Metzler Philosophen-Lexikon: Morris, Charles William
Geb. 23. 5. 1901 in Denver/Colorado;
gest. 15. 1. 1979 in Gainesville/Florida
Die Entscheidung, sich der Wert- und Zeichentheorie zu widmen, traf M. Ende der 30er Jahre, als er eines Abends auf László Moholy-Nagy wartete. Moholy-Nagy, zusammen mit Walter Gropius am Bauhaus tätig, aber seit der Machtübernahme Hitlers 1933 in London lebend, wurde 1937 als Leiter an das »Neue Bauhaus« in Chicago berufen. Von der »Unity of Science«-Gruppe an der dortigen Universität holte er sich einige Professoren, darunter M., der mehrere Jahre unentgeltlich an der neuen Kunstschule unterrichtete. Bereits seit einigen Jahren arbeitete M. mit den ebenfalls im Exil lebenden Vertretern des Logischen Positivismus Rudolf Carnap, Otto Neurath und Philipp Frank am »Unified Science«-Projekt zusammen. Diese doppelte Berührung mit der europäischen Kunst und Philosophie prägte zwei grundlegende Arbeiten von M.: die in der International Encyclopedia of Unified Science erschienenen Foundations of the Theory of Signs (1938; Grundlagen der Zeichentheorie) und die im Journal of Unified Science veröffentlichten Aesthetics and the Theory of Signs (1939; Ästhetik und Zeichentheorie). Beide Schriften tragen die Spuren dieser Berührung mit der sprachanalytischen Tradition des Logischen Positivismus sowie mit den theoretischen Reflexionen der europäischen Kunstszene. Die Wurzeln seiner Wendung zur Semiotik und Werttheorie liegen aber auch im amerikanischen Pragmatismus, der in Neuengland um die Mitte des 19. Jahrhunderts aus einer Mischung von Elementen des deutschen Idealismus, des englischen Empirismus und des amerikanischen Transzendentalismus entstanden war. Als Begründer dieser neuen Richtung innerhalb der Philosophie gilt vor allem Charles Sanders Peirce, dessen Arbeiten über Logik und Semiotik grundlegend für die Entwicklung der Semiotik als einer eigenständigen Disziplin wurden. Als dann John Dewey, der Peirce aus der Zeit an der Johns Hopkins University kannte, 1894 an die neue Universität von Chicago ging, brachte er George Herbert Mead und eine Reihe jüngerer, mit dem Pragmatismus vertrauter Wissenschaftler mit (A. W. Webster, James H. Tufts, Edward S. Ames). Mit der Begründung dieser »Chicagoer Schule« setzte die zweite Etappe des amerikanischen Pragmatismus ein.
M., der sein Grundstudium an der Universität von Wisconsin und der Northwestern Universität (Evanston) absolvierte, ging 1922 nach Chicago, um bei Mead zu studieren. Aus ihrer Zusammenarbeit ging die Studie Symbolism and Reality (1925; Symbolik und Realität) hervor, die vor allem auf der Arbeit von Peirce über symbolische Sprache und Meads Theorie des symbolischen Interaktionismus basiert. Bereits hier kommt der wissenschaftliche Behaviorismus, der auch die spätere Arbeit von M. über Semiotik kennzeichnen wird, zum Ausdruck. Nach der Promotion (1925) unterrichtete M. einige Jahre an der Rice University in Houston. In Neopragmatism and the Possibility of Knowledge (1928) setzt er sich mit der aus seiner Sicht idealistischen Reduktion des Pragmatismus durch William James auseinander. M. bemühte sich um eine Erneuerung des Pragmatismus durch das Weiterdenken der Theorien von Peirce, James, Dewey und Mead. Um der perspektivischen Betrachtung der Realität als der Relativität von wahrgenommenem Objekt und Beobachter gerecht zu werden, entwickelte er ein Modell, das die Relation symbolischer und nicht-symbolischer Ereignisse adäquat erfassen kann. Dabei stand vor allem die Erfahrung als Kategorie im Vordergrund: »1. Geist, Denken, Erkenntnis und Wahrheit sind Funktionen der Erfahrung und vollkommen mit Hilfe erfahrungsmäßiger Termini beschreibbar; 2. Der Reflektionsprozeß ist, wie er erfahren wird, immer verbunden mit und eine Funktion von Verhaltensproblemen; 3. Erfahrung selbst ist der endgültige Referent des Terminus realˆ.«
Als M. 1931 an die Universität von Chicago zurückkehrte, zog er in das Büro des verstorbenen Mead, wo er eine große Zahl unveröffentlichter Manuskripte vorfand. Daraus entstanden zwei Sammelbände, die Meads Ruf begründeten: Mind, Self and Society (1934; Geist, Identität und Gesellschaft) und The Philosophy of the Act (1938). 1932 veröffentlichte M. Six Theories of Mind, die nicht nur die Vielfalt seines eigenen intellektuellen Hintergrunds, sondern auch die im Meadschen Sinn perspektivische Vielfalt der möglichen Relationen zwischen Beobachter und Objekt zu voller Geltung bringen. Er gilt inzwischen als Nachfolger Meads, doch löste er sich im Lauf der 30er Jahre allmählich von diesem Erbe. Auf dem ersten internationalen Kongreß über die Einheit der Wissenschaft, der 1935 an der Sorbonne stattfand, lernte M. die im Exil lebenden Mitglieder des Wiener Kreises, Rudolf Carnap, Otto Neurath und Philipp Frank kennen. Er nahm jetzt regelmäßig an Kongressen in Europa teil. Beim dritten Kongreß 1937 wurde die International Encyclopedia of Unified Science mit Carnap, Neurath und M. als Herausgeber gegründet. Eine Sammlung von Vorträgen aus diesen Jahren (Logical Positivism, Pragmatism and Scientific Empiricism, 1937) dokumentiert deutlich die Berührung mit den Vertretern des Positivismus. Vor allem in den beiden Beiträgen The Concept of Meaning in Pragmatism and logical Positivism und Semiotic and Scientific Empiricism strebte er eine Synthese von logischem Positivismus, wissenschaftlichem Empirismus und Pragmatismus an. In Scientific Empiricism (1938), seinem Beitrag zum ersten Band der Encyclopedia, bezeichnet er diese drei Komponenten als »radikalen Empirismus«, »methodologischen Rationalismus« und »kritischen Pragmatismus«. Diese Arbeiten greifen besonders auf Peirce zurück, der die Wissenschaften neu zu konzipieren versucht hatte, indem er den logischen Charakter des wissenschaftlichen Denkens untersuchte. Vor allem die Logik und die Semiotik sollten die Einheit der Wissenschaft auf neuer Basis gewährleisten. Ausgehend von der Peirceschen Semiotikauffassung versuchte M. 1938 in der Foundations-Abhandlung, die Semiotik als übergreifende Wissenschaft der Zeichenverwendung zu etablieren. Der berühmteste, aber nicht gänzlich unproblematische Aspekt seiner Semiotik ist die Unterscheidung zwischen Syntax, Semantik und Pragmatik, die die Linguistik der letzten fünfzig Jahre entscheidend beeinflußt hat. Während die Syntax die Beziehung zwischen den Signifikanten und nicht im Saussureschen Sinne zwischen Zeichen behandelt, geht es bei der Semantik um »die Beziehung der Zeichen zu ihren Designaten und darum zu den Objekten, die sie notieren oder denotieren können«, jedoch ohne die Interpreten miteinzubeziehen. Als Pragmatik – der wohl wichtigste Teil des semiotischen Modells – bezeichnet M. »die Wissenschaft von der Beziehung der Zeichen zu ihren Interpreten«. Eine pragmatische Zeichenverwendung, die sowohl die Syntax (Beziehung der Zeichen untereinander) als auch die Semantik (Beziehung der Zeichen zu den Objekten) voraussetzt, bindet M. aber immer an Verhalten zurück. In Aesthetics and the Theory of Signs wendet M. die Semiotik auf die Kunst an als »ästhetische Semiotik«. Grundlegend ist seine Bestimmung des ästhetischen Zeichens als »ikonisch«: »Die semantische Regel für den Gebrauch eines ikonischen Zeichens besteht darin, daß es jeden Gegenstand denotiert, der dieselben Eigenschaften aufweist wie es selbst; mit anderen Worten, zu den Denotaten eines ikonischen Zeichens gehört der eigene Zeichenträger.« Die Kritik an dieser Auffassung des ästhetischen Zeichens als Ikon, wie sie beispielsweise durch Umberto Eco oder Wolfgang Iser geübt wird, bezieht sich auf seine Verwechslung des dargestellten Gegenstandes mit den Vorstellungs- und Wahrnehmungsmodellen des Gegenstands. Zu Recht behauptet M. aber, daß ästhetische Zeichen sowohl referentiell als auch selbstreferentiell sind.
In den 40er und 50er Jahren wird er zunehmend vom amerikanischen Behaviorismus (James Watson, Burrhus Frederic Skinner) geprägt. Auch in seiner Arbeit über Werttheorie (»Axiologie«) kommt dieser Einfluß deutlich zum Ausdruck. In Paths of Light: Preface to a World Religion (1942) interpretiert M. religiöse Ansichten und ethische Systeme, indem er drei Wertbereiche aufstellt und sieben mögliche Werttypen in Hinblick auf diese Wertbereiche analysiert. In Varities of Human Values (1956) tritt die empiristische, behavioristische Grundlage einer fast sozialwissenschaftlichen Vorgehensweise noch stärker hervor. Sein zweiter wichtiger Beitrag zur Semiotik, Signs, Language and Behavior (1946; Zeichen, Sprache und Verhalten), den er selbst als »behavioristische Semiotik« bezeichnet, spiegelt diese Einstellung ebenfalls wider. Die Pragmatik beschreibt M. jetzt »als den Teil der Semiotik, der sich mit dem Ursprung, der Verwendung und den Wirkungen der Zeichen im jeweiligen Verhalten beschäftigt«. Diese Ausdehnung der Pragmatik und der Semiotik in Richtung einer behavioristisch orientierten Kommunikationswissenschaft geht über das Zeichen- und Semiotikverständnis von Peirce weit hinaus. Hier werden Begriffe wie »Diskurs« und »Diskurstyp« auf eine neue Weise verwendet, die es erlaubt, Denk- und Redeweisen als kommunikative, praxisbezogene Verhaltensweisen zu betrachten. M. nimmt so auf die spätere Entwicklung der Diskurslinguistik und der soziologisch orientierten Konversationsanalyse großen Einfluß. Was den poststrukturalistischen Diskursbegriff (Jacques Lacan, Michel Foucault, Jacques Derrida) anbelangt, sind zwar einige Ähnlichkeiten vorhanden; während es M. aber darum ging, den Diskurs nach bestimmten Kriterien in verschiedene Typen zu unterteilen, betonen etwa Lacan oder Foucault die Rolle des Unbewußten oder der Diskontinuität im Diskurs. Die pragmatisch orientierte Semiotik von M. wurde bald durch die »Philosophie der normalen Sprache« (George Edward Moore, dem späten Wittgenstein) und der Sprechakttheorie (John L. Austin, John R. Searle) theoretisch gestärkt. Im Anschluß an diese Theorien untersuchte man Zeichen zunehmend im Kontext ihres Gebrauchs, also in bezug auf ihre Wirkung und situationsabhängigen Faktoren.
In den 60er Jahren wechselte M. an die Universität von Florida in Gainsville, wo er sich hauptsächlich der Forschung widmete. Resümierend schreibt er in dieser Zeit über die Frühgeschichte des amerikanischen Pragmatismus: The Pragmatic Movement in American Philosophy (1970) bietet einen historischen Überblick über diese wichtige Phase der amerikanischen Philosophie. Die »handlungsmäßige Theorie von Zeichen« bezeichnet M. als »das zentrale, vereinigende Prinzip der pragmatischen Bewegung und einer ihrer ursprünglichsten Beiträge«. Signification and Significance. A Study of the Relations of Signs and Values (1964; Bezeichnung und Bedeutung. Eine Untersuchung der Relationen von Zeichen und Werten), seine dritte und letzte wichtige Arbeit über Semiotik, berücksichtigt neuere Entwicklungen auf mehreren Gebieten. Der Zeichenprozeß wird jetzt als »fünfstellige Relation« beschrieben, in der Zeichen, Interpreten, Interpretanten, Bezeichnungen und Kontexte eine Rolle spielen. Obwohl der Kontext-Begriff noch unspezifisch bleibt, betont er jetzt die wirkungsästhetische Dimension des Zeichenprozesses, die er durch Begriffe wie »Erwartung« und »Disposition« zu beschreiben versucht. M. will also Zeichen nicht definieren, sondern lediglich die Bedingungen für das Erkennen von Zeichen aufstellen.
Trabant, Jürgen: Elemente der Semiotik. München 1976. – Eschbach, Achim (Hg.): Zeichen, Wert, Ästhetik. Frankfurt am Main 1975. – Apel, Karl-Otto: Sprache und Wahrheit in der gegenwärtigen Situation der Philosophie. Eine Betrachtung anläßlich der Vollendung der neopositivistischen Sprachphilosophie in der Semiotik von Charles Morris. In: ders.: Transformation der Philosophie I (Sprachanalytik, Semiotik, Hermeneutik). Frankfurt am Main 1973.
Steven Gillies
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