Metzler Philosophen-Lexikon: Montaigne, Michel Eyquem de
Geb. 28. 2. 1533 auf Schloß Montaigne/Dordogne; gest. 13. 9. 1592 auf Schloß Montaigne
Allmorgendliches Wecken mit Musik, Erziehung ohne Zwang und frühzeitige Förderung vorhandener Anlagen durch selbständiges Lernen nach dem Prinzip Erfahrung – auf seine Weise suchte M.s Vater Pierre Eyquem in den Grundsätzen der Erziehung seines eigensinnigen Sohnes die humanistischen Ideale seiner Zeit umzusetzen. Diese hatte der erste und letzte Ritter einer im Handel mit Wein, Farbstoffen und Heringen reichgewordenen Großkaufmannsfamilie bürgerlichen Standes kennengelernt, als er an den italienischen Feldzügen Franz’ I. teilgenommen hatte. Nach der humanistischen Ausbildung durch einen des Französischen unkundigen deutschen Hofmeister wurde M., dessen Mutter aus einer reichen Kaufmannsfamilie jüdisch-portugiesischer Herkunft stammte, mit sechs Jahren für eine standesgemäße Erziehung zum Edelmann auf das neugegründete Collège de Guyenne geschickt. Obwohl eine der angesehenen Adelsschulen, auf der glänzende humanistische Gelehrte der Zeit wirkten, blieb sie für M. »immer noch eine öffentliche Lehranstalt«: »Mit dreizehn hatte ich meinen Kursus beendet (wie sie es nennen) und zwar in Wirklichkeit ohne irgend einen Nutzen, den ich heute in Anschlag bringen könnte.« Die strenge Büchererziehung widerstrebte M., der in einem späteren Essay über die Kindererziehung im Vertrauen auf die Kraft der Natur jegliche Pedanterie oder schulischen Zwang ablehnte und seine pädagogischen Ratschläge einer »Wesensbildung im Angesicht der Fülle der Welt« (Hugo Friedrich) an der Herausbildung einer selbständig urteilenden und weltoffenen Persönlichkeit orientierte. Noch sein eigenes Buch sollte sein, wie »Kinder ihre Versuche vorbringen: belehrbar, nicht belehrend; auf eine weltliche, nicht geistliche, aber immer sehr gläubige Art.«
Vom Vater für die Beamtenlaufbahn der »noblesse de robe« bestimmt, absolvierte M. nach der Schulausbildung in Bordeaux und Toulouse das Studium der Rechte (1546 bis 1554), um nach einem ersten Amt am Steuergerichtshof in Périgueux schließlich Rat und Richter im Parlament von Bordeaux zu werden (1557). In dessen Auftrag reiste er ab 1559 mehrmals an den Hof in Paris und mußte dort 1561 über ein Jahr verweilen, um Religionsstreitigkeiten in der Guyenne zu schlichten. Als ihm 1568 nach dem Tod des Vaters, der M. gegen seinen inneren Willen 1565 mit der Tochter eines Bordelaiser Ratskollegen verheiratet hatte, jenes Schloß und Landgut zugesprochen wurde, durch dessen Kauf der Großvater den noch jungen Adel der Familie begründet hatte, nannte er sich als erster seines Geschlechts Herr von Montaigne. Stets auf innere Freiheit auch im Amt bedacht, erklärte M. 1571, nachdem er zuvor seine Ämter verkauft hatte, der »Bürden des Parlaments und der öffentlichen Pflichten müde«, seinen Rückzug »in voller Lebenskraft in den Schoß der gelehrten Musen, wo er in Ruhe und Sicherheit die Tage verbringen wird, die ihm zu leben bleiben«. Was zunächst nach einem zeitgenössischen Ideal der Einkehr meditierender Muße auf dem Lande aussah, hatte durchaus politische Gründe in lebensbedrohender Zeit. Denn seinen mit Sentenzen antiker Autoren und der Bibel verzierten Bibliotheksturm nannte M. auch »meinen Zufluchtsort, um vor den Kriegen auszuruhen«. Lebenslang begleiteten den späteren königlichen Ordensritter, in dessen eigenem Familienkreis beträchtliche konfessionelle Unterschiede bestanden, die verheerenden Glaubens- und Bürgerkriege, zu denen sich in der zweiten Jahrhunderthälfte jene religiöse Krise zuspitzte, die die von M. abgelehnte Reformation hervorgebracht hatte.
Nach der wirtschaftlichen Umschichtung zugunsten der Krone und des aufstrebenden Bürgertums in M.s Jugendzeit erschütterten diese Konflikte die politisch-soziale Ordnung im selben Maße, wie die Entdeckung der Neuen Welt und die Umwälzung des anthropozentrischen Weltbildes durch Kopernikus die überkommenen Ordnungen des Wissens infragestellten.
Sensibel registrieren M.s Essais diese zeitgeschichtlichen Erfahrungen in ihren Welt- und Selbstbetrachtungen über den Menschen als »einzelnes und geselliges Wesen wie auch die Herkömmlichkeiten, Einrichtungen, Gesetze, die ein geregeltes Zusammenleben in Familie, Gemeinde und Staat schaffen und aufrechterhalten«. Begonnen im Jahr der tausendfachen Morde der Bartholomäusnacht (1572), handelt es sich statt um eine Autobiographie oder Bekenntnisse in erster Linie um »Versuche an sich selbst« über die Schwierigkeiten menschlicher Selbstorientierung und die Möglichkeiten, sein Leben in »ungestörter Selbstgesetzlichkeit« (H. Friedrich) zu führen. Zu ihrer Niederschrift trug auch die persönliche Krise bei, in die M. das jähe Ende der lebensbestimmenden Freundschaft mit dem Dichter und Amtskollegen Étienne de La Boétie nach dessen plötzlichem Tod (1563) gestürzt hatte, über den M. in einem bedeutenden Brief an den Vater berichtete. Er zählt neben den beredten Einleitungen, mit denen er die Schriften seines Freundes herausgab, sowie der auf Wunsch und Anraten des Vaters angefertigten französischen Übersetzung der rationalistischen Glaubensapologie Theologica naturalis des Raymund von Sabunde zu M.s ersten literarischen Aktivitäten, bevor er sich den Unterhaltungen mit dem toten Freund widmete, als die er die Essais bezeichnete. Deren erste Ausgabe (1580), die er in Paris Heinrich III. vorlegte, prägte für lange Zeit das M.-Bild vom stoischen Weisen. Doch als 1588 mit vielen Ergänzungen eine vierte Auflage erschien, machte vor allem deren hinzugefügtes drittes Buch mit den reifsten seiner Essais endgültig deutlich, daß vorrangig nur »ich selbst der einzige Inhalt meines Buches bin«: »Ich wage es nicht nur, von mir zu sprechen; ich wage es, nur von mir zu sprechen.« Der Weg seiner 22jährigen Niederschrift führte M., dessen geistige Heimat die Stoa, Epiktet und der Pyrrhonismus bildeten, von der Kompilation und Adaption griechischer und lateinischer Texte im Stile humanistischer Exempelsammlungen zu einer produktiven Aneignung der antiken Überlieferung. Seine neue Form der Selbst- und Menschenbeobachtung verschaffte sich ihren eigenen Ausdruck in der von M. geschaffenen, bald schon vor allem in England, wo Shakespeare und Bacon zu seinen ersten Lesern zählten, Schule machenden Form der Essais als einer Prosa der offenen Form.
Selbstironisch liebte M. es, sein »Gedankenwerk« (Jürgen von Stackelberg) als »Salat«, »verworrenes Geschwätz« oder »groteske Mißgeburten und Phantastereien eines Menschen (zu bezeichnen), der von Wissenschaften nur die oberste Kruste probiert hat«. Nicht nur Zeichen der Bescheidenheit des um seine Reputation besorgten Autors, verweisen diese Vergleiche immer auch auf eine trotz der aphoristischen Darstellung und unsystematischen Denkweise bewußt gehandhabte Methode. »Ich habe von mir selbst nichts Ganzes aus einem Stück, nichts Einheitliches und nichts Festes, nichts ohne Verwirrung und nichts Unvermischtes zu sagen, und nichts, was man in einem Wort fassen könnte Wir sind alle aus Flicken zusammengesetzt und das so ungestalt und kunterbunt, daß jedes Stück jeden Augenblick ein eigenes Spiel treibt.« Statt einer allgemeingültigen Fixierung in philosophisch-wissenschaftlichen Traktaten bedarf es daher für M. einer »hüpfenden und springenden Gangart« des Stils und eines vom Zufall bestimmten Nachdenkens über Sachverhalte gänzlich ungleichen Charakters, um das grenzenlos wandelbare Einzelleben in der »Flüchtigkeit und Zwiespältigkeit« zu erfassen. Ob M. sich aber über die Trunksucht, Folter und Hexen, Wahnsinn als »körperliches Träumen«, Sexualität oder über Pferde äußert und sich auch nicht scheut, in seiner »Narrenchronik der Vernunft« (Max Lüthi) und des Glaubens deren Anmaßungen zu kritisieren: stets setzt sich in der Form des ständig neuen Ein- und Absetzens sein Ich immer wieder neu zu sich in ein unverwechselbar eigenes Verhältnis. »Denn da ist keiner, wenn er auf sich horcht, der nicht in sich eine ihm eigene Form, eine Grundform entdeckte, die gegen seine Erziehung ankämpft.« Der wahrhaft inneren Selbständigkeit des Ich innezuwerden – durch diese »Torheit, sich selbst darzustellen« (Pascal) –, eröffnet am Fall der eigenen Individualität zugleich die Erkenntnis in das Wesen des Menschen, denn »jeder Mensch trägt in sich das ganze Bild der Menschlichkeit«.
Der »Realist des individuellen Lebens« (Hans Blumenberg) aber, der den Systemphilosophien als »nicht eigentlich zur Philosophie, sondern zur allgemeinen Civilisation gehörig« (Hegel) gilt, konnte M. durch seine Skepsis werden, die kein absolutes Sein, keine zeitlos verbindliche Form oder ewige Wahrheit kennt und die zeitgenössische Philosophie in ihrer Neuinterpretation des intellektuellen Rahmens der Moderne fragen läßt, »ob das Eröffnungsgambit im Schachspiel der modernen Philosophie nicht viel eher in den skeptischen Argumenten M.s als in Descartes’ Methode des systematischen Zweifels bestanden hatte« (Stephen Toulmin). Nur die Zufälligkeit jeder Erkenntnis – der Welt als Ganzer wie des Teils, das er selbst darstellt – und die Ungewißheit ihrer Geltung schienen M. gewiß, dessen Wahlspruch »Was weiß ich?« lautete. Er konnte deshalb zum eigentlichen Begründer der Moralistik werden, der es nicht um Moralpredigt, sondern um normfreie Beobachtung und Darstellung des aufgewerteten Menschen in seiner »verwickelten Alltäglichkeit und Widersprüchlichkeit« (H. Friedrich) geht. Dazu gehört auch das sich verstärkende Interesse am eigenen Körper, nachdem ihn seit 1577 Nierensteine plagen. In der Hoffnung auf Linderung besuchte er die berühmtesten Badeorte seiner Zeit auf einer fast anderthalb Jahre lange Reise nach Rom 1580/81, wo er am 29. Dezember 1580 vom Papst empfangen wird. Das Reisetagebuch zeigt die »schöne Nüchternheit« (Gustav Seibt) des aufmerksamen Beobachters neuer technischer und zivilisatorischer Errungenschaften sowie der religiösen Zustände – vor allem des friedlichen Zusammenlebens der Konfessionen in Deutschland vier Jahrzehnte vor dem Dreißigjährigen Krieg (vgl. Tagebuch der Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland, dt. 2002). In M.s nicht resignativer, sondern welterschließender Skepsis gründete jedoch auch sein überbetonter praktischer Konformismus nach außen, der ihn jeglichen Umsturz ablehnen und fordern ließ, sich den bestehenden Institutionen der Krone, Kirche, Ehe und Familie anzupassen. Gleichwohl durchschaute der in den Konflikten um Krone und Altar um Ausgleich bemühte »Politiker« M. die Fragwürdigkeit von überkommenem Gesetz und Macht. Doch verhinderte dies nicht die Berufung des Kammerherrn der rivalisierenden Könige Heinrich III. und Heinrich von Navarra in das Amt des Bürgermeisters von Bordeaux (1581), das ihn nach seiner Wiederwahl erst 1585 während der Pestepidemie vorzeitig in die Abgeschiedenheit seines Turms zurückkehren ließ.
Das Prinzip seiner religiösen Haltung ermöglichte M.s Vernunft eine »zarte, weltgewisse Empirie« (Matthias Greffrath): Stets bereit, »dem heiligen Michael eine Kerze zu stiften und dem Drachen auch eine«, hält er den Glauben angesichts der Ferne und Unbegreiflichkeit Gottes, nicht aber dessen verstandesmäßige Motivation, für möglich. Diese fideistische Trennung von Vernunft und Glauben des in seiner Lebensführung katholischkonservativen M. spielte in der Wirkungsgeschichte seiner später auf den kirchlichen Index gesetzten Essais neben der Skepsis die größte Rolle und lieferte einen Anstoß für die französische Aufklärung. Sie eröffnete M. zugleich den Blick auf die kreatürlichen Aspekte des menschlichen Daseins in seiner leibseelischen Mischform. Vor allem die unmittelbaren Erfahrungen von Mord, Brand und Pest veränderten dabei M.s Einstellung zum Tod, dem fünf seiner Kinder frühzeitig zum Opfer fielen. Nicht als objektives Wissen, sondern als innere Erfahrung des eigenen Todes begründete sein Todesbewußtsein im Abtragen der stoischen Todeslehre und außerhalb christlicher Tradition eine »Ökonomie der kurzen und kostbaren Lebensspanne« (H. Blumenberg). In diesem untrennbaren Zusammenhang von wahrhaft menschlicher, weil weltzugewandter und -schonender Autonomie und gelassenem Todesbewußtsein liegt der bedeutsame Gehalt der Essais. Nicht ohne Grund hat deshalb der ihm geistesverwandte Friedrich Nietzsche über M., der 1592 mit allen kirchlichen Segnungen starb, schreiben können: »Daß ein solcher Mensch geschrieben hat, dadurch ist wahrlich die Lust, auf dieser Erde zu leben, vermehrt worden Mit ihm würde ich es halten, wenn die Aufgabe gestellt wäre, es sich auf der Erde heimisch zu machen.«
Westerwelle, Karin: Montaigne, die Imagination und die Kunst. München 2001. – Bürger, Peter: Das Verschwinden des Subjekts. Eine Geschichte der Subjektivität von Montaigne bis Barthes. Frankfurt 1999. – Schärf, Christian: Geschichte des Essays. Von Montaigne bis Adorno. Göttingen 1999. – Burke, Peter: Montaigne zur Einführung. Hamburg 1993. – Greffrath, Matthias: Montaigne. Ein Panorama. Frankfurt am Main 1992 (Mit Auswahlbibliographie). – Toulmin, Stephen: Kosmopolis. Die unerkannten Aufgaben der Moderne. Frankfurt am Main 1991. – Starobinski, Jean: Montaigne. Denken und Existenz. München/Wien 1986. – Friedrich, Hugo: Montaigne. Bern/München 21967. – Horkheimer, Max: Montaigne und die Funktion der Skepsis [1938]. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 4. Frankfurt am Main 1988.
Matthias Schmitz
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