Metzler Philosophen-Lexikon: Machiavelli, Niccolò
Geb. 3. 5. 1469 in Florenz;
gest. 22. 6. 1527 in Florenz
M. war ein Philosoph – und er war auch kein Philosoph. Praktisches politisches Handeln, diplomatischer Dienst war eigentlich sein Metier; Theoretiker und Philosoph wurde er wider Willen – ein politischer Pragmatiker auf dem Abstellgleis. »Mir hat die Politik nichts als Schaden gebracht, die Liebe aber stets Freude und Genuß«, schreibt er in einem Brief 1514 aus dem ungeliebten Exil, seinem kärglichen Landgut, nahe der vertrauten Wirkungsstätte Florenz. Dort wurde er 1469 als Sohn eines Juristen aus niederem Adel geboren, die Jugend verbrachte er unter dem Eindruck des Glanzes der Republik im oberitalienischen Intrigenspiel um regional begrenzte Hegemonie, das durch Frankreichs militärische Intervention zum bitteren Ernst geriet: die Renaissance – eine Krisenzeit. Prägende Gestalt dieser Epoche war für M. Girolamo Savonarola; in ihm sah er den Prototyp des »unbewaffneten Helden, der notwendig scheitert, zumal in einer Welt, die von Waffen starrt«. 1498 trat M. in die Dienste der Republik Florenz. Er war Berater, Diplomat und mit weitreichenden Aufträgen befaßter Beamter (er reformierte das Heerwesen, d.h. er schuf die Bürgerwehr als Alternative zum Söldnerheer).
Seine Missionen führten ihn in die damaligen Zentren der Macht, die Höfe, die Fürstentümer, den Vatikan. M. galt als treuer Diener der Republik, als glänzender Redner und Diplomat; sein Wissen um politisches Handeln war allgemein anerkannt, sein Rat gefragt, sein sicheres Kalkül gefürchtet. Die Zeit und der Ort seiner Abschiebung von der aktuellen politischen Bühne bedeuteten für ihn gleichsam die Pflicht, die Untätigkeit und das Gefühl, nicht gebraucht zu werden, im Medium des theoretischen Diskurses zu überwinden. Diese philosophischen Übungen wurden nur von schöngeistigem Schaffen unterbrochen. Aus dieser Zeit datieren viele Gedichte, Briefe, Chroniken und Dramen, u.a. seine bekannte Komödie La Mandragola (1525). Gleich zu Beginn seines Ausscheidens (1513) aus dem diplomatischen Beraterdienst – er geriet in den unbegründeten Verdacht einer Verschwörung gegen die gerade nach Florenz zurückgekehrten Medici – überraschte er seine Freunde mit der Ausarbeitung theoretischer Überlegungen: den Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio (1531; Erörterungen über die erste Dekade von Titus Livius) und Opuscolo de principatibus, dem späteren Il principe (1532; Der Fürst), seinem bekanntesten und bedeutendsten Werk. Darin breitet er einen systematischen Theorieansatz über die Technik politischen Handelns aus, eine Grundlegung neuzeitlicher Staatsphilosophie.
Die Frage nach der moralischen Ordnung gesellschaftlichen Lebens steht hierbei nur im Hintergrund. Sie wird dominiert vom Primat des Machterwerbs und der Machterhaltung. Politik und Moral begreift M. als grundverschiedene Kategorien: »Wer politisch handelt, muß auch Böses tun.« Lüge, Betrug, Intrige, sogar Mord sind probate Mittel, die Macht über andere zu erlangen, allein auf den Willen und die Entschlossenheit zur Tat kommt es an. Die einzige Legitimation politischen Handelns besteht in der Zweckgerichtetheit und im Erfolg; moralisch verworfen gelten M. ohnehin alle Menschen. Sie streben allesamt nach persönlichem Gewinn, ihre Schranken sind Furcht und Haß: »Denn von den Menschen läßt sich im allgemeinen soviel sagen, daß sie undankbar, wankelmütig und heuchlerisch sind, voll Angst vor Gefahr, voll Gier nach Gewinn Denn das Band der Liebe ist die Dankbarkeit, und da die Menschen schlecht sind, zerreißen sie es bei jeder Gelegenheit um ihres eigenen Vorteils willen.«
Deshalb gab es in der Einschätzung seiner Schriften zumindest in einem Punkt nie Zweifel: M. galt immer als unbedingter Realist, der sich niemals Spekulationen hingab. Das Bild vom Menschen reduziert sich bei ihm auf eine kalkulierbare rechnerische Größe, das Handeln ist nach sorgfältiger Analyse aller Faktoren vorhersehbar, politische Entscheidungen basieren auf der richtigen Taktik im Spiel um die Macht. Dieser Gedanke war damals bahnbrechend neu, fast revolutionär. Denn im Kampf um die Macht entscheidet nur noch der zweckmäßige Gebrauch der Mittel, nicht mehr Abstammung oder der rechte Glaube; insofern impliziert dieses Denken die prinzipielle Gleichheit aller Menschen. M. verstand sich als Ratgeber und Lehrmeister, sein konkretes Aktionsfeld war die Diplomatie. In Analogie zu Aristoteles’ Philosophiebegriff wäre das Denken M.s einerseits poietischˆ zu nennen, insofern sein Zweck außerhalb des Begriffs liegt (»Handeln zur Macht«), andererseits aber auch praktisch, weil es seinen Zweck in sich selbst hat (»Politik als Machthandlung«). Jedenfalls ist es die endgültige und gründliche Abkehr von den Aporien der antik-christlichen Moralphilosophie über das Guteˆ, das rechte Handelnˆ. Im Principe heißt es: »Da es aber meine Absicht ist, etwas Brauchbares für den zu schreiben, der Interesse dafür hat, schien es mir zweckmäßig, dem wirklichen Wesen der Dinge nachzugehen als deren Phantasiebild.« Auch hier ist die nüchterne Aufrichtigkeit, die analytische Schärfe des Pragmatikers treibende Kraft.
Aus der Trennung von Politik und Moral ergibt sich für ihn die Frage nach der Neuformulierung des Ethischen: weil das funktionierende Staatswesen auf Gewalt beruht, nicht auf Gerechtigkeit. Die Durchsetzung politischen Handelns als Selbstzweck faßte man später im Begriff der Staatsräson, M. darf dabei als Urheber gelten. Auch sollte man keineswegs in M. einen Anhänger der Tyrannis sehen, schließlich blieb er zeitlebens ein glühender Verehrer der florentinischen Republik. Das Gelingen politischer Pragmatik hängt bei ihm von zwei Faktoren ab: von »fortuna«, die das allgemeine Schicksal lenkende Zeitenkraft, und von »virtus«, den (männlich verstandenen) Eigenschaften Energie, Entschlossenheit und Durchsetzungskraft. Nur wenn die Zeitläufe einem tatkräftigen Mann (Principe) wohlgesonnen sind, also die Voraussetzungen und Begleitumstände dafür sprechen, wird er Macht gewinnen und bei richtigem Gebrauch auch erhalten. Die alte Bedeutung von »virtus« (Tugend) hat damit eine neue, zweckrationale Qualität erhalten: der Erfolg allein zählt, oder: dem Tapferen winkt das Glück.
M.s Denken verdanken wir den neuzeitlichen Begriff der Macht als Basisphänomen des Politischen, die technokratische Trennung von Politik und Moral. Dabei bewegte ihn durchaus ein ähnlich erkenntnisleitendes Interesse wie etwa Thomas Morus, der das Fortschrittspathos der Renaissance im Genre des Staatsromans auf die Insula Utopia hin richtete. Die Ausgangssituation war für beide gleich: Auflösung der mittelalterlichen Welteinheit, Veränderungen des Weltbildes aufgrund neuer Erkenntnisparadigmen, Auseinanderbrechen der kirchlichen Macht, Kriege, demographische Umschichtungen, die Etablierung moderner Kapitalwirtschaft, Expansion des Handels – Sehnsucht nach einem anderen, sicheren, jedenfalls neuen und besseren Leben. Morus entschied sich in seinem utopischen Entwurf für das Bild der gerechten Gesellschaft, wie sie schon bei Platon im Höhlengleichnis als Schlüssel zum politischen Handeln entwickelt wurde. In diesem System gilt die Prämisse, daß der Mensch »Maß« und »Ziel« habe, sein Handeln deshalb notwendig »richtig« werde, wenn er nur auf das »Gute« zuhalte. Der Natur (Notwendigkeit/Wahrheit) steht das Recht (»nómos«) als eine menschliche Größe gegenüber; die konsequente Fortführung dieses Gedankens endet bei dem Bild einer »gerechten Gesellschaft«, einer »konkreten Utopie«.
In der Renaissance findet generell Neuorientierung an antiken Interpretationsmustern statt; M.s Discorsi beispielsweise argumentieren an der Geschichte des Livius entlang, preisen die Machtfülle des vorchristlichen römischen Imperiums. Die nationale und politische Zersplitterung Italiens zu Zeiten M.s bedeutete ihm ein vorrangiges Motiv, das sein Denken inspirierte. So ist das letzte Kapitel des Principe überschrieben: »Aufruf, Italien von den Barbaren zu befreien«. Dieses konkrete Ziel war in den Augen M.s nur von einer starken Persönlichkeit zu realisieren, die fähig wäre, den Machterwerb zu maximieren. Da nur solche Personen von einer Aura der Macht umgeben sein können, die ein Vorhandensein »wirklicher« Macht suggerieren, wendet sich M. mit seinen Ideen an die Figur des Fürsten. Seine Schriften stehen aber ausdrücklich nicht in der literarischen Tradition des Fürstenspiegels, einer Literaturgattung, die durch die Beschreibung einer gerechteren Welt den tatsächlichen Verhältnissen einen Spiegel vorhält und sie dadurch verändern, bessern möchte (z.B. Thomas von Aquin, Über die Herrschaft der Fürsten).
Auch die heilsgeschichtliche Vision des Augustinus vom Gottesstaat, die Hierarchisierung der Welt im mittelalterlichen Denken und die Rezeption der aristotelischen Staatstheorie bedeuteten eher Gegenpole zu M.s Versuch, die Funktionen eines Machtapparates in der Theorie zu optimieren. Bei Aristoteles sind Naturvorgänge und menschliches Handeln immer zweckgerichtet, teleologisch. Nach M.s Auffassung liegt aber der Zweck politischen Handelns in sich selbst und ist keineswegs auf ethische Kategorien außerhalb gerichtet. Insofern zielt M.s Utopie auf das »hic et nunc«, auf das Machbare. Doch war ihm auch schon die Begrenztheit des Technokratischen bewußt. Diese Erkenntnis wurde zu seinem persönlichen Krisenphänomen.
M.s Biographie und sein Werk bilden das Paradoxon seines Theorieansatzes und der Frage nach Theoriefähigkeit in der Philosophie ab. Sein Denken verstand er als Anleitung zum Gebrauch, zu dem er selbst niemals berufen war. Vielleicht deshalb sehen wir heute in ihm den Denker der Abstraktion vom real vordergründigen Gebrauch der Macht – und sehen in ihm gleichzeitig den Utilitaristen, den willfährigen Lehrer im interessengeleiteten Kampf um konkreten politischen Einfluß. Der Umbruch vom Mittelalter in eine neue Perspektive auf die Geschehnisse der Welt stellte sich ihm als säkulare Erschütterung dar. Die Zukunft konnte keine Garantien geben. M.s technokratisches Denken scheint uns heute wohlvertraut. Machtapparate, wie er sie antizipierte, funktionieren ohne die Kontrolle der Betroffenen.
Sein Erfahrungshorizont war die Erkenntnis, daß im Aufbruch der Renaissance die Menschen einander gnadenlose Feinde sind, vielleicht immer waren und bleiben werden. Die Fortsetzung seiner Analysen in konkrete Schlüsse, das Ergebnis als Technokratie, überraschen uns nicht. Die Konsequenz machiavellistischen Denkens überschreibt die Nachwelt als grausam. In seiner Anlage jedenfalls ist seine Ideologie ästhetischer Natur. »Es war das Schicksal der Renaissance, nur im Kunstwerk sagen zu können, was sie bedrängte Machiavelli ist nicht der Realist des Staates, sondern der Künstler einer in der Wirklichkeit unüberholbar verlorenen Ordnung, die er als fernes Bild seiner Gegenwart vorhält« (René König). Insofern läßt sich auch die architektonische Gedankenanalyse des Principe nicht nur als politische Utopie begreifen, sondern gleichzeitig von seiner perspektivischen Blickrichtung her als ästhetisches Manifest.
Campagna, Norbert: Niccolò Machiavelli. Eine Einführung. Berlin 2003. – Taureck, Bernhard H. F.: Machiavelli-ABC. Leipzig 2002. – Skinner, Quentin: Machiavelli zur Einführung. Hamburg 2001. – Virolo, Maurizio: Das Lächeln des Niccolò. Machiavelli und seine Zeit. Zürich 2000, Reinbek 2001. – Gil, Christiane: Machiavelli. Die Biographie. Düsseldorf 2000. – Hoeges, Dirk: Niccolò Machiavelli: Die Macht und der Schein. München 2000. – Fink, Hubert: Machiavelli. Eine Biographie. München 1990. – Kersting, Wolfgang: Niccolò Machiavelli. München 1988.
Thomas Schneider
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