Metzler Philosophen-Lexikon: MacIntyre, Alasdair Chalmers
Geb. 1929 in Glasgow (Schottland)
M. ist einer derjenigen Autoren, die der gegenwärtigen Ethik nach dem epochalen Werk von John Rawls ganz neue Impulse gegeben haben. Neben Charles Taylor ist er der wohl einflußreichste Vertreter des Kommunitarismus, wobei es ihm insbesondere um eine Rehabilitierung aristotelischer Positionen geht, mit denen er die kantische Ethik und ihre verschiedenen liberalistischen oder auch diskursethischen Fortführungen angreift. Im Unterschied zu Taylor vertritt M. die Auffassung, daß das »Projekt der Aufklärung« im Sinne einer rationalen Grundlegung moralischen Handelns gescheitert sei, jedoch mit einer Radikalität, die vermittelnde Positionen nahezu ausschließt. In seinem Buch Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart (1981; dt. 1987), das ihn auch international bekannt macht, wendet er sich vehement gegen die seiner Meinung nach insgesamt degenerierte moralische Kultur der Moderne. Er ist der Überzeugung, daß das Projekt der Aufklärung »nicht nur in die Irre ging, sondern überhaupt nicht hätte in Angriff genommen werden sollen«. Da das moderne, liberale Individuum keinerlei soziale Identität mehr besitze, sei ihm die Ausübung von Tugenden ebenso unmöglich geworden wie die Einsicht in ihre konstitutive Bedeutung für das eigene Leben und die soziale Gemeinschaft.
M. selbst hat auf prägende Kindheits- und Jugenderfahrungen in der irisch-gälischen Kultur hingewiesen, die ihm die moralische Bedeutung lokaler Gemeinschaften mit starken Wertbindungen früh aufgeschlossen hätten. Während des Philosophiestudium am Queen Mary College der University of London und der University of Manchester beschäftigt er sich vor allem mit der griechischen Antike und deren christlich-mittelalterlicher Rezeption, die er ebenfalls als Gegenmodell zur liberalistischen Moderne versteht. Nach dem Studium ist M. zunächst Lektor für Philosophie und Religionsgeschichte, später Professor für Soziologie in Manchester, er lehrt in Leeds, Oxford (1963–1966) und Essex (1966–1970). In der ersten Buchveröffentlichung Marxism. An Interpretation (1953), unternimmt M. den Versuch, den Marxismus – er selbst ist kurze Zeit Mitglied der Partei – mit den sozialen Gehalten des Christentums zu verbinden. Bereits in der überarbeiteten Version Marxism and Cristianity (1968) distanziert er sich davon jedoch zum Teil wieder. Er sieht im Marxismus keine wirkliche Alternative zum Liberalismus mehr, sondern gleichfalls eine Verkörperung der verfehlten modernen Gesellschaft. Statt dessen beschäftigt er sich immer eingehender mit der abendländischen moralischen Tradition. Ergebnis ist die Geschichte der Ethik im Überblick. Vom Zeitalter Homers bis zum 20. Jahrhundert (1966; dt. 1994). Methodisch kritisiert M. hier die unhistorische Betrachtungsweise der Moral, wie sie charakteristisch für die Analytische Philosophie ist. Er selbst versucht demgegenüber, die jeweiligen Moralkonzeptionen innerhalb ihres historischen und kulturellen Kontextes zu rekonstruieren. Inhaltlich findet sich eine deutliche Sympathie für die aristotelische und eine Kritik der kantischen Ethik. Damit ist bereits die Richtung vorgegeben, die später in Verlust der Tugend systematisch entfaltet wird. Kritisch wendet sich M. auch gegen die Psychoanalyse Freuds. Die frühe Studie Das Unbewußte. Eine Begriffsanalyse (1958; dt. 1968) weist allerdings noch genau den methodischen Fehler auf, den die Geschichte der Ethik vermeidet. Aufgrund einer unhistorischen, an sprachanalytischen Kategorien orientierten »logischen Analyse« wird dem Freudschen Grundbegriff eine erklärende Kraft abgesprochen und die Theorie insgesamt nur rhetorisch gewürdigt.
1971 emigriert M. in die USA, wo er bis 1999 an verschiedenen Universitäten lehrte. M. selbst hat das Motiv für die Emigration u. a. darin gesehen, daß es ihm nicht gelungen sei, seine damaligen disparaten philosophischen Überzeugungen in eine einheitliche Konzeption zu bringen. Aber auch in den Staaten gelingt ihm dies zunächst nicht, der Durchbruch bringt erst Der Verlust der Tugend. Nach der Diagnose, die M. in diesem Buch vornimmt, gibt es in den gegenwärtigen liberalen Gesellschaften keine übereinstimmenden Antworten mehr auf fundamentale moralische Fragen – wie z.B. die des gerechten Krieges, der Abtreibung oder der sozialen Gerechtigkeit. Völlig entgegengesetzte Positionen lassen sich scheinbar mit (intern) schlüssigen Argumentationen vertreten. Dies ist für M. ein Indiz dafür, »daß die Sprache der Moral aus einem Zustand der Ordnung in einen Zustand der Unordnung übergegangen ist«. Ergebnis dieses Verfallsprozesses ist ein emotionaler Relativismus, für den moralische Urteile in letzter Konsequenz nur Ausdruck von Gefühlen oder persönlichen Vorlieben sind. Ein solcher Emotivismus bestimmt nach M. nicht nur die akademische Moralphilosophie, sondern ist auch tief in das gegenwärtige Selbstverständnis der westlichen Kultur eingedrungen. Dieses Selbstverständnis sei im wesentlichen »weberianisch«, da nicht mehr weiter begründbare Wertentscheidungen zum Ausgangspunkt jeglichen sozialen Handelns geworden seien. Darin sieht M. das in jeder Hinsicht verhängnisvolle Ergebnis des Projekts der Aufklärung. Seine Kritik richtet sich in erster Linie gegen den Formalismus der kantischen Moralphilosophie (aber auch gegen den Utilitarismus). Das bloße »Faktum der Vernunft« führe in keiner Weise zu einer gehaltvollen und begründbaren moralischen Position, sondern im Gegenteil in einen kriterienlosen Dezisionismus (wie bei Kierkegaard) und/oder in einen Subjektivismus, der sich jenseits von Gut und Böse wähnt (wie bei Nietzsche). M. sieht gerade in der Position Nietzsches das konsequente Zuendedenken des inhärent falschen Projekts der Aufklärung und lehnt daher auch sämtliche Versuche, die kantische Konzeption weiter zu entwickeln, entschieden ab.
Eine offene Diskussion mit liberalistischen oder diskursethischen Positionen scheint unter diesen Bedingungen in der Tat keinen Sinn mehr zu haben. Für M. spitzt sich daher, wie es in Verlust der Tugend heißt, alles auf die Frage »Nietzsche oder Aristoteles?« zu. Über die Antwort gibt es für ihn keinen Zweifel. Der konstruktive Teil des Buches besteht entsprechend in dem Versuch, »die Ethik des Aristoteles oder etwas ihr sehr Ähnliches« zu verteidigen. Zentraler Inhalt dieses Versuchs ist eine Reformulierung des aristotelischen Tugendbegriffs in drei Schritten, wobei jeder Schritt eine spezifische Form der Integration darstellt: Menschliches Handeln kann überhaupt nur dann angemessen verstanden werden, wenn es (1) in Formen »sozialer Praktiken« integriert ist, für die eine Unterscheidung von bloß äußerlichen und inhärenten Gütern bzw. Zielen konstitutiv ist; um die sozialen Praktiken ihrerseits in eine hierarchische Ordnung zu bringen, bedarf es (2) des Aufbaus eines substantiellen Selbst, das eine »narrative Identität« entwickelt; und dieses wiederum ist dafür (3) auf »moralische Traditionen« angewiesen, in denen sich Vorstellungen über ein gutes und gelungenes Leben ausgebildet haben. Während sich M. in Verlust der Tugend vor allem den ersten beiden Integrationsschritten widmet, analysiert er in den beiden nachfolgenden Büchern Whose Justice? Which Rationality (1988) und Three Rival Versions of Moral Enquiry (1990) das Problem moralischer Traditionen. Alle drei Werke bilden eine systematische Einheit.
In diese Zeit fällt auch der Aufsatz Ist Patriotismus eine Tugend? (1988; dt. 1993), in dem sich der konservative Grundton M.s am vielleicht deutlichsten zeigt. Er interpretiert hier die Zugehörigkeit zu einer politischen Gemeinschaft nach dem Muster der Zugehörigkeit zu einer Familie. Die Verpflichtung gegenüber der eigenen Gemeinschaft habe einen absoluten normativen Vorrang gegenüber »neutralen« moralischen Standpunkten, und entsprechend sei Patriotismus die höchste politische Tugend. In Whose Justice? Which Rationality und Three Rival Versions of Moral Enquiry finden sich dagegen differenziertere Überlegungen. Im Zentrum steht die Frage nach der Möglichkeit einer rationalen Vermittlung zwischen kulturellen Werten und Überzeugungen, die verschiedenen Traditionen angehören. Auf diese Frage könne eine rein aristotelische Ethik keine Antwort mehr geben. M. wendet sich daher vor allem Thomas von Aquin zu, in dessen Konzeption er eine mustergültige Integration verschiedener moralischer Traditionen (nämlich der aristotelischen und der christlich-augustinischen) sieht. M. verneint zwar, daß es traditionsübergreifende Rationalitätsstandards gibt, hält jedoch auch eine generelle Dichotomie von Vernunft und Tradition für falsch. Er versucht daher, ein thomistisches Modell zu entwickeln, nach dem eine Tradition – etwa aufgrund von internen Krisenerfahrungen – schrittweise die Positionen einer anderen Tradition übersetzt und als Beiträge zu den eigenen Problemen reformuliert. Dies ist deshalb möglich, weil moralische Traditionen keine isolierten Universen sind, sondern historisch gewachsene Antworten auf anthropologische Fragen.
Eine deutliche Hinwendung zur Anthropologie zeigt sich auch in dem bislang letzten Buch Die Anerkennung der Abhängigkeit. Über menschliche Tugenden (1999; dt. 2001). M. analysiert hier die Bedürfnisstruktur, die jedes menschliche Individuum kennzeichne. Er kommt dabei zu dem Ergebnis, daß sich jeder einzelne in einer fundamentalen Abhängigkeit gegenüber den anderen Mitgliedern seiner Gemeinschaft befinde. Am offensichtlichsten werde diese Abhängigkeit in bestimmten Lebensphasen (Kindheit, Alter) und besonderen Situationen (Krankheit, Behinderung), in denen nicht nur unser Wohlergehen, sondern sogar unsere physische Existenz von anderen abhänge. Aber darüber hinaus bestehe eine weitere fundamentale Abhängigkeit in bezug auf das eigentliche Ziel der menschlichen Existenz, welches M. nun darin sieht, ein »unabhängiges, praktisch überlegendes Subjekt« zu werden. Damit sind zwar nach wie vor keine liberalistischen Vorstellungen verbunden, allerdings scheint M. modernen Auffassungen von Selbstbestimmung zumindest etwas entgegenzukommen. Seine Pointe besteht jedoch darin, daß die Anerkennung der Abhängigkeit gerade der Schlüssel zur Unabhängigkeit darstellt. Ohne die Unterstützung der anderen sind wir gar nicht in der Lage, eine eigenständige Existenz zu führen. Sinn und rationale Orientierung für unser Leben erhalten wir nur durch die Vielzahl der Interaktionen mit den verschiedenen Mitgliedern konkreter Gemeinschaften (Familien, Nachbarschaften u.ä.), in denen sich eine Kultur des »Gebens und Nehmens« entwickeln konnte. Offen bleibt jedoch – wie schon in Verlust der Tugend – auch hier, ob sich solche Gemeinschaften unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft so ausbilden können, daß sie die für die moralische Entwicklung des Individuums konstitutive Funktion überhaupt erfüllen können, die M. ihnen zuspricht. Wenn nicht, bleibt seine Ethik, auch wenn sie eine Vielzahl überzeugender Analysen beinhaltet, eine – je nach Perspektive – weltfremdromantische oder konservativ-kulturkritische Konzeption.
Russell Weinstein, Jack (Hg.): On MacIntyre. Belmont 2002. –
Norbert Meuter
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.