festgehalten, so z.B. empfohlen, den Yoga zu studieren, ihn aber nicht anzuwenden (»Weit besser schiene es mir, sich entschlossen zur geistlichen Armut der Symbollosigkeit zu bekennen, statt sich ein Besitztum vorzutäuschen, dessen legitime Erben wir auf keinen Fall sind«). Die drei Bände des Mysterium Coniunctionis (1955/57) stellen den Wandlungsprozeß des Selbst in der Alchemie in umfassender Weise dar. In dem sehr persönlichen Spätwerk Antwort auf Hiob (1952) befaßt sich J. mit dem »dunklen« Aspekt Jahwes, seiner – in der offiziellen Lehre unterdrückten – paradoxen Natur als Schöpfer des Guten und Bösen zugleich – womit, in der für J. maßgebenden gnostisch-häretischen Linie des Christentums, eine Brücke gefunden ist zum polaren östlichen Denken, wie es etwa in der Symbolik von Yin und Yang zum Ausdruck kommt. So ist J., Entdecker der transkulturellen archetypischen Symbolik im Selbst, zugleich der bleibende Anstoß, diese in der eigenen europäischen Tradition, unter der säkularen Voraussetzung eines »konsequent zu Ende gelebten Protestantismus«, wiederzufinden.
Wehr, Gerhard: C. G. Jung – mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek 2003. – Fetscher, Rolf: Grundlinien der Tiefenpsychologie von S. Freud und C. G. Jung in vergleichender Darstellung. Stuttgart 1978. – Jaffé, Aniela (Hg.): Erinnerungen, Träume, Gedanken. Zürich/Stuttgart 1963.
Christoph Helferich
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