Metzler Philosophen-Lexikon: Locke, John
Geb. 29. 8. 1632 in Wrington/Somerset;
gest. 28. 10. 1704 in Oates/Essex
Auch jenseits der Philosophie waren die Interessengebiete von L. weit gespannt: So bedachte er seine Landsleute reich mit Traktaten über Weinbau, mit Reiseberichten und praktischen ökonomischen Kompendien, wie das eigene Hab und Gut zu mehren sei. Die Nachwelt versetzte der Enzyklopädist L. mit seinem allumfassenden Wissen in Schrecken und Bewunderung: Es gab nichts, worüber er nicht auf dem vollen Kenntnisstand seiner Zeit etwas beizutragen wußte, das für die europäische Aufklärung bahnbrechend war, ihr zumindest jedoch neue Anstöße gab. Er schrieb in geradezu epischen Dimensionen über Erkenntnistheorie, Rechts- und Staatsphilosophie, Theologie, Bibelexegese, Kirchenpolitik, Ökonomie und Finanzwissenschaft, Mathematik, Medizin und Pädagogik. Neben die schreibende Reflexion gesellte sich jedoch noch eine umfangreiche praktische Tätigkeit als Arzt, Erzieher, Regierungsbeamter, Politiker und Geschäftsmann. Die Grundlage für diese gewiß nicht schulmäßige Gelehrsamkeit – L. lehnte, wie vor ihm schon Thomas Hobbes, den scholastischen Universitätsbetrieb ab – wurde für den Sohn eines Gerichtsbeamten aus der Nähe von Bristol (Wrington/Somerset) durch eine klassischphilologische Ausbildung an der Westminster School gelegt. Darauf folgten die Jahre des Studiums der Logik, Sprachen, Metaphysik und der zunehmenden Beschäftigung mit Fragen der Chemie und Medizin, wie sie von dem Physiker und Chemiker Robert Boyle nach empirischen Methoden entwickelt wurden. Die Zeit in Oxford (von 1652 bis 1662) war für L. mit der Ernennung zum Dozenten für Rhetorik und Philosophie (1662) gekrönt. Gleichzeitig begann er auch erste politische Pamphlete (Polemik gegen politische Toleranz, 1662) zu verfassen, die noch von einem stark royalistischen Autoritätsglauben zeugen. In dieser Phase orientierte er sich stark an den Positionen von Hobbes, was er jedoch zeitlebens abstritt mit der Behauptung, er habe nie etwas von ihm gelesen. Dessen profilierte Gegnerschaft sollte er erst sehr viel später mit seiner radikal-liberalistischen Grundhaltung antreten.
In den 1660er Jahren machte er Erfahrungen in diplomatischen Missionen, setzte sich intensiv mit den Schriften von Descartes auseinander, bis er schließlich 1667 in das »Exeter House« nach London zog und in die Dienste von Anthony Ashley Cooper trat, dem späteren Lordkanzler Earl of Shaftesbury, mit dem er bis zu dessen Tod (1683) mehr als nur freundschaftlich verbunden war: Er war Hausarzt, Erzieher – und Regierungsbeamter. Während dieser Zeit festigte sich bei L. eine durchweg republikanische Gesinnung, nicht zuletzt durch den Einfluß seines Freundes und Gönners. 1668 wurde er Mitglied der hochangesehenen »Royal Society« wegen seiner Verdienste auf naturwissenschaftlichem und ökonomischem Gebiet. Zwischen 1675 und 1679 verbrachte der lebenslange Asthmatiker L. einen Erholungs- und Studienaufenthalt in Frankreich, lebte dann weitere vier Jahre wieder in London, begleitet von ständiger Sorge um seine persönliche Sicherheit, da sein Weggefährte und Mentor Shaftesbury wegen einer Verschwörung gegen die geplante Thronfolge der Stuarts nach Amsterdam fliehen mußte. Ihm folgte er 1683 ins holländische Exil; während seiner sechsjährigen Abwesenheit wurde ihm die akademische Lehrbefugnis aberkannt. Erst mit der Thronbesteigung Wilhelms von Oranien (1689) nach der »Glorious Revolution« kehrte L. nach England zurück; in seine früheren Ehren wiedereingesetzt, lehnte er jedoch das Angebot eines Regierungsamtes aus gesundheitlichen Gründen ab und publizierte in seinen letzten vierzehn Lebensjahren sein immens umfangreiches Gesamtwerk, dessen einzelne Teile im Laufe der Jahre nebeneinander entstanden. 1696 wurde er in die königliche Sonderkommission für Handelsfragen berufen. Bis zu seinem Tod befaßte er sich mit Fragen der Kommentierung des Neuen Testamentes.
Typisch für ihn ist die enge publizistische Anbindung seiner Themen an seine jeweilige praktische Tätigkeit. Philosophie entsteht so durch Abarbeitung an empirischem Wissen und Erfahrungswerten. Für L. wäre die Selbstetikettierung unter dem Mantel der Philosophie allein sicherlich zu einem Definitionsproblem des Begriffs an sich geworden. Obwohl er mit seinem Denken die passenden Worte in der historisch richtigen Stunde fand, dem Zeitalter der Aufklärung und der Emanzipation des Bürgertums, tat er sich doch schwer, mit dem Ruhmestitel »moderner Aristoteles« umzugehen; geeigneter schien ihm sein gelegentlich verwendetes Pseudonym »Philantropus«, der Menschenfreund. Der Mensch – sein Denken und Wahrnehmen, die gesellschaftliche Einbindung bis hin zur Organisation des Staates, das Verhältnis zu Gott und Kirche – war trotz aller Weitschweifigkeit seiner Traktate und Essays immer zentraler Gegenstand der wissenschaftlichen Bemühung. L. suchte dem bislang nur unvollkommen etablierten bürgerlichen Subjekt die freie Selbstbestimmung im Rahmen einer durch Volkssouveränität garantierten Eigentumsgesellschaft zu sichern. Infolge seiner radikal liberalistischen Diktion avancierte er zu einem der wichtigsten Theoretiker der Aufklärung sowohl in Frankreich (vor allem durch seine politisch-ökonomischen Werke) als auch in Deutschland (dort besonders durch seine erkenntnistheoretischen Schriften im Hinblick auf Kant und seine Epistula de tolerantia (Brief über die Toleranz) von 1689, der literarisch durchmoduliert in Lessings Nathan und Schillers Don Karlos wiederkehrt). Das philantropische Selbstverständnis bedarf allerdings einer deutlichen Einschränkung: Das zur Mündigkeit emanzipationsfähige Subjekt ist für L. immer auch das besitzende, Recht auf Eigentum durch selbständige Arbeit erwerbende bürgerliche Individuum, das sich durch Kapitalakkumulation (Verzinsung erworbenen Gutes als Teil sozialer Verantwortung) von der Feudalaristokratie und der Klasse der Besitzlosen, der Lohnabhängigen, abhebt. L.s Gesellschaftsvertrag und die damit verbundene Forderung nach Gewaltenteilung (Exekutive und Legislative) basieren auf einer Klassengesellschaft, die gerade ihren puritanischen Kinderschuhen zu entwachsen beginnt und Eigentum als ein »vernünftiges Gut«, als durch »vernünftige Arbeit« erworbenes politisches Anrecht begreift. Wer nichts hat, ist also an seiner politischen Unmündigkeit selbst schuld. L. selbst gehörte nicht von ungefähr zu den Besitzenden; er hinterließ nach seinem Tod ein Vermögen von 20 000 Pfund, das er unter anderem als Mitbegründer und Aktionär der Bank of England (1694) durch Kapitalverzinsung erlangt hatte. Some considerations of the consequences of the lowering of interest (1692; Überlegungen über die Folgen des Zinsfußes) werden das erste Standardwerk der gerade entstehenden modernen politischen Ökonomie. Für sein ganzes Denken und Handeln gilt die Maxime: Alles geschieht zum praktischen Nutzen. Seine Arbeit ordnete er dem Diktum unter, sie möge der Wahrheit, dem Frieden und der Objektivierung der Wissenschaften dienen.
Das Wissenschaftsverständnis von L. basiert auf der Erfahrungswelt (Empirie), die das 17. und 18. Jahrhundert philosophisch definierte; folglich ordnete er auch die Aufgabe der Philosophie vollständig den Vorzeichen der Praxisrelevanz und Erfahrungsbereicherung unter. »Nihil est in intellectu, quod non antea fuerit in sensu« – nichts ist im Verstande, was nicht zuvor in der Sinneswahrnehmung gewesen wäre. Sein erkenntnistheoretisches Hauptwerk Essay Concerning Human Understanding (1689; Versuch über den menschlichen Verstand) resultierte notwendig aus der Frage nach Ursprung, Gewißheit und Umfang menschlicher Erkenntnis. Denn nur allzu oft bemühen wir uns zwar nach seiner Ansicht um Dinge, die wir aber deshalb nicht auf ihren Grund führen können, weil unser Verstand dazu gar nicht in der Lage ist. L. leitet dieses Unvermögen jedoch nicht aus der Metaphysik ab, sondern untersucht zuerst die Schritte von der Wahrnehmung des Äußeren (»sensation«) hin zum Tätigwerden des Verstandes und des Willens (»reflection«). Dabei kommt er zu dem Ergebnis, daß der Mensch kein Bewußtsein von den »Ideen« (dem Wahrzunehmenden, der Vorstellung von Objekten) von Geburt an hat, das gleichsam nur aktiviert werden müßte. Folglich gibt es aber auch keine der menschlichen Seele vorab eingravierten Wahrheiten, wie dies der Descartessche Rationalismus mit seiner Vorstellung der angeborenen Ideen behauptet, sondern der kindliche Verstand gleicht einem leeren, unbeschriebenen Blatt. Unser Bewußtsein von den Dingen und von uns selbst erlangen wir durch die Erfahrung, die allerdings bei allen verschieden ist. Daraus erklären sich auch die unterschiedlichen Entwicklungsprozesse verschiedener Völker und Epochen. Dem Menschen eignet a priori lediglich eine gewisse Angelegtheit des Verstandes, eine Disposition zur Wahrnehmung der Körper. Diesen schreibt er – wie auch schon Vorgänger von ihm – Qualitäten zu, primäre und sekundäre. Größe, Gestalt, Zahl, Lage, Bewegung und Ruhe sind untrennbar von den Dingen selbst, die wir wirklich wahrnehmen. Farbe oder Geschmack sind sekundäre Qualitäten, die durch Kombination im Bewußtsein entstehen, allerdings an Erfahrungen gebunden bleiben. Durch Abstraktion und Vergleiche gelangen wir dann zu Kategorien, die kein Erfahrungsäquivalent mehr besitzen, z.B. Schönheit. L.s Scharfsinn verdanken wir des weiteren die Einsicht, daß ohne Untersuchung der Sprache auch keine gesicherten Schlüsse auf die menschliche Erkenntnis gezogen werden können. Denn die Worte bedeuten uns ja die Dinge, wobei wir vergessen, daß sie lediglich Zeichen sind, welche die Substanz nur repräsentieren. Erkenntnistheorie ist für L. unverzichtbar mit Sprachphilosophie gekoppelt, da den Empiriker das Unterscheidungsproblem zwischen Wirklichkeit der Erfahrung, der Wahrnehmung und der Erfahrung repräsentierter Wirklichkeit durch willkürlich gesetzte Zeichen (Namen) zutiefst verunsicherte. Denn Zweck dieser ganzen philosophischen Veranstaltung sollte ja Erkenntnis von Wahrheit sein, um diese wiederum zum Wohl des gesellschaftlich organisierten Individuums zu verwenden. Und wenn keine verläßlichen Aussagen über die Wirklichkeit der Dinge an sich zu machen wären, gäbe es notwendig auch keine ewigen Wahrheiten, weshalb keine Person (z.B. der Staatssouverän als König) oder eine Glaubensgemeinschaft (z.B. die Kirchen) die allein gültige Wahrheit für sich in Anspruch nehmen könnten (»Wahrheit ist nicht zu pachten!«).
Hierin wird deutlich, daß L. Erkenntnistheorie nicht um ihrer selbst willen betrieb. Da keine bestimmten moralischen Prinzipien angeboren sind, sozusagen auch nicht als »Ideologien erinnerbar« sind, ist der Mensch prinzipiell frei. L. entwarf später (1693) eine konsequent darauf aufbauende Pädagogik (Some Thoughts Concerning Education; Einige Gedanken über die Erziehung), die ein ganzheitliches Erziehungsideal vertritt. Durch die Aneignung der Wirklichkeitsbilder, der »Ideen«, kommen wir an den Punkt, wo wir in moralischen Wahrheiten (z.B. Gerechtigkeit) nicht mehr das Abbild (von der Natur) erblicken, sondern in ihnen die eigenen Ur-bilder, die eigenen »Ich-Ideen« begreifen. Unser Lernen führt uns also zu einem Bewußtsein von uns selbst. Ziel aller Erziehung ist demnach nicht der Gelehrte, der Spezialist, vielmehr der vernünftige Mensch, der mündige Bürger. Das Bewußtsein seiner selbst konstituiert also die eigene Identität. Das Individuum ist aber selbst nach L. (Two treatises of Government, 1690; Zwei Abhandlungen über die Regierung) nicht einmal im Naturzustand allein, es ist beständig mit dem Problem der Existenz anderer Interessen befaßt. Im Gegensatz zu Hobbes beschreibt L. den Naturzustand als harmonische Koexistenz vernunftbegabter Wesen (»Disposition«), die in Freiheit und Gleichheit nach dem Naturgesetz der Vernunft (!) Konfliktregelung durch Schadensausgrenzung exerzieren. Jeder besitzt notwendigerweise nur soviel Güter, wie er zu seinem unmittelbaren Bedarf benötigt. Eigentum stellt in dieser vorpekuniären Entwicklungsstufe noch kein Problem vor. Erst durch die Möglichkeit, mittels des Geldes unterschiedliche Besitzverhältnisse zu etablieren, warf sich die Frage nach der Verteilung der durchweg immer knappen Güter auf. Wer also das Grundrecht eines anderen, z.B. den Besitz, streitig machte, erklärte den Krieg – und dafür gab es keine schlichtende, überparteiliche Instanz. Dieser Naturzustand ist natürlich gleichnishaft auch das Bild der zeitgenössischen gesellschaftlichen Realität, des Widerstreits zwischen Staat und Kirche und der Selbstbehauptung der bürgerlichen Gesellschaft, deren Sache L. mit der Idee der absoluten Volkssouveränität (»Alle Macht geht vom Volke aus«) verfocht. Es gibt für ihn vor der letzten – göttlichen – Instanz nur eine wahre Gewalt: die auf Vernunft gegründete bürgerliche Herrschaft, welche den Staat lediglich autorisiert, für uneingeschränkte Sicherheit und freien Gütertausch zu sorgen. Denn Eigentum wird als zentrales Merkmal der Vernunft bestimmt: Dinge gewinnen ihren Wert durch die menschliche Arbeit, die absolut persönliches Eigentum des Menschen ist. Indem er daran arbeitet, besitzt er es, wandelt seinen Verkehrswert. Da der vernünftige Mensch sein Eigentum beansprucht, schafft er Besitz, Mehrwert von Arbeit. Also soll auch der Besitzende seinen Anspruch auf eine vernünftige Regelung der Tauschbeziehungen anmelden. Damit war jeder moralischer Makel, der dem Eigentum und der Verfügung über Kapital anhaftete, beseitigt. Vernünftiges Verhalten ist besitzaneignendes Verhalten, Besitzlose sind demnach unvernünftig. Entsprechend geringeres Mitentscheidungsrecht in politischen Belangen ist die Folge, denn es sind nicht die Interessen dieser Klasse, die verhandelt werden. So wird der Übergang vom Naturzustand der Dissoziation vernunftbegabter Individuen zur politischen Gemeinschaft gekennzeichnet durch den Gesellschaftsvertrag, in dem die freien und gleichen Wesen freiwillig einem Teil ihrer natürlichen Rechte entsagen und auf den Staat als dem Gesamtwillen aller Bürger übertragen. Die Gewaltenteilung kontrolliert den Apparat; als letztes Instrument verbleibt das Recht zu gewaltsamem Widerstand, wenn der Staat das in ihn gesetzte Vertrauen vorsätzlich verletzt. Mißtrauen und Kontrolle sind also nach der Staatsgründung die ersten Bürgerpflichten. Die in diesem Modell ökonomisch auf der Strecke verbleibende Klasse wird stillschweigend im Status der Unbedeutendheit integriert. »Die Kennzeichen des Liberalismus sind im politischen Bereich die parlamentarische Demokratie; in der Wirtschaft der aus kleinen und mittleren Unternehmen bestehende industrielle Kapitalismus; in sozialer Hinsicht der Aufstieg und die Macht der Bourgeoisie; kulturell die Freiheit des Denkens und der Meinungsäußerung; in der Moral der Individualismus; auf internationaler Ebene das Nationalitätenprinzip; im religiösen Bereich ein mehr oder weniger heftiger oder gemäßigter Antiklerikalismus.«
Dennoch liegt in der von L. konzipierten liberalistischen Staatstheorie ein überzeitliches Potential verborgen. Der wesentliche Fortschritt gegenüber allen Theorien vor ihm besteht darin, daß sie offenlegt, wie sich die Gesellschaft als eigenes Organisationsfeld vom Staat abspaltet und ein ökonomisches und soziologisches Eigengewicht erhält, das erlaubt, sie als die eigentlich staatstragende Basis zu verstehen.
Bouillon, Hardy: John Locke. Berlin 1997. – Euchner, Walter: John Locke zur Einführung. Hamburg 1996. – König, Siegfried: Zur Begründung der Menschenrechte: Hobbes, Locke, Kant. Freiburg 1994. – Thiel, Udo: John Locke. Reinbek 1990. – Specht, Rainer: John Locke. München 1989.
Thomas Schneider
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