Metzler Philosophen-Lexikon: Mannheim, Karl
Geb. 27. 3. 1893 in Budapest;
gest. 9. 1. 1947 in London
Als ein »nach Deutschland verschlagener Scherben« fühlte sich M. in Heidelberg noch 1921, obwohl Deutschland und die deutsche Kultur ihm nicht fremd waren – seine Mutter war Deutsche, und von 1912 bis 1913 hatte M. bei Georg Simmel in Berlin Philosophie studiert. Doch seine Identität war stark vom intellektuellen Klima in Budapest geprägt, das sich vor allem in der jüdischen Mittelklasse konzentrierte, zu der auch M. gehörte, und das seit der Jahrhundertwende von einer Vielzahl moderner Einflüsse gekennzeichnet war. Nach Abschluß seiner Schulzeit geriet M. zunächst in die Nähe jener Budapester Intellektuellen, die sich um die »Sozialwissenschaftliche Gesellschaft« gruppierten und »progressive« reformerische Ideen und Autoren aus dem westlichen Ausland zu rezipieren suchten, wie z.B. Herbert Spencer, Lester Ward und Karl Kautsky. In seinem Denken und in seinen Emotionen stärker beeinflußt hat ihn freilich ein anderer informeller Zirkel sozial freischwebender und relativ marginaler Intellektueller: der »Sonntagskreis«, zu dem er nach seiner Rückkehr aus Deutschland fand. Auf Initiative von Georg Lukács und dem Dichter Béla Balázs trafen sich ab Herbst 1915 jeden Sonntag Philosophen, Wissenschaftler und Schriftsteller zu langen Diskussionen über philosophische, kulturelle und politische Fragen. Es war vor allem die verwandte Anschauungsund Denkweise dieser intellektuellen Gemeinschaft, die M. in Heidelberg vermißte und deren Fehlen ihm das Gefühl gab, ein ungarischer »Scherben« zu sein. In seiner Studie Das Problem der Generationen (1928) hat er später sein Erlebnis des Sonntagskreises aufgenommen und über gemeinsame Einstellungen und verwandte Themen und Fragestellungen geschrieben, die für die Entwicklung einer in Denkhaltung und Lebensausrichtung verwandten Generation charakteristisch sind.
Kennzeichnend für die Diskussionen im Sonntagskreis, an dem neben Lukács, Balázs und M. u. a. auch Lajos Fülep, Béla Fogarasi, Arnold Hauser, Frigyes Antal und Anna Lesznai teilnahmen, war eine Vielfalt von Themen und Perspektiven, die einen gemeinsamen Nenner lediglich in dem Bestreben fanden, die Autonomie der Geisteswissenschaften gegenüber der Vorherrschaft der naturwissenschaftlichen Methoden zu verteidigen und von der Position eines methodologischen Pluralismus aus die einzelnen Kultursphären als selbständige Entitäten in ihrer je objektiven Bedeutung zu interpretieren. 1917/18 begann der Sonntagskreis, dieses Programm öffentlich in der »Freien Schule der Geisteswissenschaften« in verschiedenen Vorträgen vorzustellen: In seinem einleitenden Beitrag über Seele und Kultur (1917) thematisierte M. das Verhältnis zwischen Individuum und »objektiver Kultur« und diagnostizierte – noch ganz unter dem Einfluß Georg Simmels – für die damalige Zeit eine Phase »fremdgewordener Kulturobjektivationen«, die nur vermittels einer wissenschaftlichen Strukturanalyse subjektiv – wie auch immer unangemessen – angeeignet werden könnten. Das Interesse an der Strukturanalyse von »Denkstilen« hat M. sowohl in seiner philosophischen Dissertation Die Strukturanalyse der Erkenntnistheorie (1922) als auch in seinen späteren wissenssoziologischen Arbeiten bewahrt. Nach der Revolution im Oktober 1917 und erst recht nach Lukács’ überraschendem Eintritt in die ungarische KP politisierte sich der bis dahin nur theoretisierende Sonntagskreis, wenngleich einige Mitglieder, darunter M., dem kommunistischen Anliegen gegenüber eher zweifelnd-distanziert blieben. Bei der von Lukács vorgenommenen Reorganisation der Universität erhielten viele »Sonntägler« einflußreiche Lehrpositionen: M. lehrte Philosophie bis zum Zusammenbruch der Revolutionsregierung im Juli 1919. Wie viele andere ungarische Intellektuelle wählte er danach die äußere Emigration.
In Deutschland, zunächst in Freiburg bei Heidegger, danach in Heidelberg vor allem bei Alfred Weber widmete er sich, von seinen Eltern finanziell unterstützt, erneut ganz seinem Studium und absorbierte eine Vielzahl von theoretischen Strömungen – u. a. den Neo-Kantianismus Heinrich Rickerts, Husserls Phänomenologie, die Lebensphilosophie –, die er zunächst noch philosophisch, bald jedoch zunehmend im Rahmen der von ihm begründeten Wissenssoziologie zu synthetisieren trachtete. Im Zentrum seiner ersten Veröffentlichungen auf Deutsch standen theoretische Fragen der Interpretation »geistiger Gebilde« (Beiträge zur Theorie der Weltanschauungs-Interpretation, 1921–22; Ideologische und soziologische Interpretation der geistigen Gebilde, 1926), bei denen er – ausgehend von Fogarasis Unterscheidung von intentionellem, objektivem und transzendentem Sinn – jeden einfachen Reduktionismus bei der Betrachtung von Ideen zu vermeiden suchte, selbst wenn er sich diesen zunehmend aus soziologischer Perspektive näherte. Seine Konzeption einer soziologischen Interpretation oder Wissenssoziologie entwickelte er in Kontrapunktierung zu Max Schelers »statischer« Position, von der er seinen eigenen »dynamischen«, vom Historismus ausgehenden Ansatz scharf abhob (Historismus, 1924; Das Problem einer Soziologie des Wissens, 1925), obwohl ihn mit Scheler wichtige politisch-weltanschauliche Intentionen verbanden: Beide suchten nach geeigneten Mitteln, um die als Weltanschauungschaos diagnostizierte Krise ihrer Gegenwart zu überwinden, und fanden diese in Ideologiekritik, Kultursynthese und Bildungselite, die darum – zusammen mit der Abwehr des (Vulgär-)Marxismus – gemeinsame Programmpunkte ihrer jeweiligen Wissenssoziologie darstellten. Im Gegensatz zu Scheler lehnt M. jedoch die Vorstellung eines völlig sinnfremden Unterbaus ab und geht von dem Postulat einer dynamischen Einheit von Geist und Leben aus, wobei er jedoch den sog. seinsmäßigen Fakten eine »Massivität« zuerkennt, obwohl auch sie einen je verschiedenen Sinn haben, je nachdem, in welche der verschiedenen Rekonstruktionen von Geschichte sie als Teile eingefügt werden. Geschichte ist dabei für M. ein Lebensund Erlebensstrom, der sich durch das erlebende Subjekt und das von ihm Erlebte hindurch vollzieht. M.s lebensphilosophische Uminterpretation des Hegelschen Geschichtsbegriffes sowie sein Interesse an einer »geschichtsphilosophisch-soziologische(n) Totalitätsrekonstruktion« zielen letztlich auf einen metaphysischen Sinn von Geschichte, der den negativen Auswirkungen eines radikal zu Ende gedachten Historismus einschließlich seiner Relativismusproblematik in der ideologisch zerrissenen Weimarer Republik Einhalt gebieten sollte. Auf der Ebene der Totalitätserfassung erscheinen »Sein« und »Sinn« als »hypostasierte Teilsphären, die letzten Endes Ausstrahlungenˆ ein und desselben Lebens sind«. Auf der Ebene der soziologischen Zurechnung geistiger Gebilde zum sozialen Sein hält er andererseits an der phänomenologischen Differenz zwischen Geist und Sein fest, sucht aber auch hier eine unmittelbare Reduktion geistiger Standorte auf soziale Schichten zu vermeiden, indem er »geistige Schichten« als Vermittlungsinstanz einführt.
Bei der Ausarbeitung seiner Wissenssoziologie wendet sich M. einer kritischen Analyse der verschiedenen Versionen des Ideologiebegriffs zu (Ideologie und Utopie, 1929). Durch die Einführung eines wertfreien, totalen und allgemeinen Ideologiebegriffs will er eine unparteiische, soziologisch orientierte Geistesgeschichte ermöglichen, die methodisch eine richtige Zuordnung zum sozialen Substrat erlaubt. Die Analyse des »seinsgebundenen Denkens« führt nun aber »unversehens« zu einem wertenden Ideologiebegriff, mit dessen Hilfe »unter den Normen, Denkweisen, Orientierungsschemen ein und derselben Zeit wahre und unwahre, echte und unechte« zu unterscheiden sind, wobei M. als Wahrheitskriterium die Brauchbarkeit der Ideen in der Lebenspraxis ansieht. Das Ineinander-Übergehen von wertfreier in wertende Analyse und von Soziologie in Geschichtsmetaphysik wird besonders deutlich bei M.s Theorie der »dynamischen Synthese«, bei der die relativ sozial freischwebende Intelligenz Partialaspekte des Wissens immer wieder synthetisiert und so einer Totalorientierung immer näher kommt, in der sich der Geschichtssinn schließlich offenbart. M.s Wissenssoziologie, insbesondere sein Ideologie und Utopie ist in den 20er und Anfang der 30er Jahre heftig diskutiert und in verschiedenster Hinsicht von Marxisten und Nicht-Marxisten kritisiert worden. M. selbst hat durch die bewußte Offenheit seines Denkens, die wechselnde, unscharfe, z.T. widersprüchliche Begriffsbildungen einschloß, zu der kontroversen Rezeption seiner Wissenssoziologie beigetragen, wenngleich sein Werk auch eine Fülle von produktiven Einsichten in die Struktur eines bestimmten Denkens (Das konservative Denken, 1927) sowie in die sozialen Prozesse enthält, die einer bestimmten Denkhaltung zugrundeliegen (Das Problem der Generationen, 1928; Die Bedeutung der Konkurrenz im Gebiete des Geistigen, 1928/29).
M. war 1929 als Professor der Soziologie und Nationalökonomie nach Frankfurt am Main berufen worden, nachdem er seit 1925 Privatdozent in Heidelberg gewesen war. 1933 wurde er – zusammen mit seiner Frau, der ungarischen Psychologin Juliska Láng – von den Nationalsozialisten zur Emigration nach England gezwungen, wo er zunächst bis 1941 als Lecturer an der »London School of Economics« tätig war. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus galt M.s Sorge jetzt vor allem den gesellschaftlichen Krisenerscheinungen der modernen ungeplanten Massengesellschaft. Sein politisches Engagement richtete sich auf die Planung der Massendemokratie, bei der soziologische Erkenntnisse und Sozialtechniken als die wichtigsten Mittel der Planung fungieren sollten. Er rezipierte die Methoden der empirischen Sozialforschung und der Sozialpsychologie, die Psychoanalyse und den Behaviorismus, um sie in sein Programm einer Umgestaltung von Mensch und Gesellschaft produktiv einzubringen (Man and Society in an Age of Reconstruction, 1951; Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus; Freedom, Power and Democratic Planning, 1950). Freiheit scheint ihm auf Dauer nur in einer stabilen Gesellschaft gewährleistet zu sein, in der die gesellschaftliche Integration in gemeinsamen Wert- und Moralvorstellungen gründet. Es erscheint nicht verwunderlich, daß M. mit dieser Auffassung, die an Emile Durkheim oder sogar Auguste Comte erinnert, unter den Einfluß einer religiös motivierten Gruppe namens Moot geriet, die in regelmäßigen Abständen zusammenkam, um die Rolle der Religion in einer geplanten Gesellschaft zu diskutieren. Auch in seiner Planungssoziologie kommt der Intelligenz als Teil der planenden Elite eine Schlüsselfunktion zu. Je mehr M. sich mit der Rekonstruktion der krisenhaften Massengesellschaft befaßte, desto mehr entwickelte er ein Interesse an Erziehung und an Kontakten mit Bildungsreformern. Gleichzeitig suchte er durch eine Vielzahl von öffentlichen Vorträgen eine interessierte Zuhörerschaft für seine Idee von einer geplanten freiheitlichen, massendemokratischen Gesellschaft zu gewinnen sowie von dem wichtigen Beitrag, den die Sozialwissenschaften dazu leisten könnten, zu überzeugen (Diagnosis of our Time, 1943; Diagnose unserer Zeit). Er strebte danach, seine Ideen über den engen akademischen Kontext hinaus bekannt zu machen. In diesem Sinne begründete er die »International Library of Sociology and Social Reconstruction«, in der eine Reihe von wichtigen sozialwissenschaftlichen Büchern über aktuelle Zeitprobleme publiziert wurde. Ganz im Sinne seines zunehmenden Interesses an Erziehungsfragen wurde M. 1941 an das »Institute of Education« an der University of London berufen, wo er 1946 zum Professor befördert wurde. Kurz vor seinem Tode im Januar 1947 wurde er als Direktor von Unesco nominiert; diese Position konnte er jedoch nicht mehr antreten.
Karádi, Éva/Vezér, Erzsébet (Hg.): Georg Lukács, Karl Mannheim und der Sonntagskreis. Frankfurt am Main 1985. – Remmling, Gunter W.: The Sociology of Karl Mannheim. London 1975.
Marlis Krüger
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