Metzler Philosophen-Lexikon: Lenin, Wladimir Iljitsch (Uljanow)
Geb. 22. 4. 1870 in Simbirsk;
gest. 21. 1. 1924 in Gorki
Nach dem Besuch des Gymnasiums in seiner Heimatstadt Simbirsk (seit 1879) begann L. 1887 das Studium an der juristischen Fakultät der Universität Kasan, das jedoch noch im selben Jahr durch Relegation und Verbannung unterbrochen wurde. 1890 zum externen Studium an der Universität Petersburg zugelassen, legte er dort dann das juristische Staatsexamen ab. Seit 1893 organisierte er marxistische revolutionäre Arbeit in Petersburg, wurde 1895 verhaftet und lebte in den Jahren von 1897 bis 1900 in der Verbannung in Schuschenskoje (Sibirien). 1900 verbrachte er sein erstes Exil in der Schweiz. In dieser Zeit erfolgte die Gründung der Zeitung Iskra und der Aufbau der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands, deren 2. Parteitag 1903 in Brüssel und London das Parteiprogramm verabschiedete. Die Partei spaltete sich in die Flügel der Bolschewiki (Mehrheitsfraktion) unter L.s Führung und der Menschewiki (Minderheitsfraktion). Von 1907 bis 1917 folgte L.s zweites Exil in der Schweiz und Paris (1912 bis 1914 in Krakau). In diese Zeit fällt 1909 die Veröffentlichung von Materialismus und Empiriokritizismus, es folgen die Studien zu einem Werk über materialistische Dialektik, die in den Philosophischen Heften aus dem Nachlaß herausgegeben wurden. 1917 kehrte L. nach dem Ausbruch der Revolution nach Rußland zurück. Im November wurde er Vorsitzender des Rats der Volkskommissare und widmete sich ganz dem Aufbau der Sowjetunion. Zahlreiche theoretische Arbeiten reflektieren die Probleme dieser Periode. 1921 leitete er den Übergang zur 109. Neuen Ökonomischen Politik ein. Schwer erkrankt verbrachte L. die letzten neun Lebensmonate in einem Landhaus in Gorki bei Moskau, wo er am 21. Januar 1924 starb.
Im weiteren Sinne sind seine Beiträge zur Theorie des Politischen (Theorie der revolutionären Partei, Begriff des Klassenbewußtseins, Kritik des Sozialdemokratismus, die Schrift Staat und Revolution von 1918 u. a.) sicher als philosophisch zu betrachten, weil ihre Argumente in erkenntnistheoretischen und geschichtsphilosophischen Konzepten fundiert sind und ihre Struktur aus einer allgemeinen Theorie der Dialektik herleiten. Dieser Zusammenhang läßt sich bis in die unmittelbar situationsbezogenen politischen Schriften verfolgen; diese innige und prinzipielle Verschmelzung theoretischer Einsichten mit praktischem politischem Handeln macht den Rang des Politikers L. aus. In diesem Sinne ist sein ganzes Werk philosophisch, d.h. es kann mit Blick auf die Freilegung philosophischer Konzepte und Kategorien gelesen werden. Im engeren Sinne philosophisch sind eine Reihe von Aufsätzen zum Marxismus, die Auseinandersetzung mit dem Positivismus (Materialismus und Empiriokritizismus) und die Notizen der Philosophischen Hefte, deren Schwerpunkt bei der kritischen Aneignung Hegels liegt.
Friedrich Engels hatte seine Schrift Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie (1888) mit dem programmatischen Satz geschlossen: »Die deutsche Arbeiterbewegung ist die Erbin der klassischen deutschen Philosophie.« L. hat, mit Blick auf die theoretischen Gehalte des Marxismus, den weiten Begriff des Erbes in dreifacher Weise zugespitzt; er schreibt: Die Lehre von Marx »entstand als direkte und unmittelbare Fortsetzung der Lehren der größten Vertreter der Philosophie, der politischen Ökonomie und des Sozialismus«. Er nennt dann präzise als die »drei Quellen und gleichzeitig Bestandteile des Marxismus« die deutsche Philosophie, die englische politische Ökonomie und den französischen Sozialismus. In dieser Formulierung ist ein philosophisches Kontinuum konzipiert, in dem der Marxismus nicht nur die rezente Phase der Philosophiegeschichte darstellt, sondern deren Gehalte in sich aufnimmt (vgl. den Kulturbegriff Antonio Gramscis). Die Verarbeitung der kategorialen Widerspiegelung der gesamten geschichtlichen und geschichtlich erfahrenen Wirklichkeit wird zum konstitutiven Moment der marxistischen Theorie – und in der Weise, wie dieser Verarbeitungsprozeß bei Hegel System geworden ist, kann er, in materialistischer Umkehrung, Bestandteil des Marxismus sein. Es gibt Quellen, aus denen der Marxismus schöpft, und es gibt Systemmodelle, die in der spezifischen Transformation, die durch das Marx-Engelssche Programm der Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie angegeben ist, zu Bestandteilen des Marxismus werden können.
Ein solches Konzept vom Kontinuum der Philosophie impliziert einen Kontext von weiteren philosophischen Theoremen. Über deren Prinzipien hat L. sich in der Auseinandersetzung mit dem Positivismus und subjektiven Idealismus einerseits, mit Hegel andererseits Rechenschaft abgelegt. Der Begriff einer zugleich historisch bestimmten und objektiven Wahrheit (als Wissen von der Sache selbst) führt auf die Differenzierung von absoluter und relativer Wahrheit sowie auf die Bestimmung des Objektivitätsgehalts von Irrtum und ideologischem Schein gemäß Spinozas Einsicht: »Das Wahre ist der Gattungsbegriff seiner selbst und des Falschen.« Der Relativitätsgrad der Wahrheit erfordert die Herausarbeitung der geschichtlichen Gesellschaftsstufen und damit der Kriterien für die Fortschrittlichkeit einer Theorie, woraus sich wiederum die Lehre von der Parteilichkeit der Wahrheit (nämlich für den Fortschritt der Menschheit und damit ihren eigenen) und das Postulat der Parteinahme ergibt. Ein dezisionistisches oder opportunistisch relativistisches Verständnis von Parteilichkeit wird ausgeschlossen durch deren geschichtsontologische Fundierung in der Lehre von den Gesellschaftsformationen (d.h. letztlich in der Lehre von der Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen). Die reflektierte politische Praxis der Veränderung gesellschaftlicher Zustände und Strukturen entspringt aus und orientiert sich an dem philosophischen Begreifen der wirklichen Verhältnisse. Insofern diese durch die Klassenstruktur der Gesellschaft charakterisiert sind, gehört zur Parteinahme in der Wahrheitsfindung ebenso wie in der politischen Aktivität Klassenbewußtsein, in dem sich die nicht nur formale, sondern inhaltliche Einheit von Theorie und Praxis herstellt. Es liegt auf der Hand, daß ein solcher Wahrheitsbegriff nicht transzendentalphilosophisch begründet werden kann. L.s häufige Kritik an Kant in den Konspekten zu Hegels Wissenschaft der Logik ist von daher motiviert. Wahrheit als Wissen von der Sache selbst einschließlich ihrer Vermittlungen mit dem Subjekt des Wissens (d.h. nicht nur und nicht hauptsächlich wissenden Individuen, sondern das real-allgemeine Corpus des Alltagswissens und der Wissenschaft) muß im Modell einer selbstbezüglichen Abbildungsrelation – Erkenntnis als Widerspiegelung und Widerspiegelung der Widerspiegelung – beschrieben werden. Angesichts der Historizität des Wissens kann der allgemeine Gegenstand der Erkenntnis philosophisch nicht mehr auf einen solchen Inhalt festgelegt werden, der durch die jeweilige – wissenschaftsgeschichtlich bedingte – Stufe der Erfassung und Deutung der Objektwelt gegeben ist. Er ist vielmehr in höchster Allgemeinheit zu bestimmen als die objektive Realität, die außerhalb des Bewußtseins und unabhängig von ihm existiert und die gemäß dem Entwicklungsstand des Wissens im Bewußtsein abgebildet wird. Diese objektive Realität wird durch die Kategorie Materie bezeichnet. »Die einzige Eigenschaftˆ der Materie, an deren Anerkennung der philosophische Materialismus gebunden ist, ist die Eigenschaft, objektive Realität zu sein, außerhalb unseres Bewußtseins zu existieren.«
Eine erkenntnistheoretische Position dieser Art hat selbst einen ontologischen Gehalt. Sie setzt die übergreifende Einheit einer Welt-Wirklichkeit, von der das erkennende Subjekt ein dem Substrat nach homogener, aber dem Modus nach unterschiedener Teil ist. Die Selbsterfahrung unserer Unterschiedenheit als Subjekte wird durch die Erfahrung unserer gegenständlichen Vermitteltheit in der Praxis übergriffen (Kriterium der Praxis). Das Arbeitsverhältnis wie auch das Zeitbewußtsein erfordern die Ausarbeitung logischer Figuren, die die Einheit der Gegensätze, den Selbstunterschied des Einen, die Beziehung von Einheit und Vielheit und die Idee des Ganzen ausdrücken können. Dies leistet die Dialektik, deren erstes ausgearbeitetes System in Hegels Philosophie vorliegt, an die der Marxismus anzuknüpfen hat; dabei ist es das Problem einer materialistischen Philosophie, die geschlossene Systemgestalt des absoluten Idealismus – die Darstellung der Einheit der mannigfaltigen Welt als Geist – auf das offene System der materiellen Wirklichkeit zu projizieren. L. hat in seinen Konspekten zu Hegels Wissenschaft der Logik dieses Verfahren in Form der Umkehrung Hegels skizziert: »Ich bemühe mich im allgemeinen, Hegel materialistisch zu lesen: Hegel ist auf den Kopf gestellter Materialismus (nach Engels).«
Es läßt sich zeigen, daß L.s Wirken als Politiker und Staatsmann wie auch seine Ausarbeitung der politischen Theorie stets auf das Zentrum seiner philosophischen Weltanschauung bezogen sind und von diesem Kern her ihre innere Konsistenz erhalten. Mit Recht ist sein Name darum auch in den Namen eben jener wissenschaftlichen Lehre aufgenommen worden, die diese Einheit von Philosophie, politischer Ökonomie, Wissenschaften und politischer Praxis zum Inhalt hat: Marxismus-Leninismus.
Wittich, Dieter: Lenins Materialismus und Empiriokritizismus. In: Sitzungsberichte der Leibniz-Societät, Bd. 30. Berlin 1999/3, S. 79ff. – Holz, Hans Heinz: Lenins Programm der Umkehrung Hegels. In: Ders. (Hg.): Einheit und Widerspruch, Bd. 3. Stuttgart/Weimar 1998, S. 361ff. – Giacomini, Ruggiero/Losurdo, Domenico (Hg.): Lenin e il Novecento. Napoli 1997. – Gramsci, Antonio: Das Werk Lenins. In: Ders.: Zur Politik, Geschichte und Kultur. Frankfurt am Main 1980, S. 29ff. – Schklowski, Victor u.a. (Hg.): Sprache und Stil Lenins. München 1970. – Kumpf, Fritz: Probleme der Dialektik in Lenins Imperialismus-Analyse. Berlin 1968. – Pannekoek, Anton: Lenin als Philosoph. Frankfurt am Main 1968.
Hans Heinz Holz
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