Metzler Philosophen-Lexikon: Lacan, Jacques
Geb. 13. 4. 1901 in Paris;
gest. 9. 9. 1981 in Neuilly
Wohl kein psychoanalytischer Fachgelehrter, Arzt und klinischer Psychiater hat so sehr die Zeitungsblätter zum Rauschen gebracht; selbst Sigmund Freud hat nicht in dem Maße erregte und entgegengesetzte Urteile, auch unter Fachkollegen und Schülern, provoziert: »L. der Meister«, »ein neuer Sokrates« – »ein Guru und Hexenmeister ohne Magie«, »großartiger und erbärmlicher Harlekin«, wie ihm 1980 ganz verzweifelt sein früherer Analysand Louis Althusser zuruft; und bestimmt hat keiner aus dieser Zunft nach Freud die Psychoanalyse derart verbreitet, auch in einer solchen Weise über seine Fachgrenzen hinausgewirkt, indem er die Psychoanalyse nicht so sehr als Therapie, sondern als eine neue philosophische Denkart bekannt gemacht hat: L. spielte seine – allerdings distanzierte – Rolle im Surrealismus, er näherte sich zeitweise der Phänomenologie, er nahm wie fast alle Intellektuellen Frankreichs nach 1945 den Hegelianismus à la Kojève auf, der den Kampf um Anerkennung zwischen Herr und Knecht zum Zentrum des Hegelschen Denkens und zum Angelpunkt des Verständnisses des 20. Jahrhunderts machte, er prägte zusammen mit Claude Lévi-Strauss den französischen Strukturalismus maßgeblich, und er wirkte auf Soziologen, Ethnologen, Linguisten, Literaturwissenschaftler und eben Philosophen wie Lévi-Strauss, Émile Benveniste, Maurice Merleau-Ponty, Jean Hippolyte, Alphonse de Waelhens, Paul Ricœur, Louis Althusser und die jüngeren wie Lucien Sebag, Roland Barthes, Michel Foucault, Gilles Deleuze, Jacques Derrida und Jean Baudrillard. Er veröffentlichte in philosophischen Zeitschriften und stand mehrmals im Mittelpunkt von Philosophiekongressen, wo seine Konzeption des Unbewußten als sprachliches System im Sinne Ferdinand de Saussures und Roman Jakobsons und seine Reformulierung des cartesianischen »cogito« als Begehren für Diskussionen sorgten. Wie Newton oder Darwin hat hier ein Fachwissenschaftler die Grundlagen des Denkens und Erkennens so verändert, daß nach ihm eine neue Philosophie entstehen könnte oder müßte. In Frankreich hat durch ihn die Psychoanalyse philosophisches Gewicht bekommen, und er hat entscheidend auf die Philosophie des sogenannten Poststrukturalismus gewirkt. In Deutschland merkt man davon nur wenig. Die skeptischen Urteile Freuds über die Philosophie, sein vermeintlicher »Szientismus« (Jürgen Habermas), der bei dem Strukturalisten L. noch gesteigert scheint, dessen schwieriger Stil, der dem unzugänglich ist, der sich nicht »fangen lassen« will, dazu ein wissenschaftliches Klima, das Disziplinen säuberlich trennt, sowie der Rückzug der Philosophie vom wirklichen Geschehen auf ihre Geschichte lassen bei uns eine Rezeption der L.schen philosophischen Psychoanalyse nur sehr langsam zu. Die Psychoanalyse ist hier von den Positionen der amerikanischen Ich-Psychologie besetzt, denen die Polemik L.s seit 1953 galt; in der Philosophie ist er bis auf gelegentliche Seminare tabu; in der Literaturwissenschaft hat er eine gewisse Anerkennung gefunden, wie der VII. Internationale Germanisten-Kongreß 1985 in Göttingen zeigte, was aber Anfeindungen nicht minderte.
Anders in Frankreich: Als 1986 die erste große Biographie über ihn erscheint (Elisabeth Roudinesco: La bataille de cent ans. Histoire de la psychanalyse en France), beschwören die Zeitungen eine Epoche, als Barthes, Derrida, Foucault, Lévi-Strauss, Althusser und eben L. Frankreich zum intellektuellen Mittelpunkt der Welt machten und im Seminar von L. »das Begehren zu verstehen sich mischte mit der Gewißheit, einem unerhörten Ereignis beizuwohnen«. Inzwischen hat dieselbe Verfasserin eine Biographie L.s im engeren Sinn publiziert, recht romanhaft mit pikanten Details, was entsprechendes Aufsehen und den Widerspruch der Familie erregte (Jacques Lacan, 1993).
1953, 1963 und 1980 haben die Trennung mit Daniel Lagache, Juliette Favez-Boutonier und Françoise Dolto von der anerkannten Gesellschaft der Psychoanalyse in Frankreich (Société psychanalytique de Paris), der Ausschluß L.s aus der neu entstandenen »Société française de psychanalyse« auf Betreiben der »International Psychoanalytical Association« (IPA) und die Auflösung der eigenen florierenden Schule, der »École freudienne de Paris«, für öffentliches Aufsehen gesorgt und den Lacanismus als psychoanalytische Theorie und als intellektuelle Strömung durchgesetzt. Vor allem die Auflösung der »École freudienne« im Jahr 1980, verbunden mit der Neugründung der »École de la cause freudienne« unter seinem Schwiegersohn Jacques-Alain Miller, sowie zahlreichen anderen Schulgründungen, die sich auf L. berufen, macht deutlich, daß es ihm neben der Einrichtung einer streng psychoanalytischen Ausbildung um die Darstellung und Verbreitung einer Theorie des Unbewußten geht, die weit über psychoanalytische Fachbelange hinausreicht und die daher aus Schulabhängigkeiten befreit werden mußte.
Diese Einflüsse auf das Denken Frankreichs verdanken sich einem Mann, der eigentlich nur seine medizinische Doktorarbeit von 1932, worin er den Fall einer paranoischen Identifikation beschreibt, als Buch veröffentlicht hat, dessen wichtigste Aufsätze von 1953 bis 1964, die als Vorträge vor einer schon mit ihm vertrauten Hörerschaft gehalten und sonst nach eigenem Urteil »unlesbar« sind, erst 1966 in einem Buch mit dem unscheinbaren Titel Écrits (Schriften I-III) (2001 mit Autres écrits) einer größeren Öffentlichkeit bekannt gemacht wurden, der aber seit 1953 bis kurz vor seinem Tod ein jährliches Seminar hielt, das allgemein zugänglich war, zuerst in der Klinik Sainte Anne, dann nach seinem Ausschluß aus der psychoanalytischen Vereinigung seit 1964 an der »École Normale Supérieure« vor einem größeren Publikum, nach seiner Vertreibung auch dort, in der Folge der Mai-Ereignisse von 1968, ab 1969 an der Université du Panthéon. Von diesen insgesmat 26 Seminaren, in denen L. seine Neufassung und Ausweitung der psychoanalytischen Theorie – immer in der Berufung auf Freud – durchführt, doch in einseitiger Perspektive zur Unterstützung des eigenen Ansatzes die frühen Schriften, die erste Topik und die Sprachlichkeit des Unbewußten bei Freud betonend im Gegensatz zur zweiten Topik von Es, Ich und Überich und zur therapeutischmedizinischen Auffassung der Psychoanalyse, sind zur Zeit zehn veröffentlicht und bilden auf diese Weise den Grundstock einer – allerdings unkritischen und den Textbestand verändernden – Werkausgabe unter der Leitung von Jacques-Alain Miller: Das 11. Seminar von 1964, Les quatres concepts fondamentaux de la psychanalyse (Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse) – über das Unbewußte, die Wiederholung, die Übertragung und den Trieb mit einem Einschub über den Blick –, mit dem er seine eigene Schulgründung einleitet; die ersten beiden von 1953/54 und 1954/55, die seine Theorie des Symbolischen und Imaginären im Ausgang von Freud darstellen; das 20. Seminar von 1972/73, Encore (dt. 1986), das über Liebe, Genuß und Frauen handelt; das 3. Seminar von 1955/56 über Psychosen (Les psychoses), das seine Sprachtheorie entfaltet; 1986 das 7. Seminar über L éthique de la psychanalyse von 1959/60, in dem er die Psychoanalyse an der Tragödie des Sophokles orientiert; 1991 das 8. Seminar über die Übertragung (Le transfert) von 1960/61, in dem er das Geschehen der Übertragung hauptsächlich an Platons Gastmahl verdeutlicht; ebenfalls 1991 das 17. Seminar von 1969/70, L envers de la psychanalyse, das die berühmte Formulierung der vier Diskurse des Herrn, der Hysterikerin, der Universität und des Analytikers enthält; 1994 das 4. Seminar über die Objektbeziehung (La relation d objet) von 1956/57, in welchem L. seine Konzepte von Sexualität und Liebe entwickelt; 1998 das 5. Seminar über die Bildungen des Unbewußten (Les formations de l inconscient) von 1957/58, in dem er den Graphen des Begehrens mit seinen Begriffen darstellt. Daneben ist noch ein Artikel von 1938 über die Familie und eine Fernsehsendung mit ihm, Télévision, 1973 publiziert. Das übrige existiert in Zeitschriften, vor allem Scilicet, von 1968 bis 1976, und Ornicar?, von 1975 bis 1989, sowie in Raubdrucken und Archiven. In deutscher Übersetzung gibt es nicht alle: Neben den Schriften I-III, die nicht alles aus den Écrits und teilweise anderes enthalten, die vier ersten Seminare, das 7., das 11. und das 20. Seminar sowie die Sendungen Télévision und Radiophonie.
L.s Leben versteckt sich – vor allem in späteren Jahren – fast ganz hinter seinem Werk. Wie bei Freud, wo dieses Zurücktreten hinter der Aufgabe allerdings im Gegensatz zu L. zu extremer persönlicher Zurückhaltung führte, hat man den Eindruck einer Inszenierung der eigenen Biographie, was die oft eitel erscheinende ästhetische Stilisierung der eigenen Person und seines öffentlichen Auftretens erklärt.
Jacques-Marie Émile L. stammt aus einer dem mittleren Bürgertum zuzurechnenden, streng katholischen Familie (sein Bruder Marc-François wurde Ordenspriester) und empfängt seine klassische Bildung auf einem angesehenen Pariser Jesuiten-Gymnasium, dem Collège Stanislas. Er studiert Medizin und durchläuft eine Karriere als Arzt für Neurologie und Psychiatrie in den besten Institutionen Frankreichs, vor allem an der Klinik Sainte Anne in Paris, wo er einer der Klinikchefs wird. Er ist beeinflußt von der deutschen und schweizerischen Psychiatrie, arbeitet 1930 an der berühmten Klinik Burghölzli von Zürich bei Eugen Bleuler und Carl Gustav Jung und engagiert sich seit 1926/27 mit seinen Freunden Henri Ey und Pierre Mâle in der »Évolution Psychiatrique«, die sich neuen Ideen in der Psychiatrie öffnet und deren Vizepräsident er 1936 wird. Seit Veröffentlichung seiner Dissertation von 1932 genießt er die Anerkennung der Surrealisten, vor allem Georges Batailles, Roger Caillois’, Michel Leiris’ und Salvador Dalís, und nimmt am Leben der intellektuellen Avantgarde in Kunst und Philosophie regen Anteil, ohne ihre Gruppenaktivitäten mitzumachen; abgesehen davon, daß er mit Raymond Queneau, Bataille, Jean Wahl, Merleau-Ponty, Raymond Aron, Eric Weil, Pierre Klossowski, Pater Fessard, Simone de Beauvoir und anderen dem faszinierenden Ereignis von Alexandre Kojèves Vorlesungen über die Hegelsche Phänomenologie von 1933 bis 1938 folgt, deren Interpretation der Dialektik von Herr und Knecht und Auffassung des Hegelschen Begriffs der »Begierde« (»désir«) sein Werk tief prägen sollte. Von 1932 bis 1938 unterzieht er sich einer Analyse bei dem russischpolnischen Juden Rudolph Loewenstein, gegen dessen spätere (zusammen mit Heinz Hartmann und Ernst Kris) in den USA ausformulierte »Ich-Psychologie« er seine psychoanalytische Konzeption einer »Rückkehr zu Freud« mit der Bestimmung des Unbewußten durch die Sprache entwickeln wird. Seine Theorie des »Spiegelstadiums«, der Ich-Bildung in der vorgreifenden Identifizierung mit dem Bild (»imago«) eines anderen, entsteht in dieser Zeit. Dieser Aufsatz ist weithin aufgenommen und mit der Position L.s verknüpft worden, wobei seine spätere Weiterführung zur Theorie des Begehrens oft zu wenig beachtet wird. Auf L. richten sich die Hoffnungen führender französischer Analytiker der 30er Jahre wie Pichon und Angelo Hesnard für eine »psychanalyse à la française« – damals mit scharf antigermanischem, in den 50er und 60er Jahren mit ebenso antiamerikanischem Akzent.
1934 heiratet er Marie-Louise Blondin, Tochter eines angesehenen Mediziners, mit der er drei Kinder hat; 1941 wird die Ehe geschieden. Seit 1939 ist er mit der Schauspielerin Sylvia Maklès liiert, der vorherigen Frau Georges Batailles. 1941 wird ihre Tochter Judith geboren, die später mit ihrem Mann Jacques-Alain Miller das institutionelle Erbe L.s übernimmt. Erst 1953 heiraten Sylvia und er.
Während der Besetzung Frankreichs veröffentlicht er nichts, er unterhält nur eine private Therapie-Praxis in Paris und bildet Analytiker aus. 1946 fragt er sich nach einem »gewissen Versagen« deswegen, er hätte sich der »Phantasie hingegeben, die Hand voller Wahrheiten zu haben, um sie umso besser über ihnen zu schließen«. Die große Kraft, mit der er in der Nachkriegszeit seine Theorie ausbildet und seinen Einfluß ausweitet, belegt die Intensität, mit der er gearbeitet haben muß. Seit 1946 beherrschen Sacha Nacht, Daniel Lagache und L. die französische Psychoanalyse. Der Konflikt von 1953, der sich in dem von 1963 fortsetzt, entzündet sich an institutionellen Problemen und Machtfragen; als Vorwand dienen die psychoanalytischen »Kurzsitzungen« L.s, mit denen er an der Technik der Psychoanalyse experimentiert, sowie L.s Theorie der Übertragung, welche die sogenannte »negative Übertragung« nicht ernst genug nehme. Nach dem Bruch von 1953 wird er der profilierteste Denker der französischen Psychoanalyse, der diese mit der Linguistik, der Ethnologie, der Philosophie und später, ab den 70er Jahren, mit der mathematischen Topologie verbindet und auf diese Weise die alte Sehnsucht nach einer »psychanalyse à la française« erfüllt, wobei er allerdings die Kritik, die die französischen Psychoanalytiker der 30er Jahre am »Pansexualismus« Freuds übten, umkehrt in eine Betonung der unbewußten Bedeutung der Sexualität, die er als das versteht, was von der Sprache geformt wird, aber nur in den Lücken ihrer Ordnung existieren kann und daher eigentlich unmöglich ist. Seine Theorie läßt sich in der doppelten These zusammenfassen, daß das Unbewußte wie eine Sprache strukturiert und von ihr hervorgebracht ist. Das heißt, das Unbewußte entsteht durch die Sprache, die einen strukturellen Einschnitt schafft, der als symbolisch-kulturelle Ordnung mit ihrem Gegenstück, dem Begehren, das Subjekt in seinen signifikanten Abhängigkeiten entstehen läßt. Der berühmte »Rom-Vortrag« von 1953, Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse, und der Vortrag über Das Drängen des Buchstabens im Unbewußten oder die Vernunft seit Freud von 1957 sowie die ersten drei Seminare entwickeln diese Position eines durch und als Sprache konstituierten Unbewußten. Durch die Ausweitung seiner Lehre an der »École Normale« ab 1964, auf dem Höhepunkt des französischen Strukturalismus (zusammen mit Lévi-Strauss, Althusser, Foucault, Barthes, Derrida), wird seine Theorie zu der intellektuellen Instanz, als die sie sich heute darstellt. Gleichzeitig nehmen ab 1967 die institutionellen Probleme seiner Schule alle Kräfte in Anspruch, so daß sich seine theoretische Arbeit fast ganz in seiner Lehre im Seminar erschöpft. Ab 1977 scheint er ermüdet. Offensichtlich im Hinblick auf seinen nahen Tod ordnet er 1980 die Institution neu; er stirbt an den Folgen einer Darmkrebs-Operation in einer Klinik in Neuilly, zur Vermeidung öffentlichen Aufsehens unter falschem Namen.
Widmer, Peter: Subversion des Begehrens. Jacques Lacan oder Die Zweite Revolution der Psychoanalyse. Wien 21997. – Roudinesco, Elisabeth: Jacques Lacan. Bericht über ein Leben. Geschichte eines Denksystems. Köln 1996. – Bowie, Malcolm: Lacan. Göttingen 1994. – Weber, Samuel M.: Rückkehr zu Freud. Jacques Lacans Entstellung der Psychoanalyse. Wien 21990.
Claus von Bormann
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