Metzler Philosophen-Lexikon: Kautsky, Karl
Geb. 16. 10. 1854 in Prag;
gest. 17. 10. 1938 in Amsterdam
Zu seinen Lebzeiten galt er den einen als »Lehrmeister der Klasse« des Proletariats (Karl Renner), den anderen als bläßlicher »Stubengelehrter« (Leo Trotzki), als Revisionist, gar Renegat des Marxismus. Das Bild K.s als maßgeblicher Ideologe und Propagandist des parteioffiziellen Marxismus der Zweiten Internationale unterliegt bis heute starken Bewertungsschwankungen, je nachdem, welche politisch-weltanschauliche Perspektive der Betrachter einnimmt. Im Ganzen überwiegt eine negativ-abwertende Haltung gegenüber Gestalt und Werk K.s, umgibt ihn doch als Theoretiker weder der intellektuelle Glanz von Marx noch die revolutionäre Aura Rosa Luxemburgs und Lenins. Erst in jüngster Zeit sind Bemühungen erkennbar, K. und seinem Wirken größere historische Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
1854 in Prag geboren, entstammte K. einem bürgerlich-künstlerischen Elternhaus – der Vater war Theatermaler, die Mutter Schauspielerin und Schriftstellerin. Seinen bürgerlichen Habitus hat K. auch als Intellektueller, der seine Fähigkeiten und sein Wissen in den Dienst der Arbeiterbewegung stellte, nie ablegen können und wollen, weshalb ihn seine Kritiker einen »Partei gewordenen deutschen Professor« nannten. Mit der Umsiedlung der Familie K.s nach Wien (1862) wurde der Junge rasch ins deutschsprachige kulturelle Milieu integriert. Die Ablösung von religiösen Wertvorstellungen geschah früh, nicht zuletzt unter dem Einfluß der materialistischen Denkweise, die für K., zusammen mit der zeitbedingten unbeirrbaren Wissenschafts- und Fortschrittsgläubigkeit (Darwinismus, Evolutionismus, Determinismus), lebenslang prägend blieb. Die Pariser Commune (1871) wurde für den jungen K. zur politisch einschneidenden Erfahrung; entschlossen wandte er sich den umlaufenden sozialistischen Ideen zu, weil er das Bedürfnis nach »Hebung und Befreiung aller Elenden und Geknechteten« verspürte. Freilich überwand K. diesen jugendlichen »Gefühlssozialismus« bald, indem er sich ernsthaft der Lektüre vor allem der Marxschen Schriften widmete. Zu Beginn seines Studiums, 1875, trat K. der österreichischen sozialistischen Partei bei. »Der Rubicon ist überschritten, alea est jacta!«, notierte er im Tagebuch. »Ich bin in die Sozialdemokratische Partei aufgenommen, nur als Verräter kann ich sie wieder verlassen.« Bis an sein Lebensende blieb er der Partei treu. K.s Aufstieg als Parteitheoretiker und Sachwalter der »reinen Lehre« des Marxismus vollzog sich in den 80er und 90er Jahren – in London lernte er noch Marx und Engels persönlich kennen –, als es ihm als Redakteur des theoretischen Zentralorgans der SPD, Die Neue Zeit, gelang, das Deutungsmonopol des Marxismus an sich zu ziehen. In erster Linie der Wirkung K.s ist es zuzuschreiben, daß die deutsche Sozialdemokratie, die zunächst stark von den staatssozialistischen Ideen Ferdinand Lassalles beeinflußt war, sich der Marxschen Lehre vom revolutionären Klassenkampf öffnete und diese schließlich zur verbindlichen Richtschnur ihres politischen Wollens und Handels erhob. Das Erfurter Programm von 1891, das erste Programm der SPD auf marxistischer Grundlage, trägt in seinen zentralen theoretischen Passagen eindeutig die Handschrift K. s. In zahllosen Artikeln und Büchern, in denen er zu ökonomischen, historischen und sozialen Fragen Stellung nahm, popularisierte K. eine orthodoxe Version des Historischen und Dialektischen Materialismus, deren auffälligstes Merkmal die Abstinenz gegenüber philosophischer Reflexion ist, die das in der Tradition Hegels stehende Marxsche Werk auszeichnet. Bücher wie Karl Marx ökonomische Lehren (1887), Thomas More und seine Utopie (1887), Die Vorläufer des neueren Sozialismus (1895), Der Ursprung des Christentums (1908), Die proletarische Revolution und ihr Programm (1922) und Die materialistische Geschichtsauffassung (1927) stempelten K. zum Vertreter des Kautskyanismus bzw. eines »Zentrismus«, der sich einerseits gegen die revisionistischen und reformistischen Vorstellungen Eduard Bernsteins, andererseits gegen den aktionistischen Radikalismus Rosa Luxemburgs abgrenzte. Mit dem Tod des Parteiführers August Bebel (1913), mit dem gemeinsam K. die SPD jahrzehntelang politisch und theoretisch dominierte, schwand auch sein Einfluß auf die Partei. 1917 wurde K. als Redakteur der Neuen Zeit abgelöst, im selben Jahr trat er aus Enttäuschung über die Haltung der Sozialdemokratie zur Kriegsfrage der USPD bei. Lenins und Trotzkis revolutionärem Experiment in Rußland begegnete er von Beginn an mit Mißtrauen, ja Feindschaft. Seine Schriften Terrorismus und Kommunismus (1919) und Von der Demokratie zur Staatssklaverei (1921) enthalten eine scharfe Abrechnung mit Lenins Putschismus und der bolschewistischen Diktatur. Noch einmal gewann K. Einfluß auf die SPD, als er deren Heidelberger Programm (1925) mitformulierte. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er als freier Schriftsteller und Publizist in Wien, das er kurz vor Hitlers Einfall in Österreich verließ. K. starb als Emigrant in Amsterdam. Seine Frau wurde von den Nationalsozialisten in Auschwitz umgebracht.
Lohmann, Hans-Martin: Marxismus. Frankfurt am Main/New York 2001. – Gilcher-Holtey, Ingrid: Das Mandat des Intellektuellen. Karl Kautsky und die Sozialdemokratie. Berlin 1986. – Kolakowski, Leszek: Die Hauptströmungen des Marxismus, Bd. 2. München 1978. – Vranicki, Predrag: Geschichte des Marxismus, Bd 1. Frankfurt am Main 1972.
Hans-Martin Lohmann
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.