Metzler Philosophen-Lexikon: Korsch, Karl
Geb. 15. 8. 1886 in Tostedt/Lüneburger
Heide; gest. 21. 10. 1961 in Belmont/Mass.
»Mein Lehrer ist ein enttäuschter Mann. Die Dinge, an denen er Anteil nahm, sind nicht so gegangen, wie er es sich vorgestellt hatte. Jetzt beschuldigt er nicht seine Vorstellungen, sondern die Dinge, die anders gegangen sind. Allerdings ist er sehr mißtrauisch geworden. Mit scharfem Auge sieht er überall die Keime zukünftiger enttäuschender Entwicklungen.« Als der Freund und marxistische »Schüler« Bertolt Brecht – als den er sich bekannt hat – 1930 sein kritisches Porträt über K. schreibt, ist dieser bereits vier Jahre aus der KPD ausgeschlossen; seine Hoffnungen, in der Partei und mit ihr – zu der er auf wechselvollen Wegen gefunden hat – einen neuen kritischen Marxismus durchzusetzen und eine revolutionäre Entwicklung (vor allem in Deutschland) zu fördern, sind weitgehend zerschlagen. In Deutschland sind die reaktionären Kräfte auf dem Vormarsch, die Tendenz zum Faschismus wird unübersehbar, und in der Sowjetunion weicht der revolutionäre Aufschwung immer mehr dem Parteibürokratismus Stalins. Brecht benennt den Widerspruch, der Leben und Werk des wohl eigenwilligsten modernen Philosophen des Marxismus nachhaltig bestimmt. K. ist überzeugter Marxist, ja er meint, durch einen Rückgriff auf Marx die – durch Lenin und Stalin – verschüttete revolutionäre Theorie neu entdeckt zu haben, er muß jedoch erkennen, daß weder der Parteikommunismus bereit ist, seiner Überzeugung zu folgen, noch die politische Entwicklung so vorangeht, daß sie real wirksam werden kann. Für den Parteikommunismus wird K. der Voluntarist, der ultralinke Revoluzzer bleiben; für die kritische bürgerliche Linke verkörpern er und seine Philosophie die Hoffnung, durch kritisches Denken die verkrusteten Verhältnisse – wie es im Jargon der 68er Jahre hieß – doch noch zum Tanzen zu bringen, und zwar im kommunistischen Osten ebenso wie im kapitalistischen Westen.
»Er glaubt fest an das Neue Ich glaube, er ist furchtlos. Was er aber fürchtet, ist das Verwickeltwerden in Bewegungen, die auf Schwierigkeiten stoßen. Er hält ein wenig zu viel auf seine Integrität, glaube ich« (Brecht). K. entstammt kleinbürgerlichen Verhältnissen, die ihn früh zum Widerspruch reizen; er engagiert sich während seines Studiums (Jura, Philosophie, Nationalökonomie) in der freistudentischen Bewegung und vertritt als Mitglied der (englischen) Fabian Society einen demokratischen Sozialismus. 1912 wird er Mitglied der SPD und schließt sich dort dem neukantianischen Bernstein-Flügel an. An der Revolution 1918/19 nimmt er aktiv als Arbeiter- und Soldatenrat in Meiningen teil, wechselt 1919 zur USPD, arbeitet zugleich aber an seiner bürgerlichen Karriere: als promovierter Jurist (1911) habilitiert er sich 1919 in Jena und wird dort 1923 ordentlicher Professor für Zivil-, Prozeß- und Arbeitsrecht. Die (gescheiterte und durch die SPD verratene) Revolution hat ihn aber längst in den Widerspruch seines Lebens gebracht. Alles sprach dafür, daß die objektiven Gegebenheiten den Erfolg der sozialistischen Revolution garantieren mußten; jedoch waren für K. die revolutionären Massen unfähig, ihre historische Chance zu nutzen: ihr Bewußtsein war hinter den Realitäten zurückgeblieben. Es gilt für ihn nun, eine kritischrevolutionäre Theorie zu erarbeiten, die das Versäumte nachholen ließe. Das bringt ihn sowohl beim Bürgertum in Verruf (reaktionäre Kräfte versuchen, ihm die Professur abzuerkennen) als auch in der KPD, deren Mitglied er 1923 wird.
1923 entsteht sein erstes philosophisches Hauptwerk Marxismus und Philosophie, das die Grundzüge seiner Philosophie im wesentlichen enthält. Es geht ihm um die »Wiederherstellung von Marx«. Dessen Theorie der Einheit von Denken und Handeln, von Begreifen und Verändern sieht er durch Lenins Widerspiegelungstheorie verschüttet; der Marxismus sei umgewandelt in eine bloß »wissenschaftliche Kritik« des bürgerlichen Kapitalismus, die darauf baue, daß der Übergang zum Sozialismus quasi automatisch erfolgt. K. setzt dagegen seine Deutung der 11. Feuerbachthese von Marx und Engels. Die dort formulierte Selbstaufhebung der Philosophie sei nicht als Einheit von Theorie und Praxis erkannt worden. Es handele sich um eine »schroffe Absage an alle solche, philosophische oder wissenschaftliche, Theorie, die nicht zugleich Praxis ist Theoretische Kritik und praktische Umwälzung, und zwar diese beiden als untrennbar zusammenhängende Aktion begriffen, als konkrete, wirkliche Veränderung der konkreten wirklichen Welt der bürgerlichen Gesellschaft«; darin sei das eigentliche Prinzip des dialektischen Materialismus ausgesprochen. K. polemisiert gegen die mechanistische Auffassung der marxistischen Orthodoxie, die das Bewußtsein lediglich als Reflex des (gesellschaftlichen) Seins verstehe, es damit von der Realität ablöse und nicht schon selbst als – richtig verstandene – »geistige Aktion« anerkenne und den »subjektiven Faktor« zugunsten des »Objektivismus« vernachlässige: das Bewußtsein stehe »der natürlichen und erst recht der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt nicht mehr selbständig gegenüber, sondern als realer, wirklicher – wenn auch geistig ideeller – Teil dieser natürlichen und geschichtlich-gesellschaftlichen Welt in dieser Welt mitten darin«. Obwohl er als (kommunistischer) Justizminister in Sachsen und als Reichstagsabgeordneter in den 20er Jahren aktiv politisch tätig ist, sieht er sich durch seine Thesen bald isoliert und schlägt sich als Einzelkämpfer durch, beim Bürgertum als Kommunist, bei den Kommunisten als idealistischer Revisionist geltend. Es beginnt für ihn das wechselvolle Leben als Außenseiter, der durch Vorträge, seine Lehrtätigkeit an der »Marxistischen Arbeiterschule«, zahlreiche Aufsätze (darunter Warum ich Marxist bin, 1935; Die materialistische Geschichtsauffassung, 1929) und nicht zuletzt durch seine Freundschaft mit Brecht hartnäckig seine revolutionäre Theorie verficht, sich jedoch immer vorhalten lassen muß, durch mangelnde Bereitschaft, sich einzugliedern und am (partei-)organisierten Kampf teilzunehmen, nicht wirklich zur revolutionären Tat bereit zu sein und am (vorhandenen) Proletariat vorbeizuoperieren.
Der Faschismus zwingt ihn zur Emigration, zuerst nach England, wo er 1936 als Hitleragent denunziert wird, dann in die USA, wo er sich – lange Zeit vergeblich um Stipendien und Anstellungen bemüht – verschiedensten sozialistischen Kreisen anschließt, ohne sich jedoch integrieren zu können. Sein zweites Hauptwerk Karl Marx entsteht 1938. Es handelt sich um keine Biographie, sondern die »Anwendung der materialistischen Geschichtsauffassung auf die materialistische Geschichtsauffassung selbst«, also um die Historisierung von Marx unter den veränderten historischen Bedingungen. Zugleich formuliert K. seine Überzeugung nochmals paradigmatisch: »Der praktische Eingriff in die geschichtliche Bewegung ist der große Zweck, dem jeder Begriff, jede theoretische Formulierung des Marxismus dient.«
Nach dem Krieg bleibt er in den USA; eine Europareise 1950 nutzt er, seine (desillusionierte) Einstellung in den Zehn Thesen über Marxismus heute vorzutragen. Er verwirft die Wiederherstellung der Marxschen Theorie als soziale Revolution der Arbeiterklasse; sie sei heute »reaktionäre Utopie«; was zum Sozialismus zu führen schien, habe nur einen Kapitalismus neuen Typs hervorgebracht, weil der Marxismus an den Realitäten vorbeigegangen sei. 1956 wird K. schwer krank (Zersetzung der Gehirnzellen), 1961 stirbt er. »Auch beim Proletariat wäre er wohl nur ein Gast. Man weiß nicht, wann er abreist. Seine Koffer stehen immer gepackt. – Mein Lehrer ist ungeduldig. Er will alles oder nichts. Oft denke ich: Auf diese Forderung antwortet die Welt gerne mit: nichts« (Brecht).
Kornder, Hans-Jürgen: Konterrevolution und Faschismus. Zur Analyse von Nationalsozialismus, Faschismus und Totalitarismus im Werk Karl Korschs. Frankfurt am Main u.a. 1987. – Buckmiller, Michael (Hg.): Zur Aktualität von Karl Korsch. Königstein/Ts. 1981. – Autorenkollektiv: Korsch. Der Klassiker des Antirevisionismus. Berlin 1976.
Jan Knopf
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