Metzler Philosophen-Lexikon: La Mettrie, Julien Offray de
Geb. 25. 12. 1709 in Saint-Malo;
gest. 11. 11. 1751 in Berlin
L. M. wird von seinem Übersetzer und Bewunderer Bernd A. Laska gemeinsam mit Max Stirner und Wilhelm Reich als Unperson oder geistiger Paria bezeichnet, wohingegen den Antagonisten Diderot, Marx und Freud das Verdienst zugesprochen wird, drei radikale Schübe aufklärerischen Denkens initiiert zu haben. Und in der Tat hat sich an Friedrich A. Langes Urteil aus dem Jahr 1866, L.M. sei »einer der geschmähtesten Namen der Literaturgeschichte, aber ein wenig gelesener, nur oberflächlich bekannter Schriftsteller«, bis heute wenig geändert. Getreu dem Einleitungssatz seiner Skandalschrift L homme machine (Der Mensch eine Maschine) von 1747: »Man muß den Mut haben, die Wahrheit auszusprechen, und zwar für die kleine Zahl derer, die denken wollen und können«, nahm er Verfolgung, Exil und Spott auf sich. Nach einem frühen Frömmigkeitsrausch, der bewirkte, daß der 15jährige Zögling der Jesuiten in Caen wurde, wandte er sich der Medizin zu, erwarb mit 19 Jahren in Reims den Doktorhut und praktizierte einige Jahre lang. Von Reims ging er nach Leyden und studierte bei Herman Boerhaave, dem führenden Mediziner Europas. Danach ließ er sich in Saint-Malo als Arzt nieder und gründete eine Familie. Doch ihn packte die Abenteuerlust; 1742 verließ er Frau und Tochter und ging nach Paris, wo er Leibarzt des Herzogs von Grammont wurde und in dessen Armeekorps diente. Er nahm von 1743 bis 1745 am Österreichischen Erbfolgekrieg teil und erlitt im Feldlager vor Fribourg einen heftigen Fieberanfall, unter dessen Eindruck er seine erste materialistische Schrift, die Histoire naturelle de l âme (1745; Naturgeschichte der Seele), verfaßte, in der das Eigenleben der Seele bestritten und der Geist als Funktion der Materie gedeutet wird. Gleichzeitig griff er in Pamphleten und Theaterstücken die veraltete Medizin seiner Zeit an und schrieb 1747 L homme machine, worin er den Menschen rein physiologisch als sich selbst steuernde »lebende Maschine« auffaßt, den Dualismus von Leib und Seele sowie die Willensfreiheit abermals leugnet, den Menschen mit den Tieren auf eine Stufe stellt. Das ging selbst den toleranten Holländern (nach einer Ärztekritik war er nach Leyden geflohen) zu weit, zumal er diese Schrift ironischerweise dem allseits verehrten Albrecht von Haller in Göttingen dedizierte, einem anderen Boerhaave-Schüler, der Empirismus mit christlicher Orthodoxie zu verbinden wußte. L. M. mußte erneut außer Landes gehen und kam durch Vermittlung seines Landsmannes Maupertuis nach Potsdam an den Hof Friedrich des Großen. Hier lebte er vier Jahre, wurde aber eher als Verrückter, Possenreißer und besserer Hofnarr angesehen. Sein brisanter Discours sur le bonheur (1750; Über das Glück oder das höchste Gut) der das System Epikurs, die Kunst des Genießens, predigt, vor nutzloser Reue warnt, durfte nur als Einleitung zu einer Seneca-Übersetzung erscheinen. Der König zensierte seine – uvres philosophiques, Voltaire intrigierte aus Eifersucht gegen ihn und Maupertuis distanzierte sich von ihm. Mysteriös sind die Umstände seines frühen Todes, als er 1751 an einer Lebensmittelvergiftung stirbt. Sein Wunsch, auf dem Gelände der französischen Botschaft beigesetzt zu werden, wurde ignoriert, die Korrespondenz vernichtet, seine bedeutende Bibliothek versteigert. Kein atheistisch-materialistischer Philosoph von Holbach über Cabanis und Feuerbach bis hin zu Marx hat je L. M. als seinen Ahnherrn bezeichnet, man tat ihn stets als primitiven mechanistischen Materialisten ab. Erst der Kommentator Aram Vartanian hat die Modernität seines Denkens aufgezeigt, und der Philosoph Panajotis Kondylis hat 1981 in Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus L. M.s Nihilismus und Relativismus zu seinem eigenen wissenschaftlichen Denksystem erhoben, mit dessen Hilfe er die gesamte Aufklärung neu interpretiert. Kathleen Wellman sieht in L.M. den Begründer einer im aufklärerischen Denken verwurzelten Medizinphilosophie, in deren Rahmen ethische und soziale Probleme in physiologisch-medizinischer Perspektive verhandelt werden.
Jauch, Ursula Pia: Jenseits der Maschine. Philosophie, Ironie und Ästhetik bei Julien Offray de La Mettrie. München 1998. – Wellman, Kathleen: La Mettrie, Medicine, Philosophy and Enlightenment. Durham/London 1992. – La Mettrie, Julien Offray de: Der Mensch als Maschine. Mit einem Essay von Bernd A. Laska. Nürnberg 1985.
Frank-Rutger Hausmann
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