Metzler Philosophen-Lexikon: Nelson, Leonard
Geb. 11. 7. 1882 in Berlin;
gest. 29. 10. 1927 in Göttingen
Der Göttinger Philosoph und Mathematiker N. nimmt unter den Philosophen in Deutschland eine Sonderstellung ein. In gewisser Weise war er sogar ein Außenseiter. Er hat in einer Zeit an der wissenschaftlich exakten Grundlegung einer praktischen Philosophie gearbeitet, als dieses Projekt von der Fachphilosophie nahezu abgeschrieben war. Und er hat höchst persönlich die politischen Organisationen gegründet, die er für geeignet hielt, die Ergebnisse seiner praktischen Philosophie in die Praxis umzusetzen. Das gesamte Leben, theoretische Wirken und politische Handeln N.s stand unter der Leitidee »Konsequenz«. Sowohl die Entwicklung seiner Philosophie von ihren ersten Anfängen bis zum reifen Werk wie die Wege und Schritte ihrer Umsetzung sind von einer einzigartigen Folgerichtigkeit und Geradlinigkeit, die ihresgleichen sucht. Dieser unbedingten Konsequenz im Denken und Handeln entstammen zugleich die Größe und die Grenze des Wirkens dieses herausragenden Philosophen.
N.s Vater war jüdischer Rechtsanwalt mit weitverzweigten Kontakten im Berliner Kultur- und Geistesleben jener Zeit. Noch vor der Aufnahme seines Studiums der Mathematik und Philosophie an den Universitäten Berlin, Heidelberg und Göttingen lernte N. die Arbeiten von Jakob Friedrich Fries und Ernst Friedrich Apelt kennen, welche die kritische Philosophie Kants als gültig vorausgesetzt und ihre Begründung auf der Basis einer psychologischen Deutung weiterentwickelt hatten. N. war von Anfang an vor allem an der praktischen Philosophie interessiert und wollte eine verbindliche Ethik wissenschaftlich erarbeiten und nach den strengen Maßstäben mathematisch-naturwissenschaftlicher Beweisführung begründen. Ihm ging es dabei gleichermaßen um die Überwindung der Beliebigkeit des moralischen Dogmatismus wie des ethischen Nihilismus in einer Zeit, die einer verläßlichen Orientierung des Handelns dringend bedurfte. In der Philosophie seiner Zeit konnte er dafür kein diskussionsfähiges Angebot entdecken. Den Vorsatz zur Erarbeitung einer wissenschaftlichen Ethik auf der Grundlage der in der Kantischen Tradition entwickelten kritischen Methode hat er bereits vor Beginn seine Studiums gefaßt. Er setzte ihn nun während des Studiums und in seiner Zeit als a. o. Professor für Philosophie und Mathematik an der Universität Göttingen seit 1919 Zug um Zug in die Tat um.
Zunächst gründete er mit Schülern und Freunden die Jakob-Friedrich-Fries-Gesellschaft und gab eine »Neue Folge« der »Abhandlungen der Friesschen Schule« heraus, um diese Arbeiten für die beabsichtigte Neubegründung der Kritischen Philosophie fruchtbar zu machen. In drei großen Werken, die in einer bei deutschen Philosophen höchst raren klaren, strengen und schönen Sprache verfaßt sind, deren Einfachheit mit der Tiefe der Gedankenführung reizvoll kontrastiert, präsentiert er seine eigene Philosophie. 1917, inmitten des Chaos und der Unsicherheit des Ersten Weltkrieges, veröffentlicht N. seine Kritik der praktischen Vernunft. In ihr entfaltet er auf der Grundlage der kritischen Methode eine Ethik, deren Kern in der Abwägungsregel besteht: »Handle nie so, daß du nicht auch in deine Handlungsweise einwilligen könntest, wenn die Interessen der von dir Betroffenen auch deine eigenen wären.« Mit diesem Abwägungsgesetz, als universellem Sittengesetz, greift er der in der gegenwärtigen Ethik vorherrschenden Idee einer praktischen Beratung der Betroffenen als Lösungsweg für die ethischen Probleme bzw. der kommunikativen Ethik in bemerkenswerter Weise vor. Obgleich N. das Dialogprinzip durch seine Neubegründung der sokratischen Methode als Erkenntnisweg unter anderem praktischer Wahrheiten eingeführt hat, hat er als verbindliches Begründungsprinzip der mit der kritischen Methode gewonnenen ethischen Erkenntnisse doch einem anderen Verfahren den Vorzug gegeben. Er nahm an, daß die kritische Methode auf ethische Grunderkenntnisse als ursprünglich dunklen unmittelbaren Erkenntnissen im menschlichen Bewußtsein zurückführt, deren Gewißheit durch ein empirisch-psychologisches Begründungsverfahren aufgewiesen werden kann. Dieses Verfahren hat zu N.s philosophiegeschichtlicher Einordnung in den »Psychologismus« geführt. Auch wenn N. selbst auf dieses Spezifikum seiner Ethik hohen Wert legte, würden doch die kritische Methode, das sokratische Gespräch und das Abwägungsgesetz noch immer eine diskussionswürdige ethische Theorie bilden, wenn die psychologische Deduktion außer Betracht bliebe. Bemerkenswert an der N.schen Ethik ist nicht nur, daß er in seinem 1924 erschienenen zweiten Hauptwerk, System der philosophischen Rechtslehre und Politik, die politischen Konsequenzen zog und die Grundsätze eines liberalen Sozialismus entwickelte, der das Sittengesetz zum verbindlichen Recht für jedermann machen sollte. N. hat auch eine in jüngster Zeit wieder zu theoretischen Ehren gekommene Theorie vom Recht der Tiere entwickelt, der zufolge die Tiere, weil sie wie der Mensch leidensfähig sind, gleichberechtigte Rechtssubjekte sind, auch wenn sie niemals ihrerseits Pflichtsubjekte sein können. Auch in dieser Frage war N. höchst konsequent. Mitglied in der später von ihm gegründeten sozialistischen Partei konnte nur werden, wer neben anderen in dieser Ethik begründeten Einschränkungen in der privaten Lebensführung auch die Selbstverpflichtung zu einer strikt vegetarischen Ernährung auf sich nahm.
N.s politische Theorie zielte auf eine Herrschaft des Rechts, die Staat, Wirtschaft und Gesellschaft so organisiert, daß die gleiche Freiheit aller umfassend garantiert ist. Seine Ethik verstand sich nicht als ein Rigorismus, weil der Formalismus des Abwägungsgesetzes ja gerade voraussetzt, daß die materiellen Ziele des Handelns aus der Fülle des gelebten Lebens, den individuellen Glücksansprüchen des Einzelnen kommen. Der Ethik und der politischen Organisation der Gesellschaft obliegt es, für den Fall des Widerstreits der Interessen und Glücksansprüche der Einzelnen eine gerechte Regel des Ausgleichs zur Verfügung zu stellen.
Schließlich hat N. in seinem dritten Hauptwerk, dem System der philosophischen Ethik und Pädagogik (1932), die Grundlagen einer Pädagogik vorgelegt, die Menschen zu einem Handeln im Sinne des Sittengesetzes aus eigener Einsicht und eigenem Verantwortungsbewußtsein befähigen soll. Ihm ging es um ein vernünftig selbstbestimmtes Leben und um eine Pädagogik, die den Respekt vor der Würde des anderen durch die Chance der Erfahrung der eigenen Würde vermitteln sollte. N. folgte bei alldem seiner grundlegenden Idee, daß eine gerechte Gesellschaft ohne Menschen, die in ihrem eigenen Handeln die Einsicht in das Sittengesetz und das Interesse an gerechten Lebensverhältnissen verkörpern, nicht möglich wäre.
Bereits am Ende des Ersten Weltkrieges hat N. eine politische Organisation, den Internationalen Jugendbund (IJB), gegründet, um die praktischen Wahrheiten, auf deren Begründung er Anspruch erhob, konsequent in die Praxis umzusetzen. Der IJB war den beiden Zielen gewidmet, Menschen, damals vor allem Mitglieder der Jugendbewegung, im Geiste der praktischen Ethik und des Sozialismus zu erziehen und sie zur politischen Mitarbeit in den Organisationen der Arbeiterbewegung zu veranlassen. N., ursprünglich mit liberalen Kreisen verbunden, war zu dieser Zeit zur Überzeugung gekommen, daß eine Gesellschaft des Rechts nur von der Sozialistischen Arbeiterbewegung erkämpft werden könne. Deshalb verband er die Realisierung seines philosophischen Projektes mit den Kämpfen der tatsächlichen Organisationen der Arbeiterbewegung. Anfänglich arbeiteten die Mitglieder der IJB je nach eigener Entscheidung in der MSPD, USPD und KPD mit. Nach der Wiedervereinigung der beiden sozialistischen Parteien 1922 konzentrierte sich die Arbeit auf die SPD. Wegen ihrer radikal antiklerikalen Haltung kam die Gruppe bald mit der kirchenfreundlicheren Politik der SPD in Konflikt. Die IJB-Mitglieder wurden 1925 mit einer Begründung, die auf die hierarchischen Strukturen der Organisation zielte, aus der SPD ausgeschlossen. Tatsächlich hatte N. seinen Bund nach dem Führer-Prinzip organisiert, das eigentlich aus seiner praktischen Philosophie kaum folgte. Er hatte es aus Begeisterung über die Selbstlosigkeit und Konsequenz der Partei Lenins übernommen. Er wollte auch das für Recht erkannte nicht wieder zur Disposition eines opportunistischen Pluralismus stellen. Nach dem Ausschluß aus der SPD begründete N. mit seinen Anhängern eine eigene sozialistische Partei, den Internationalen Sozialistischen Kampfbund (ISK). Auch seine pädagogischen Gedanken hat N. nach eigenem Anspruch konsequent in die Praxis umgesetzt. Er gründete eine eigene Reformschule, das Landerziehungsheim »Walkemühle« in der Nähe von Kassel, das von Minna Specht geleitet wurde. Pädagogen, die seiner Theorie treu ergeben waren, erzogen Kinder im Geiste der kritischen Pädagogik und Erwachsene, um sie zur Übernahme von Führungsfunktionen im politischen Leben zu befähigen. Die Gründung einer »Philosophisch-Politischen Akademie« zur gleichen Zeit diente der Heranbildung von Erziehern und Politikern im Sinne der Prinzipien und Ziele der kritischen Philosophie, aber ebenso zur Weiterentwicklung der kritischen Philosophie und der Sicherstellung einer wissenschaftlich fundierten theoretischen Basis für das praktische Handeln der politischen Partei. Im Rückblick erscheinen das theoretische Werk, die praktisch-pädagogische und politische Leistung dieses Philosophen angesichts der kurzen Lebensspanne, die ihm vergönnt war, erstaunenswürdig. Vielleicht sagt die Tatsache, daß nach seinem Tod die Mitglieder der von ihm gegründeten Partei zusammen geblieben sind und in der Abwehr der heraufziehenden Nationalsozialismus und später im leidenschaftlichen Kampf gegen die faschistische Barbarei fast geschlossen ihr Leben eingesetzt haben, mehr über die Leistung N.s aus als irgendein Ereignis seines Lebens. Über einige seiner Schüler, unter ihnen vor allem Willi Eichler, ist die Lehre N.s und auch ein Teil des Geistes des von ihm begründeten ethischen Sozialismus in die Sozialdemokratische Partei eingedrungen und hat im Godesberger Programm der SPD von 1959 einen unübersehbaren Niederschlag gefunden.
Kleinknecht, Reinhard/Neisser, Barbara (Hg.): Leonard Nelson in der Diskussion. Frankfurt am Main 1994. – Leonard Nelson, Ein Bild seines Lebens und Wirkens. Aus seinen Werken zusammengefügt und erläutert von Willi Eichler und Martin Hart in Gemeinschaft mit anderen seiner Freunde. Paris 1938.
Thomas Meyer
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