Metzler Philosophen-Lexikon: Mendelssohn, Moses
Geb. 6. 9. 1729 in Dessau;
gest. 4. 1. 1786 in Berlin
Mit der gebotenen Devotion richtet 1763 der Jude Moses aus Dessau, wie sich M. in der jüdischen Gemeinde Berlins nennt, an König Friedrich II. das Gesuch, ihm den Schutz eines preußischen Untertanen zu gewähren. Der Bittsteller zögert zunächst, das Schreiben einzureichen. »Es thut mir weh,« äußert er in einem Brief, »daß ich um das Recht der Existenz erst bitten soll, welches das Recht eines jeden Menschen ist, der als ein ruhiger Bürger lebt«. Daß sein Gesuch überhaupt Erfolg hat, verdankt der zwar über ein hohes Ansehen als philosophischer Schriftsteller, aber über kein zu versteuerndes Vermögen verfügende Jude wohl einem Empfehlungsschreiben, mit dem der Marquis d’Argens – der von Friedrich berufene Direktor der literarischen Klasse der Preußischen Akademie und Verehrer M.s – der Souveränität des aufklärerisch gebildeten Königs schmeichelt: »Ein nicht sehr katholischer Philosoph bittet einen nicht sehr protestantischen Philosophen, einem nicht sehr jüdischen Philosophen das Schutzprivilegium zu geben. Es ist so viel Philosophie dabey, daß es die Vernunft gewiß billigt.«
Auf eine nur ironische Behandlung der Konfessionsunterschiede gründete sich die Toleranzforderung des »jüdischen Philosophen« indes nicht. M. kannte den Wert seiner frühen, ihn zu einem Rabbinat befähigenden jüdischen Erziehung, die er nie aus dem Interesse an einer vordergründigen Assimilation verleugnete. Vielmehr hat er das, was er sich an zeitgenössischer Bildung mühsam durch autodidaktische Studien aneignen mußte – selbst die deutsche Sprache, die er in stilistisch vorbildlicher Weise beherrschte, war für ihn zunächst fremd –, als Lehrer und Protektor den jüdischen Gemeinden weitervermittelt und damit dazu beigetragen, diese aus ihrer mittelalterlichen Rückständigkeit zu befreien.
Entscheidenden Einfluß auf M.s Entwicklung nimmt der Dessauer Rabbiner David Fränkel, der ihn ab 1739 im Talmud-Studium unterweist und auf die Schriften des jüdischen Philosophen Moses Maimonides aufmerksam macht. Als 14jähriger folgt M. seinem Lehrer nach Berlin. Dort findet er, nachdem er selbständig mehrere Sprachen erlernt und Autoren wie Locke, Leibniz und Wolff studiert hat, eine Stelle als Hauslehrer bei dem Seidenhändler Isaak Bernhard, in dessen Manufaktur er 1754 als Buchhalter eintritt und dessen Unternehmen er nach dem Tod Bernhards (1768) zusammen mit der Witwe weiterführt. Die Stellung sichert ihm ein gutes Auskommen und ermöglicht 1762 die Heirat mit der Hamburger Kaufmannstochter Fromet Gugenheim, läßt ihm für private Studien aber stets nur begrenzte Zeit.
Durch einen weiteren jüdischen Förderer, den Arzt Aron Emmerich Gumpertz, wird M. in das intellektuelle Leben Berlins eingeführt. Aus der Begegnung mit dem gleichaltrigen Kritiker und Theaterautor Lessing und dem Verleger Friedrich Nicolai entwickelt sich eine lebenslange Freundschaft, die in ihren ersten Jahren, den produktivsten des jungen Philosophen, die Gegenstände, den Stil und selbst den Ort der Publikationen M.s beeinflußt. Mit Lessing zusammen verfaßt er die satirische Antwort auf eine Preisfrage der Berliner Akademie (Pope ein Metaphysiker!, anonym 1755) und rezensiert philosophische und literarische Neuerscheinungen für die Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste (1757–1760) sowie in den bei Nicolai verlegten Briefe(n), die Neueste Litteratur betreffend (1759–1765), wo er 1760 die Poësies Diverses Friedrichs II. bespricht, zunächst wohlwollend, doch mit einer deutlichen Kritik an den Einwänden des Königs »wider die Unsterblichkeit«, die ihm zum Teil als »so unerheblich« erscheinen, daß sie »zu unsern« Zeiten »in der Philosophie eine so schlechte Figur machen, daß sie kaum beantwortet zu werden verdienen«. Die Literaturbriefe – und namentlich M. – werden daraufhin angezeigt und vorübergehend verboten.
M. hatte keineswegs ohne Überlegung geurteilt. Das Thema der Unsterblichkeit war für ihn zu dieser Zeit von zentraler Bedeutung, da er sich – nach einem 1757 begonnenen Studium des Altgriechischen – entschlossen hatte, den Platonischen Dialog »Phädon umzuarbeiten und herauszugeben«. Das Buch erschien 1767 (Phaedon oder über die Unsterblichkeit der Seele in drey Gesprächen), erlebte rasch mehrere Auflagen und wurde in zehn Sprachen übersetzt. M. war es gelungen, die klassischen Beweise für die Unsterblichkeit der Seele in einer rein rationalen, auf offenbarungstheologische Argumente verzichtenden und dabei einem breiteren Publikum verständlichen Weise zusammenzufassen – er wurde damit zum populärsten Vertreter der Leibniz-Wolffschen Tradition in Deutschland, mit dessen vorbildlicher Beweisführung sich noch Kant in der Kritik der reinen Vernunft auseinandersetzt. Kant schätzte in M. den scharfsinnigen Metaphysiker (»Ihnen mein Herr kommet es zu in dieser Wissenschaft eine neue Epoche zu machen«), der mit seiner Abhandlung über die Evidenz in Metaphysischen Wissenschaften vor dem von ihm eingereichten Beitrag zur Beantwortung der von der Berliner Akademie für das Jahr 1763 ausgeschriebenen Frage den Preis erhalten hatte.
Eine vermittelnde Stellung zwischen der älteren Schulphilosophie und der Transzendentalphilosophie Kants nimmt M. auch in der Ästhetik ein. Die Reihe seiner Veröffentlichungen zu dieser neuen philosophischen Teildisziplin (Über die Empfindungen, 1755; Betrachtungen über das Erhabene und das Naive in den schönen Wissenschaften, 1758) läßt eine Entwicklung und Weiterführung der Ansätze von Baumgarten, Sulzer und Burke erkennen, die von der metaphysischen Begründung einer »Schönheit« mit »Vollkommenheit« identifizierenden Ästhetik zu der psychologischen Definition eines Gefühls des Schönen im Sinne des »interesselosen Wohlgefallens« führt und den idealistischen Gedanken einer ästhetischen Erziehung des Menschen vorwegnimmt.
Von Johann Georg Sulzer wird M. zur Aufnahme in die Akademie der Wissenschaften vorgeschlagen; die erfolgte Wahl wird jedoch von Friedrich II. nicht bestätigt. Dieser Akt absolutistischer Willkür gehört zu einer Folge von Kränkungen, die – zusammen mit einer schweren Krankheit, welche über Jahre hinweg jede schriftstellerische Tätigkeit verhindert – M.s letzte Lebensperiode überschatten. Der Züricher Theologe Johann Kaspar Lavater fordert ihn öffentlich dazu auf, die von Charles Bonnet (Palingénésie philosophique) geführten »Beweise für das Christenthum« zu widerlegen oder andernfalls zu konvertieren. M. verteidigt sein Judentum und muß eine Welle antisemitischer Angriffe über sich ergehen lassen. Um 1774 beginnt er mit einer Übersetzung des Pentateuch aus dem Hebräischen: Die israelitische Kultur sollte an der deutschen teilnehmen können, ohne sich selbst aufzugeben. In ganz anderer Weise beherrschen religiöse Fragen seine Auseinandersetzung mit Friedrich Heinrich Jacobi, der ohne das Einverständnis M.s dessen Briefe über Lessings Äußerungen zum Spinozismus veröffentlicht hatte, was zum sogenannten »Pantheismusstreit« führte, von dem die letzten Arbeiten M.s geprägt sind (Morgenstunden oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes, 1785; Moses Mendelssohn an die Freunde Lessings, posthum 1786). Er verteidigt Lessing und mit diesem die Vernunftreligiosität der Aufklärung; als er 1786, im Todesjahr Friedrichs II., stirbt, ist die Philosophie der Aufklärung in Deutschland bereits in eine neue Phase eingetreten.
Albrecht, Michael/Engel, Eva J. (Hg.): Moses Mendelssohn im Spannungsfeld der Aufklärung. Stuttgart-Bad Cannstatt 2000. – Sorkin, David Jan: Moses Mendelssohn und die theologische Aufklärung. Wien 1999. – Albrecht, Michael/Engel, Eva J./Hinske, N. (Hg.): Moses Mendelssohn und die Kreise seiner Wirksamkeit. Tübingen 1994. – Albrecht, Michael: Moses Mendelssohn 1729–1786. Das Lebenswerk eines jüdischen Denkers der deutschen Aufklärung. Weinheim 1986. – Altmann, Alexander: Die trostvolle Aufklärung. Studien zur Metaphysik und politischen Theorie Moses Mendelssohns. Stuttgart 1982.
Friedrich Vollhardt
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