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Metzler Philosophen-Lexikon: Mandeville, Bernard de

Geb. um 1670 in Dordrecht;

gest. 21. 1. 1733 in Hackney/London

Zu den Stileigenschaften der englischen Aufklärungsphilosophie gehört das unvoreingenommene, zunächst von keiner Theorie geleitete Fragen nach Problemen und Gegenständen, womit oft ein scheinbar müheloser Aufstieg vom common sense einer Alltagsbeobachtung zu schwierigen erkenntnistheoretischen Erörterungen gelingt. Beläßt es der Autor jedoch bei der trivialen Schilderung des Gegebenen, entwertet sich das Verfahren oder es verfällt dort, wo moralische Grundsätze in offenbar rein satirischer Absicht behandelt werden, der Kritik einer offiziell, das heißt in Übereinstimmung mit diesen Normen herrschenden Meinung. Dieser Gefahr sahen sich die Schriften M.s ausgesetzt, in denen er zu zeigen versucht, wie die Menschen sind, nicht wie sie sein sollen. Sie sind dementsprechend von vielen nur als Anekdotensammlungen eines zynischen Beobachters der frühkapitalistischen Konkurrenzgesellschaft gelesen worden, bei denen man nicht nach konstruktiven Ansätzen einer Gesellschaftstheorie suchte; während man sein Werk so nur unzulänglich verstand, wurden die wenigen authentischen Zeugnisse seiner Biographie durch eine Unzahl von Gerüchten überlagert, die ihm jenen amoralischen Egoismus in der Lebensführung nachsagten, den er in seiner berühmten, mehrfach überarbeiteten Fable of the Bees (1705/1714; Die Bienenfabel) als Prinzip allen gesellschaftlichen Handelns aufdeckt.

M. stammte aus einer vornehmen niederländischen Familie, die ihm eine standesgemäße Schulbildung – das adlige deˆ legte M. erst später ab – und eine zweifache Promotion in den Fächern Philosophie und Medizin an der Universität Leyden ermöglichte. Nach dem Studium läßt er sich – zunächst nur um die Sprache zu erlernen – in England nieder, wo er bis zu seinem Tode als Arzt für Nerven- und Magenleiden (»hypchondriack and hysterick passions«) praktiziert und als Autor freidenkerischer Schriften (Free Thoughts on Religion, the Church, and National Happiness, 1720; A Modest Defence of Publick Stews, 1724) zu einem bekannten und, entgegen seinem Ruf, geschätzten Glied der Londoner Gesellschaft wird. Eben diese Gesellschaft und die Frage, wie sie ihren Wohlstand trotz oder vielleicht gerade wegen der sichtbaren Korruption erhält, ist das Thema der Bienenfabel.

Im Sinne der neuzeitlichen Anthropologie bestimmt M. den Trieb zur Selbsterhaltung als ein »Naturgesetz«, dem der Mensch auf allen gesellschaftlichen Entwicklungsstufen unterworfen bleibt. Anders als Hobbes, Spinoza oder Samuel Pufendorf setzt er allerdings dieser Kategorie noch eine sie fundierende Grundbestimmung voraus: die »Selbstliebe« oder die Wertschätzung des eigenen Selbst (»self-liking«), aus der das Selbsterhaltungsstreben hervorgeht. Diese Akzentuierung ist insofern von Bedeutung, als damit die »Ablösung der naturrechtlichen Denkweise und Grundlegung der Theorie des Staates durch eine Theorie der Gesellschaft« (Wolfgang Schrader) vorgezeichnet wird, denn die natürliche Gegebenheit der Selbsthilfe begründet kein Recht mehr, das gegen andere geltend gemacht werden könnte. Dennoch erklärt gerade dieses Prinzip die Funktion von Herrschaft und den Ursprung der Vergesellschaftung der Individuen, da die selbstsüchtigen Privatinteressen den Menschen in seinem Handeln für den »Gesetzgeber« berechenbar machen. Die Selbstliebe wird in das politische Kalkül einbezogen, um die egoistischen Individuen mittels »imaginärer Belohnungen« zur »beschwerlichen Selbstverleugnung« ihrer triebhaften Neigungen zu bewegen: »Je genauer wir die menschliche Natur erforschen, desto mehr werden wir davon überzeugt sein, daß Sittlichkeit ein sozialpolitisches Erzeugnis aus Schmeichelei und Eitelkeit ist.« Selbst wenn der Mensch zum Nutzen der Allgemeinheit handelt, sucht er letztlich nur die Bestätigung und Steigerung seines Selbstwertgefühls.

M. leugnet damit zwar die natürliche Moralität im menschlichen Empfinden, sein – nirgends eingehend begründeter – Begriff der Selbstverleugnung (»self-denial«) enthält jedoch den Hinweis auf eine Tugendlehre, die mit der protestantischen Vorstellung von der Unterdrückung der aus der sündigen Natur des Menschen erwachsenden Begierden durchaus vereinbar ist bzw. sich ihr verdankt, was bereits ein prominenter Gegner M.s, Francis Hutcheson, kritisch anmerkt. Nur die »Gott geweihten Christen« sind nach M.s Auffassung dazu fähig, den Instinkt der Selbstliebe in sich abzutöten, wodurch sie aber nicht mehr in den »natürlichen Verhältnissen« leben, unter denen sich Menschen zivilisieren und für die paradoxerweise gilt, daß aus privaten Lastern öffentliche Wohltaten folgen, was jener für die Zeitgenossen so anstößige Untertitel von M.s Bienenfabel zu einer Formel zusammenfaßt: »Private vices, Publick Benefits«.

Grugel-Pannier, Dorit: Luxus. Eine begriffs- und ideengeschichtliche Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung von Bernard Mandeville. Frankfurt am Main u.a. 1996. – Malcolm, Jack: The Social and Political Thought of Bernard Mandeville. New York u.a. 1987. – Schrader, Wolfgang H.: Ethik und Anthropologie in der englischen Aufklärung. Der Wandel der moralsense-Theorie von Shaftesbury bis Hume. Hamburg 1984.

Friedrich Vollhardt

  • Die Autoren
Herausgegeben von Bernd Lutz

Albert, Claudia (Berlin): Ariès, Diderot, Elias, Jonas, Ricoeur
Altmayer, Claus (Saarbrücken): Garve
Arend, Elisabeth (Bremen): Bourdieu, Durkheim, Ficino
Askani, Hans-Christoph (Paris): Bultmann, Lévinas, Rosenzweig
Bachmaier, Helmut (Konstanz): Herodot, Simmel
Baecker, Dirk (Witten/Herdecke): Baudrillard
Baltzer, Ulrich (München): Searle
Baumhauer, Otto A. (Bremen): Gorgias, Hippias, Prodikos, Protagoras
Beierwaltes, Werner (München): Proklos Diadochos
Benz, Hubert (Marburg): Iamblichos
Berger, Siegfried (Köln): Comte
Bergfleth, Gerd (Tübingen): Bataille
Bernard, Wolfgang (Rostock): Alexander von Aphrodisias, Nikomachos
Berressem, Hanjo (Aachen): Guattari
Beutel, Albrecht (Münster): Luther
Böhlke, Effi (Berlin): Berdjaev, Solov’ëv, Tocqueville
Boin, Manfred (Köln): Fichte
Borkopp, Peter (London): Schleiermacher
Bormann, Claus von (Bielefeld): Lacan, Lévi-Strauss
Brede, Werner (München): Plessner
Breidbach, Olaf (Jena): Oken
Deitz, Luc (Luxemburg): Antisthenes, Euklid, Kleanthes, Ptolemaios, Sextus Empiricus
Demmerling, Christoph (Dresden): Austin, Bolzano, Carnap, Chomsky, Feyerabend, Kripke, Kuhn, Ryle, Tugendhat
Dorowin, Hermann (Florenz): Ortega y Gasset
Dorsel, Andreas (Menlo Park, Cal.): Newton
Drechsler, Martin (Kreuzlingen): Anaxarch, Berkeley, Chrysippos, Schlick
Elsholz, Günter (Hamburg): Mill
Felten, Hans (Aachen): Saint-Simon
Fick, Monika (Aachen): Lessing
Fischer, Ernst Peter (Konstanz): Bohr, Darwin, Haeckel, Heisenberg, Helmholtz, Pauli, Piaget, Planck, Schrödinger
Fittkau, Ludger (Essen): Virilio
Flaßpöhler, Svenja (Münster): Butler
Früchtl, Josef (Münster): Rorty
Fülberth, Georg (Marburg): Bernstein, Luxemburg
Fütterer, Günther (Neusorg): Fromm
Gehring, Petra (Darmstadt): Serres
Gerhardt, Volker (Berlin): Kant
Gerl-Falkovitz, Hanna-Barbara (Dresden): Guardini
Gillies, Steven (Konstanz): Morris, Needham, Owen, Ricardo, D.F. Strauß
Gmünder, Ulrich (Caracas): Marcuse
Goldschmidt, Werner (Hamburg): Proudhon
Gönner, Gerhard (Bietigheim-Bissingen): Frege, Heraklit
Gosepath, Stefan (Berlin): Rawls
Gräfrath, Bernd (Essen): Hutcheson
Habermehl, Peter (Berlin): Anaxagoras, Anaximander, Augustinus, Boëthius, Clemens von Alexandria, Empedokles, Origenes, Parmenides, Philon von Alexandria, Pythagoras, Xenophanes, Zenon von Elea
Halfwassen, Jens (Heidelberg): Porphyrios
Hausmann, Frank-Rutger (Freiburg): Bodin, La Mettrie, Montesquieu
Heckl, Wolfgang M. (München): Einstein, Galilei
Heidrich, Christian: Kolakowski
Helferich, Christoph (Florenz): Croce, Gramsci, Hegel, Jung
Henckmann, Wolfhart (München): Bakunin, Scheler
Hildebrandt, Hans-Hagen (Essen): Grotius
Hoepner-Peña, Carola (Reichenau): Eriugena
Hoffmann, David Marc (Basel): Steiner
Hogemann, Friedrich (Bochum): Merleau-Ponty
Holenstein, Elmar (Zürich): Jakobson
Holtz, Sabine (Tübingen): Bonaventura
Holz, Hans Heinz (S. Abbondio): Lenin
Horst, Thomas (Stuttgart): Aristippos, Benjamin, Kierkegaard, Rickert
Horster, Detlef (Hannover): A. Adler, Aristoteles, Bloch, Habermas, Luhmann, Sokrates, Thomas von Kempen
Hose, Martin (München): Diogenes Laërtios
Hösle, Vittorio (Tübingen): Lullus
Hoyer, Ulrich (Münster): Gassendi
Hühn, Lore (Berlin): Schopenhauer
Hülle, Alexander (Stuttgart): Melanchthon, C.F. von Weizsäcker
Jamme, Christoph (Jena): Cassirer
Janowski, Franca (Stuttgart): Gentile
Jung, Thomas (Frankfurt am Main): Epiktet
Jung, Werner (Duisburg): Hartmann, Rosenkranz, Ruge
Kaegi, Dominic (Luzern): Heidegger
Kahl, Joachim (Marburg): Topitsch
Karge, Gesine (Berlin): Mach
Keil, Geert (Berlin): Apel, Strawson
Klein, Jürgen (Hamburg): Bacon
Knittel, Elisabeth (Allensbach): Voltaire
Knittel, Hermann (Allensbach): Seuse
Knopf, Jan (Karlsruhe): Korsch
Kocyba, Hermann (Frankfurt am Main): Deleuze
Köller, Wilhelm (Kassel): Peirce
König, Traugott (Frankfurt am Main): Barthes, Kojève, Sartre
Köpf, Ulrich (Tübingen): Bernhard von Clairvaux
Kraus, Manfred (Tübingen): Pyrrhon von Elis
Krauß, Henning (Augsburg): Beauvoir
Kreidt, Dietrich (Stuttgart): Thomasius
Krüger, Marlis (Bremen): Mannheim, Parsons
Kühnl, Reinhard (Marburg): Lukács, Marx/Engels, Spengler
Kulenkampff, Arend (Frankfurt am Main): Reid
Kytzler, Bernhard (Durban): Campanella, Cicero, Joachim da Fiore, Marc Aurel, Morus, Seneca, Xenophon
Laarmann, Matthias (Bochum): Heinrich von Gent
Lachmann, Rolf (Köln): Langer
Lambrecht, Lars (Hamburg): B. Bauer
Lang, Peter Christian (Frankfurt am Main): Adorno, Dilthey, Gadamer, Horkheimer, Plotin, Singer
Lazzari, Alessandro (Luzern): Reinhold
Lohmann, Hans-Martin (Heidelberg): Anders, Freud, Kautsky
Lunau, Martina (Tübingen): M. Mead, Toynbee
Lutz, Bernd (Stuttgart): Anselm von Canterbury, Jaspers, Löwith
Maas, Jörg F. (Hannover): Bayle, Danto, Goodman, Toulmin
Mai, Katharina (Stuttgart): Derrida
Martens, Ekkehard (Hamburg): Platon
Maser, Peter (Telgte): Buber, Scholem
Maurer, Ernstpeter (Dortmund): Quine, Wittgenstein
Meckel, Wolfgang (Staffel): Abaelard, Averroës, Avicenna, Maimonides, Ockham
Mehring, Reinhard (Berlin): Kelsen, Schmitt
Meier, Albert (Kiel): Holbach
Meier, Heinrich (München): L. Strauss
Mensching, Günther (Hamburg): Duns Scotus
Meuter, Norbert (Berlin): MacIntyre
Meyer, Thomas (Dortmund): Nelson
Mohl, Ernst Theodor (Seeheim-Jugenheim): Heß
Münch, Dieter (Berlin): Brentano
Neumann, Sabine (Münster): Flusser
Ollig, Hans-Ludwig (Frankfurt am Main): Cohen, Natorp, Riehl, Windelband
Opitz, Peter J. (München): Voegelin
Peter, Niklaus (Riehen/Basel): Overbeck
Pietsch, Christian (Mainz): Dionysius Areopagita
Pollmann, Karla (St. Andrews): Prudentius
Prechtl, Peter (München): Bentham, Dewey, Hume, James, G.H. Mead, Nussbaum, A. Smith, Taylor
Pries, Christine (Frankfurt am Main): Lyotard
Prill, Ulrich (Münster): Bachelard, Klossowski, Malebranche, Spinoza
Raab, Jürgen (Konstanz): Sennett
Raffelt, Albert (Freiburg): Blondel, Rahner
Rentsch, Thomas (Dresden): Husserl, Lask, Simmel, Suárez
Reschke, Renate (Berlin): Nietzsche
Richter, Mathias (Berlin): Castoriadis, Gorz
Rohr, Barbara (Bremen): Weil
Rommel, Bettina (Freiburg): Alembert, Condillac, Condorcet, Taine
Roughley, Neil (Konstanz): Gehlen
Sandkühler, Hans Jörg (Bremen): Dühring, Labriola, Plechanow, Schelling
Schäfer, Thomas (Berlin): Althusser, Foucault
Scherer, Georg (Oberhausen): Al-Farabi, Pieper, Stein, Thomas von Aquin
Schmidt-Biggemann, Wilhelm (Berlin): Leibniz, Pascal
Schmitz, Bettina (Würzburg): Irigaray, Kristeva
Schmitz, Matthias (Hamburg): Arendt, Herder, W. von Humboldt, Montaigne, Rousseau
Schneider, Thomas (Linsengericht): Hobbes, Locke, Machiavelli
Scholten, Clemens (Köln): Johannes Philoponos
Schönberger, Rolf (Regensburg): Buridanus
Schönwälder, Karen (London): Babeuf
Schorpp, Maria (Konstanz): Popper
Schürgers, Norbert J. (Lauf a. d.Pr.): M. Adler, Russell
Schwab, Hans-Rüdiger (Münster): Albertus Magnus, F. von Baader, L. Büchner, Erasmus von Rotterdam, Hemsterhuis, Reuchlin, Schweitzer
Semler, Christian (Berlin): Heller
Soeffner, Hans-Georg (Konstanz): Goffman
Stoecker, Ralf (Bielefeld): Davidson
Tenigl, Franz (Wien): Klages
Thaidigsmann, Edgar (Ravensburg): Barth, Tillich
Theisen, Joachim (Nea Kifissia/Athen): Meister Eckhart, Tauler
Thiel, Rainer (Marburg): Simplikios
Thoma, Heinz (Halle): Helvétius
Thunecke, Inka (Berlin): Camus
Ulrich, Jörg (Kiel): Hildegard von Bingen
Vietta, Silvio (Hildesheim): Vico
Villwock, Jörg (Niederhausen/Ts.): Blumenberg
Vogt-Spira, Gregor (Greifswald): Menander, Theophrast
Vöhler, Martin (Berlin): Longinos
Voigt, Uwe (Bamberg): Comenius
Vollhardt, Friedrich (Hamburg/Gießen): F. H. Jacobi, Mandeville, Mendelssohn, Shaftesbury
Waszek, Norbert (Paris): Stirner
Weber, Walter (Bremen): Baumgarten, Reimarus, Teilhard de Chardin, Wolff
Weinmann, Martin (Wiesbaden): Bergson
Weiß, Johannes (Kassel): Weber
Welsch, Wolfgang (Magdeburg): Lyotard
Werner, Reinold (Paris): Böhme, Marcel, Nikolaus von Kues
Wetzel, Michael (Bonn): Derrida
Wichmann, Thomas (Berlin): Descartes, Saussure
Wild, Reiner (Mannheim): Hamann
Willaschek, Marcus (Münster): Putnam
Winter, Michael (Koblenz): Fourier, Paine, Sade
Wohlrapp, Harald (Hamburg): Lorenzen
Wolf, Frieder Otto (Berlin): Ferguson, Goldmann, Lefebvre
Wörther, Matthias (München): Kepler, Kopernikus, Whitehead
Wüstehube, Axel (Münster): Moore
Zacher, Klaus-Dieter (Berlin): Demokrit, Epikur, Leukipp, Lukrez, Plutarch
Zeidler, Lothar (Edison/New York): Spencer
Zimmer, Jörg (Girona): Holz
Zimmermann, Bernhard (Konstanz): Anaximenes, Antiphon, Diogenes von Sinope, Kritias, Thales
Zimmermann, Wolfgang (Tübingen): Bruno, Calvin, Pico della Mirandola, Weigel
Zinser, Hartmut (Berlin): Feuerbach

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