Metzler Philosophen-Lexikon: Kojève, Alexandre (d. i. Aleksandr Kojevnikov)
Geb. 1902 in Moskau; gest. Mai 1968 in Paris
Wenn in Raymond Queneaus Roman Le dimanche de la vie (1951) die Hauptperson den Wunsch äußert, einmal die Stadt Jena besuchen zu wollen, weil dort die Geschichte zu Ende gegangen sei, dann ist das eine für die Zeitgenossen deutliche Anspielung auf K. So präsent war ihnen die originelle Figur des Russen, der mit seiner einzigen Vorlesung, einer Hegel-Interpretation, die »Generation der drei H« (Hegel, Husserl, Heidegger) so nachhaltig prägte, daß er zur Schlüsselfigur der französischen Philosophie in der Epoche des Existentialismus wurde. K. ging 1920 nach Deutschland, wo er in Berlin und Heidelberg sowohl fernöstliche wie abendländische Philosophie studierte und 1931 bei Karl Jaspers über Vladimir Solov’ëv promovierte. Dann zog er nach Paris weiter – wo er seinen Namen französisierte – und setzte von 1933 bis 1939 die von seinem Landsmann Alexandre Koyré am »Collège de France« gehaltene Vorlesung über Hegels Religionsphilosophie fort. Diese Fortsetzung wurden zu einer sechs Jahre anhaltenden kursorischen Interpretation von Hegels damals noch nicht ins Französische übersetzter Phänomenologie des Geistes. In Paris, wo in dieser Zeit an den Universitäten ein mathematisch orientierter Neukantianismus herrschte und Hegel, der in den philosophischen Handbüchern nur kurz abgetan wurde, kaum zum Programm gehörte, wurde diese heute legendäre Vorlesung zu einem Geheimtip der künftigen intellektuellen Elite. So befanden sich unter seinen Hörern Raymond Aron, Georges Bataille, André Breton, Pierre Klossowski, Jacques Lacan, Maurice Merleau-Ponty, Raymond Queneau, Eric Weil und der Jesuitenpater Fessard. Doch erst 1947 gab Queneau die Nachschriften dieser Vorlesung unter dem Titel Introduction à la lecture de Hegel (Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens) als Buch heraus und machte sie damit der Öffentlichkeit zugänglich. K. selber brach seine akademische Laufbahn ab und arbeitete bis zu seinem Lebensende als Beamter des französischen Wirtschafts- und Finanzministeriums für die OECD. Nach seinem Tod erschienen aus dem Nachlaß ein dreibändiger Essai d une histoire raisonnée de la philosophie païenne (1968, 1972, 1973) und ein Buch über Kant (1973).
Folgenreich an K.s Hegel-Interpretation war seine – aus späterer Sicht – »existentialistische« Deutung des Kampfes der Bewußtseine um gegenseitige Anerkennung auf Leben und Tod, mit dem sich das Selbstbewußtsein und damit der Geschichtsprozeß konstituieren. Daher stand für K. das Kapitel »Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewußtseins, Herrschaft und Knechtschaft«, dem in der Phänomenologie des Geistes die Bewußtseinsstufen der sinnlichen Gewißheit, der Wahrnehmung und des Verstandes vorausgehen, im Mittelpunkt: Da auf diesen drei Stufen der Mensch in passiver Betrachtung seines Gegenstands von dem Gegenstand absorbiert wird, können sie nicht erklären, was das Selbstbewußtsein ist, das ihn vom Tier unterscheidet. Selbstbewußtsein kann nur durch die Begierde entstehen, weil die Begierde nichts anderes ist als das Begehren, sich das betrachtete Objekt durch eine Tat anzueignen und sich ihm gegenüber dadurch als selbständig zu erweisen. Doch das gilt ebenso für die animalische Begierde, die noch nicht zum Selbstbewußtsein führt, weil die rein biologische Befriedigung vom bloßen Sein, von der Natur abhängig bleibt. Wer sich vom bloßen Sein wirklich befreien will, muß seine Begierde auf etwas Nichtseiendes richten, das heißt auf eine andere Begierde. Damit begehrt er nicht das Objekt, das der andere begehrt, sondern das Recht auf dieses Objekt, er begehrt also die Anerkennung durch den anderen. Und nur dadurch, daß der andere ihn anerkennt, gelangt er zum Selbstbewußtsein. Streben aber alle nach Selbstbewußtsein durch Anerkennung, dann herrscht überall ein Prestigekampf auf Leben und Tod. Endet dieser Kampf mit dem Tod beider Protagonisten, dann gibt er kein Selbstbewußtsein. Verliert nur einer von ihnen das Leben, gelangt der Sieger auch nicht zum Selbstbewußtsein, weil er sich ja nur von einem lebenden Subjekt anerkennen lassen kann. Unterwirft sich der andere jedoch, macht er sich zu seinem Knecht, so kann auch das seinen Herren nicht befriedigen, denn dadurch, daß jener die Knechtschaft dem Tod vorzog, bewies er seine Abhängigkeit vom Sein, das heißt seine Unselbständigkeit. Also kann der Herr auch von ihm sich nicht anerkennen lassen. Somit endet sein Sieg in einer Sackgasse. Vom Knecht aber geht die Entwicklung weiter: Da ihn der Herr zur Befriedigung seiner Begierden arbeiten läßt, unterwirft der Knecht durch seine Arbeit das Sein, indem er es verändert. Damit verändert er auch sich selbst, denn er beweist jetzt nachträglich Selbständigkeit gegenüber dem Sein, dessen Nichtigkeit ihn bereits seine Todesfurcht bei der Unterwerfung unter den Herrn gelehrt hatte, und gelangt nun seinerseits zum Selbstbewußtsein. Da sich dieses Selbstbewußtsein mit der Existenz des Herrn nicht mehr verträgt, wird er schließlich jede Herrschaft beseitigen. Zurück bleibt die Gesellschaft der freien Bürger, die einander anerkennen, weil sie durch Kampf oder Arbeit zur Selbständigkeit des Selbstbewußtseins gelangt sind. Damit vollendet sich die Geschichte, und alles, was folgt, ist nur die Durchsetzung ihrer Vollendung.
Hegel sah diesen Prozeß in der Französischen Revolution und in der Errichtung des Napoleonischen Weltstaates, und die ganze Phänomenologie des Geistes ist nach K. – der behauptete, vor dieser Erkenntnis kein Wort von ihr verstanden zu haben – eine philosophische Apologie Napoleons. 1937 war K. noch der Meinung, Hegel habe sich um etwa einhundert Jahre irren müssen, denn nicht Napoleon, sondern Stalin sei der Vollender der Geschichte. Aber seit Ende des Zweiten Weltkriegs war er davon überzeugt, Hegel habe sich doch nicht geirrt und mit Napoleons Sieg in Jena habe tatsächlich das »Ende der Geschichte« begonnen, denn sowohl in den kapitalistischen wie in den kommunistischen Industriegesellschaften verwirkliche sich trotz aller Rückschläge und Verzögerungen der homogene bürgerliche Weltstaat, den sich schon die Theoretiker der Französischen Revolution als eine stände-(klassen-)lose Gesellschaft vorgestellt hatten. Alle Kriege, Revolutionen, Restaurationen und Befreiungsbewegungen seitdem seien nur Kämpfe zu dessen allgemeiner Durchsetzung. Mit dem Ende der Geschichte war für K. auch die menschliche Rede zu Ende, das heißt die Rede, die nicht nur Paraphrase des bereits Gesagten ist, sondern etwas Neues sagt, und daher interessierte er sich für die Frage, wie der posthistorische Mensch aussehen würde. Hier sah er nur die Alternative zwischen dem animalischen »american way of life« eines alles umfassenden Konsums oder der »japanischen« Lösung des Snobismus durch Harakiri oder Kamikaze, bei dem man sein Leben für nichts aufs Spiel setzt. K. selbst zog die Konsequenz aus seiner Erkenntnis und schwieg oder dachte – wie es von der Parodie seiner Person in dem Queneauschen Roman heißt – »im allgemeinen an nichts, wenn aber doch, dann am liebsten an die Schlacht von Jena«, und genoß den »Sonntag des Lebens«, wie dieser Roman nach einem Hegelzitat heißt. K.s nachgelassenes Werk erwies sich denn auch lediglich als ergänzende Einführung in sein Denken. Gegen Ende seines Lebens verschaffte sich K. einen provokatorischen Abgang, indem er am 26. Juni 1967, auf dem Höhepunkt der Berliner Studentenbewegung, kurz vor dem Eintreffen Herbert Marcuses an der Freien Universität in einem Vortrag mit dem Titel Was ist Dialektik? Die Struktur der Rede seine Theorie vom Ende der Geschichte verkündete. Doch nicht diese Theorie hatte inzwischen unübersehbare Folgen für die französische Philosophie gehabt, sondern die Tatsache, daß er mit seiner Interpretation vom Prestigekampf auf Leben und Tod den rein erkenntnistheoretischen Rahmen des Neukantianismus gesprengt und eine dialektische Philosophie in das französische Denken eingeführt hatte, die auf die konkreten Beziehungen der handelnden Subjekte untereinander und damit zur Geschichte anwendbar war, was auch die bald einsetzende Rezeption des Marxismus prägte. Deutliche Spuren dieses Einflusses findet man z.B. sowohl in Maurice Merleau-Pontys Humanisme et terreur (1947) als auch beim Batailleschen Schlüsselbegriff der Souveränität, bei Jacques Lacans Auffassung der Begierde und indirekt bei Sartres Beschreibung der wechselweise agonistischen Beziehung zum Anderen.
Auffret, Dominique: Alexandre Kojève. Paris 1990. – Cooper, Barry: The End of History. Toronto 1984. – Descombes, Vincent: Das Selbe und das Andere. Fünfundvierzig Jahre Philosophie in Frankreich 1933–1978. Frankfurt am Main 1981. – Juszezak, Joseph: L’anthropologie de Hegel à travers la pensée moderne. Paris 1977.
Traugott König
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