Metzler Philosophen-Lexikon: Lévi-Strauss, Claude Gustave
Geb. 28. 11. 1908 in Brüssel;
gest. 30. 10. 2009 in Paris
1949 erschien das Buch, das den französischen Strukturalismus begründen sollte: Les structures élémentaires de la parenté (Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft), ein gelehrter Wälzer »von verzweifelter Langeweile«, wie Georges Bataille feststellt, und dennoch ein Buch, das nicht nur die Ethnologie auf den Kopf stellt, indem es eines ihrer verzwicktesten Probleme löst, sondern auch den Übergang des Menschen von der Natur zur Kultur aus der universalen Regel des Inzestverbotes erklären will: Alle komplizierten Heiratsregeln dienen dem Zweck, ein Tauschsystem von wenigen elementaren Strukturen einzurichten, das an die Stelle von natürlichen Verwandtschaften die kulturelle Tatsache der Allianz setzt und damit Kommunikation auf vielfältigen sozialen Bahnen ermöglicht. Struktur heißt dabei, wie L.-St. später erläutert, ein systematischer Zusammenhang, der nicht aus seinen Elementen erkennbar wird, sondern sich bei seiner Übertragung auf andere Inhaltsbereiche offenbart, ähnlich einer Sprache, deren Wesen darin besteht, in eine andere übersetzbar zu sein; letztlich bedeutet Struktur also eine Analogie und gerade keine Identität. 1955 brachte der autobiographische Reisebericht der Tristes tropiques (Traurige Tropen), der zugleich eine dichterische und intellektuelle Rechenschaftslegung der Ethnologie ist, den literarischen Ruhm, den es in Frankreich für die Durchsetzung einer Theorie braucht und den das trockene Aufrechnen der verschiedenen Arten von Inzesttabus nicht erwerben konnte; ein poetisches Buch, das eine Zivilisationskritik der westlichen Welt vom Standpunkt der Wilden – unter ausdrücklicher Berufung auf Jean-Jacques Rousseau – enthält und ebenso den Reiz fremder Kulturen schildert wie Trauer angesichts der Gewißheit ausdrückt, »daß zwanzigtausend Jahre Geschichte verspielt sind«: Unsere Zivilisation nivelliert alles Fremde und nimmt ihm damit die Möglichkeit, auf eigene Weise existieren zu können. In den 60er Jahren wurde Traurige Tropen zum Bestseller des Strukturalismus.
Weitere Bücher folgten, deren Titel Programm waren: Anthropologie Structurale (1958; Strukturale Anthropologie), eine Sammlung von Aufsätzen, in denen das Wesen menschlicher Gesellschaften und der Individuen in ihnen aus dem Zusammenspiel von einigen Regeln allgemeiner Art, beispielsweise von bestimmten Tauschstrukturen, die vergleichbar sind, auch wenn die Elemente (Gesellschaften und Menschen) ganz verschieden erscheinen, bestimmt wird; nicht anders wie in der strukturalistischen Sprachwissenschaft, vor allem der Phonologie von Roman Jakobson, das System den Sinn der in sich sinnleeren Elemente bestimmt. Durch diesen methodischen Bezug gliedert sich L.-St. der in den 60er Jahren in Frankreich üblich gewordenen Rede vom Verschwinden des Menschen (gemeint ist: als Individuum) ein. 1962 erschien La pensée sauvage (Das wilde Denken), ebenfalls ein Programm: Es behauptet, daß unser begriffliches Denken nicht qualitativ vom Denken der sogenannten Primitiven unterschieden ist, sondern daß beide Teile des »wilden Denkens« und daher ineinander übersetzbar sind, wenn auch das mythische Denken mit konkreten Mitteln in der Art eines Bastlers arbeitet und daher begrenztere Ausdrucksmöglichkeiten hat. Der Wilde denkt nicht »primitiver« als wir, als sei er nur an Grundbedürfnissen orientiert, wie Bronislaw Malinowski meinte, oder als sei er nur von Gefühlen und Affekten bestimmt, wie Lucien Lévy-Bruhl behauptete, sondern ebenso spekulativ-theoretisch und intellektuell-komplex wie die Europäer, nur eben an konkretem Material, das die Natur und die Gesellschaftsbeziehungen ihm bieten und das er in Mythen transformiert.
Dieser Denkweise hat sich ab 1964 das große Werk der Mythologiques (Mythologica) in vier Bänden (Le cru et le cuit, 1964 – Das Rohe und das Gekochte; Du miel aux cendres, 1967 – Vom Honig zur Asche; L origine des manières de table, 1968 – Der Ursprung von Tischsitten; L homme nu, 1971 – Der nackte Mensch) gewidmet, mit dem Anspruch zu bestimmen, nach welchen Gesetzen der menschliche Geist funktioniert. Daher die berühmt gewordene Behauptung in der Einleitung der Mythologica: nicht zu zeigen, »wie die Menschen in Mythen denken, sondern wie sich die Mythen in den Menschen ohne deren Wissen denken«, ja »daß sich die Mythen auf gewisse Weise untereinander denken«, unter Abstraktion von jedem Subjekt. Sein Alterswerk – wie Le regard éloigné (1983; Der Blick aus der Ferne), Paroles données (1984; Eingelöste Versprechen), La potière jalouse (1985; Die eifersüchtige Töpferin), die Histoire de lynx (1991; Luchsgeschichte) – faßt sein Denken in gelegentlich amüsanten Beispielen strukturaler Mythenanalyse zusammen oder wendet es wie Regarder, écouter, lire (1993; Sehen Hören Lesen) auf Beispiele der Musik und Kunst an. L.-St. ist also zum einen Anthropologe der schriftlosen Völker, der »größte Anthropologe der Welt«, wie ihn etwas schwärmerisch seine Biographin Catherine Clément nennt, zum anderen Theoretiker eines anderen Denkens, des wilden oder mythischen Denkens, und dadurch Methodologe des Strukturalismus, wie Jacques Lacan und Michel Foucault einerseits Fachwissenschaftler, andererseits dadurch Philosoph. Die beiden Themenkomplexe, mit denen er sich beschäftigt hat, belegen diese Doppeltheit: einerseits die ethnologische Untersuchung der Heiratsregeln, andererseits das spekulative Spiel der Mythen. Er hat mit seinem Werk eine überraschend große Anerkennung gefunden, die aber vielleicht auch der exzentrischen Stellung des Ethnologen und dem Standort zwischen den Kulturen Frankreichs und Amerikas zu verdanken ist.
Seine Biographie spiegelt die Position zwischen den Kulturen wider: L.-St. wurde als Sohn französisch-jüdischer Eltern in Brüssel geboren. Sein Vater war Portraitmaler, sein Großvater Rabbiner in Versailles; bei ihm verbrachte er die Jahre des Ersten Weltkrieges, bis seine Eltern nach Paris zogen, wo er das Lycée Janson-de-Sailly besuchte. In Paris studiert er Jura und Philosophie und schließt sein Studium 1931 mit der Agrégation in Philosophie, dem Licentiat in Jura und als Docteur des lettres ab. 1932/33 unterrichtet er am Gymnasium in Mont-de-Marsan, 1933/34 in Laon. 1935 wird er Professor für Soziologie an der unter Mithilfe Frankreichs gegründeten Universität von Sao Paulo, eine Stellung, die er bis 1938 behält. Während dieser Zeit, und bis 1939, unternimmt er mehrere ausgedehnte ethnologische Expeditionen nach Zentralbrasilien, die in Traurige Tropen beschrieben sind. 1939 und 1940 wird er Soldat; als Jude kann er nach der Besetzung Frankreichs aufgrund einer Intervention der Rockefeller-Stiftung zur Rettung europäischer Gelehrter 1941 unter Zurücklassung der Familie in die USA flüchten, wo er von 1942 bis 1945 an der »New School for Social Research« in New York lehrt. 1946/47 übernimmt er das Amt des Kulturattachés an der französischen Botschaft in den USA. Er lernt Roman Jakobson kennen und schätzen, für seine theoretische Entwicklung von großer Bedeutung. Nach der Rückkehr nach Frankreich 1948 wird er zum Subdirektor am »Musée de l’Homme« ernannt und fährt in dieser Funktion 1949 auf eine größere Mission nach Ost-Pakistan. 1950 kehrt er an die Universität zurück, indem er an der »École Pratique des Hautes Études« den Lehrstuhl für vergleichende Religionswissenschaften der schriftlosen Völker erhält; bis 1974 bleibt er dort Direktor. 1959 übergibt ihm das Collège de France den Lehrstuhl für Sozialanthropologie, den er bis 1982 innehat. Am 24. 5. 1973 wird er zum Mitglied der »Académie française« gewählt. L.-St. ist korrespondierendes Mitglied mehrerer Akademien der Wissenschaften in Europa und den USA, Kommandeur der Ehrenlegion und Inhaber von Ehrendoktorwürden in aller Welt. 1973 erhielt er den Erasmus-Preis. Auch privat zeigt sein Leben den Zug von Trauer und hoffnungsvoller Resignation, der sein Werk überstrahlt. Er ist seit 1954 zum dritten Mal verheiratet und hat zwei Söhne aus den letzten beiden Ehen. Bis zu seinem Tod lebt er in Paris, anerkannt als einer der ganz großen Gelehrten und Kulturphilosophen der Gegenwart, der sich doch als »Schüler und Zeuge« jener Wilden bezeichnet, denen gegenüber er die Schuld des europäischen Ethnologen nie abzutragen vermag.
Ruijter, Arie de: Claude Lévi-Strauss. Frankfurt am Main 1991. – Lévi-Strauss, Claude/Eribon, Didier: Das Nahe und das Ferne. Eine Autobiographie in Gesprächen. Frankfurt am Main 1989. – Claude Lévi-Strauss, Mythos und Bedeutung. Vorträge und Gespräche mit Claude Lévi-Strauss. Frankfurt am Main 1980. – Lepenies, Wolf/Ritter, Henning (Hg.): Orte des wilden Denkens. Zur Anthropologie von Claude Lévi-Strauss. Frankfurt am Main 1970.
Claus von Bormann
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