Metzler Philosophen-Lexikon: Merleau-Ponty, Maurice
Geb. 14. 3. 1908 in Rochefort-sur-Mer;
gest. 3. 5. 1961 in Paris
M.-P. hat im französischen Kulturraum, in Westeuropa und in Nordamerika eine vielfältige und anhaltende Wirkung ausgeübt. Paul Ricœur hat ihn als den bedeutendsten Phänomenologen Frankreichs bezeichnet; hierzulande dagegen wird er eher zögernd wahrgenommen, obwohl zahlreiche seiner Arbeiten inzwischen übersetzt vorliegen. – Bis in die 30er Jahre herrschte in der französischen Universitätsphilosophie ein von Descartes, Spinoza und Kant geprägter kritizistischer Rationalismus vor. Einer seiner profiliertesten Vertreter war Léon Brunschvicg, für M.-P. und viele andere der heranwachsenden Philosophengeneration der wichtigste akademische Lehrer. In diesen Jahren begann die Philosophie in Frankreich – nicht zuletzt auch Brunschvicg selbst – die Bahnen dieser rationalistischen Tradition zu verlassen. Der Titel des Buchs von Jean Wahl, Vers le concret (1932), wurde zum Losungswort dieses Aufbruchs. M.-P. hatte sein Studium der Philosophie 1930 mit der Agrégation abgeschlossen; er gehörte zu denjenigen, die diese neue Entwicklung entscheidend mittrugen. Er schloß sich der Gruppe um Emmanuel Mounier, der dem christlichen Existenzialismus nahestand und die Zeitschrift Esprit herausgab, an; diese Gruppe bemühte sich, die Verkrustungen von Klerikalismus und Etatismus im Frankreich der Dritten Republik aufzubrechen. M.-P. setzte sich 1936 ausführlich mit dem Buch Etre et avoir von Gabriel Marcel auseinander und betonte darin erstmals die zentrale Bedeutung der Leibproblematik für ein neues, von intellektualistischen Konzeptionen der philosophischen Anthropologie abrückendes Denken. Spürbar werdende Einflüsse aus dem Ausland kamen dabei zu Hilfe. Als Edmund Husserl 1929 an der Sorbonne seine Vorlesungen zur Einleitung in die transzendentale Phänomenologie hielt, gehörte auch M.-P. zu seinen Zuhörern, wie er sich später in einer Rezension intensiv mit der französischen Übersetzung von Max Schelers Das Ressentiment im Aufbau der Moralen beschäftigte. Entscheidende Anstöße aber für seinen eigenen Denkweg erhielt er von Emigranten aus Deutschland und aus Osteuropa. So war Alexandre Kojève dabei, Hegels Philosophie des Geistes ins Anthropologische zu wenden und sie in das Geschichtsdenken von Marx und in die existentiale Analytik des Daseins durch Heidegger zu integrieren. Dabei sah er keinen wesentlichen Unterschied zwischen der dialektischen Methode Hegels und der phänomenologischen Deskription Husserls. Zur selben Zeit machte Aron Gurvitch in Frankreich die sinnesphysiologischen Arbeiten von Adhémar Gelb und Curt Goldstein, die Phänomenologie von Husserl und die Gestalttheorie in größerem Umfang bekannt. Mit seinem Versuch einer Synthese von Husserls Phänomenologie und der Gestaltpsychologie hat er der Grundlegung der Phänomenologie durch M.-P. wesentlich vorgearbeitet.
Mitte der 30er Jahre setzt die produktive Phase der französischen Phänomenologie ein. Seine erste große Arbeit, La Structure du Comportement (1942; Die Struktur des Verhaltens), schließt M.-P. 1938 ab. Diese Untersuchungen setzen mit der Analyse des menschlichen und des tierischen Verhaltens ein. »Verhalten« wurde traditionell als Vollzug bloßer Vorstellungen durch ein »Psychisches« verstanden oder aber als das Funktionieren eines Körperdings im Sinne des Reiz-Reaktion-Schemas, wenn man an den Behaviorismus John B. Watsons oder an Iwan P. Pawlows Theorie des bedingten Reflexes denkt. M.-P. weist jetzt die Unhaltbarkeit dieser Positionen nach, indem er sich auf eine Fülle von widersprechenden Befunden aus den Forschungen von Frederik J. Buytendijk, Gelb, Goldstein, Victor von Weizsäcker u. a. beruft. »Verhalten« ist weder Ding noch Idee, seine nähere Bestimmung liegt »diesseits« einer materialen oder idealen Konzeption. »Verhalten« besteht für M.-P. in der »dialektischen« Auseinandersetzung eines gestalthaft-strukturellen Organismus mit seiner Umwelt. »Gestalt« und »Struktur« sind Begriffe, die uns auf die Welt der Wahrnehmung verweisen, mithin auf die Weise des menschlichen Lebensvollzugs, die den Ursprung aller anderen Vollzüge darstellt.
Dieses Lebensweltlich-Fundamentale ist Gegenstand der Untersuchungen in M.-P.s Hauptwerk Phénoménologie de la perception (1945; Phänomenologie der Wahrnehmung). Er zeigt, daß das »phänomenale Feld« uns nicht einfach »unmittelbar« vor Augen liegt; vielmehr verleitet uns ein Kryptomechanismus unseres Bewußtseins dazu, dieses Feld zur Objektwelt hin zu überspringen. Aufgabe der phänomenologischen Psychologie ist es daher, diesen Mechanismus zu durchschauen und das phänomenale Feld freizulegen. M.-P. versucht, eine Reflexionsebene zu gewinnen, die dem Gegensatz von Intellektualismus und Empirismus vorausliegt. Eine Reflexion zweiten Grades wendet das phänomenale Feld transzendental-philosophisch, um der Organisationsstruktur des Psychischen in vollem Umfang gerecht zu werden. Bei der Analyse des phänomenalen Leibes mißt M.-P. den gehirnpathologischen Untersuchungen von Gelb und Goldstein eine Leitfunktion zu. Er weist nach, daß das entscheidende Defizit des Kranken im Unterschied zum Gesunden nicht in einer Schwächung der »Repräsentationsfunktion«, sondern in einer Lockerung des »intentionalen Bogens« besteht, der das Funktionieren sinnlicher Wahrnehmung, Sinnlichkeit und Verstand sowie Sinnlichkeit und Körpermotorik organisiert und darüber hinaus unser Empfinden für Zeitlichkeit: Vergangenes, Gegenwärtiges, Zukünftiges und das Empfinden für unsere natürliche und kulturelle Umwelt entwirft. »Empfinden« besteht nicht in der Rezeption eines leblosen »Eindrucks«, sondern bedeutet eine »virtuelle Bewegung«, welche die Einheit der sinnlichen Erfahrung begründet. In der Phänomenologie hat M.-P. darüber hinaus in knappen Zügen seine Ansicht von der Erfahrung des anderen dargestellt; diesem gewichtigen Thema hat er in späteren Jahren eine Reihe von Vorlesungen gewidmet, die er an der Sorbonne und am »Collège de France« gehalten hat. Von 1952 an bis zu seinem Tod hat er an diesem Institut eine Professur für Philosophie bekleidet.
Mit Jean-Paul Sartre, dem intellektuellen Wortführer der Linken im Nachkriegsfrankreich, einte M.-P. nicht nur die geistige Herkunft aus der Phänomenologie Husserls und der Existentialanalytik Heideggers, sondern auch die gemeinsame politische Erfahrung der Résistance. 1945 gründeten die beiden die Zeitschrift Les Temps Modernes, philosophisch-literarisches Sammelbecken der europäischen Linken nach der Erfahrung des Faschismus. Im Zuge der Redaktion dieser einflußreichen Zeitschrift wurden zwangsläufig auch Grundfragen der philosophischen Anthropologie berührt; Spannungen zwischen Sartre und M.-P. waren die Folge. Unter dem Titel Humanisme et terreur (1947; Humanismus und Terror) veröffentlichte M.-P. eine Reihe von Aufsätzen, in denen er gegenüber dem Stalinismus und der führenden Rolle der Kommunistischen Partei eine vorsichtig abwartende Haltung einnahm. Seine in diesem Buch geäußerten Ansichten revidierte er zum Teil in Les aventures de la dialectique (1955; Die Abenteuer der Dialektik), deren letztes Kapitel eine vehemente Attacke auf Sartre enthielt – zwischen beiden kam es zum unvermeidlichen Bruch. In seinen letzten Lebensjahren versuchte M.-P., den theoretischen Ansatz seiner früheren Arbeiten weiterzuführen. Zunehmend fragwürdig wurden ihm dabei seine Auffassungen vom Primat der Wahrnehmung und vom Bewußtseinsbegriff. Leitfaden seiner Neubesinnung wurde vor allem die Zeichentheorie Ferdinand de Saussures. Von bleibender Bedeutung ist jedoch die phänomenologische Erweiterung der materialistischen Subjektivitätsauffassung.
Waldenfels, Bernhard/Därmann, Iris (Hg.): Der Anspruch des Anderen. Perspektiven phänomenologischer Ethik. München 1998. – Johnson, Galen A./Smith, Michael B. (Hg.): Ontology and Alterity in Merleau-Ponty. Evanston 1990. – Actualités de Merleau-Ponty. Cahiers Philosophiques, 7/1989. – Waldenfels, Bernhard: Maurice Merleau-Ponty. Inkarnierter Sinn. In: Ders.: Phänomenologie in Frankreich. Frankfurt am Main 1987, S. 142–217. – Métraux, Alexandre/Waldenfels, Bernhard (Hg.): Leibhaftige Vernunft. Spuren von Merleau-Pontys Denken. München 1986.
Friedrich Hogemann
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