Metzler Philosophen-Lexikon: Paine, Thomas
Geb. 29. 1. 1737 in Thetford/Norfolk;
gest. 8. 6. 1809 in New Rochelle/New York
Nicht nur die Gebeine verschwinden, sondern auch der gesamte Nachlaß. Seine Gedanken, sein Werk werden schon gegen Ende seines Lebens totgeschwiegen. Kein Historiker im angloamerikanischen Bereich wagt es, sich mit ihm außer in Schmähschriften auseinanderzusetzen. Der Mann ist im gesamten 19. Jahrhundert in England und Amerika eine Unperson. Nur Charles Darwin wurde so angefeindet wie er. Doch P. ist der Begründer der amerikanischen Unabhängigkeit und der amerikanischen Demokratie. Er gab dem Land den Namen »Vereinigte Staaten von Amerika«, und er ist der geistige Vater der amerikanischen wie auch der republikanischen französischen Verfassungen von 1791 und 1793. Seine Ideen reichen bis zu einer vereinten demokratischen europäischen Republik, und er träumt zeitlebens davon, daß alle Staaten der Welt nach einer demokratischen Verfassung regiert werden, die auf den Menschenrechten beruht. 1792 schreibt er im zweiten Teil seines Hauptwerks The Rights of Man (Die Rechte des Menschen): »Soviel sich vorhersehen läßt, kann vielleicht in der Folge Europa eine einzige große Republik bilden und der Mensch in dieser vollkommen frei sein.« Garant, Vorkämpfer und Schutzmacht dieser Freiheit in der Welt sind die Vereinigten Staaten. Für kurze Zeit gegen Ende seines Lebens, enttäuscht von Amerika, sieht er sogar Napoleons Frankreich als eine solche Schutzmacht. Er war Revolutionär zweier Welten. Mit der Feder und zu Pferd an der Seite George Washingtons mit dem Gewehr in der Hand kämpft er für die amerikanische Unabhängigkeit. Er ist ihr größter Propagandist, macht diesen Gedanken erst populär und hilft mit allen Mitteln nach, wenn dieser zu erlahmen droht. P. ist der eigentliche Urheber der amerikanischen Utopie, Schutzmacht der freien Welt zu sein. Alle Naivität, mit der amerikanische Präsidenten diesen Anspruch immer wieder vertreten hat, haben in ihm ihren Ahnherrn. So schreibt er in seinem frühen Hauptwerk Common sense, das im entscheidenden Augenblick der Auseinandersetzungen zwischen den amerikanischen Kolonien und dem englischen Mutterland am 10. Januar 1776 erschien und den Verfasser über Nacht berühmt machte: »Amerika hat es in der Hand, die Welt neu zu beginnen.« Sein Aufruf zur Unabhängigkeit und zur Gründung einer demokratischen Republik auf der Grundlage der Menschenrechte war der letzte Anstoß zur amerikanischen Revolution von 1776.
Dieser Mann ist das, was man einen vollkommenen Unglücksraben nennt. Geboren als Sohn eines Korsettmachers, schlägt er sich nach der Flucht aus dem Elternhaus bis zu seinem 39. Lebensjahr als Korsettmacher, Zollfahnder, gelegentlich als Soldat auf Kaperschiffen und als Hilfslehrer durch. Seine Schulbildung ist gering und seine Rechtschreibung zeit seines Lebens schlecht. Ein Zufall bringt ihn mit Benjamin Franklin zusammen. Der schickt ihn nach Amerika. Hier beginnt sofort sein Kampf für die Unabhängigkeit, zuerst als Redakteur des Pennsylvanian Magazine. Von da an steht er im Zentrum aller bedeutenden politischen Weltereignisse seiner Zeit. Er war enger Freund von drei amerikanischen Präsidenten (Washington, Jefferson und Monroe), befreundet mit einigen der wichtigsten Führer der Französischen Revolution (Sieyès, Lafayette, den Rolands, Danton) und schließlich Berater Napoleons, der ihm in jeder größeren Stadt eine goldene Statue errichten wollte. Er war Sekretär des außenpolitischen Ausschusses im amerikanischen Kongreß, französischer Ehrenbürger und Deputierter in der französischen Nationalversammlung. Vier Departements wählen ihn zu ihrem Vertreter im verfassungsgebenden Konvent. 1792 wird er vom Konvent zum Mitglied einer Verfassungskommission gewählt, zusammen mit Sieyès, Brissot, Barère, Condorcet und Danton. Immer wieder stürzt er aus den hohen Ämtern in den Abgrund politischer und sozialer Ächtung. In England wird er wegen Hochverrats angeklagt und verfolgt, in Frankreich bringt ihn Robespierres Terrorregime als Anhänger der Girondisten ins Gefängnis, und er entkommt nur durch einen Zufall der Guillotine. Von 1786 bis 1793 pendelt er zwischen England und Frankreich hin und her und kehrt erst 1802 nach Amerika zurück.
Als meistgelesener politischer Schriftsteller seiner Zeit hat er es nicht verstanden, auch finanziell aus seinem Erfolg Nutzen zu ziehen. Bis zu dem Zeitpunkt, da ihm die amerikanischen Staaten auf Betreiben Washingtons Ehrengeschenke in Form von Grundstücken und Geldzahlungen überbringen. Dann versucht er sich als Erfinder in England. Er ist eng befreundet mit William Blake, dem Chemiker Priestley und dem Philosophen Condorcet. Er kämpft für die Republik, lange bevor man in Frankreich überhaupt daran denkt, und als der König schließlich abgesetzt und zum Tode verurteilt ist, versucht er, ihm mit einer Verteidigungsrede das Leben zu retten.
Gegen Ende seines Lebens schreibt er sein drittes Hauptwerk mit dem Titel The Age of Reason (1794; Das Zeitalter der Vernunft). Hier entlarvt er alle Religionen als Mythologie, als Erfindung der Herrschenden, um die Beherrschten zu versklaven. Das Christentum dient als Werkzeug der Gewalt den Zwecken der Despoten und als Mittel zum Erwerb von Reichtümern. Ebensolche Schurken und Strolche sind alle Könige, die ihr Recht auf Herrschaft von Gott herleiten. Er ist kein Atheist wie La Mettrie und andere französische Rationalisten. Er glaubt an einen lenkenden Gott und an ein Leben nach dem Tod, und dennoch sind es diese die etablierten Mächte an einem empfindlichen Punkt treffenden Gedanken, die ihm im puritanischen angloamerikanischen Raum eine geradezu ekstatische, hysterische Verachtung einbringen. England giert danach, ihn am Galgen hängen zu sehen, Amerika läßt ihn fallen. Enttäuscht vom Frankreich Napoleons kehrt er nach Amerika zurück, verschwindet dort, von seiner Umgebung verachtet, von allen Freunden vergessen, in der Anonymität eines ärmlichen Vorortes von New York und ergibt sich dem Alkohol.
Er war nicht der Erfinder der Menschenrechte, aber er kämpfte dafür, daß sie in praktische Politik umgesetzt werden, daß sie in die Verfassung aller Staaten Eingang finden, um dem einzelnen vor der Willkür staatlicher Macht einen gesetzlichen Schutz zu bieten. Für diese Grundrechte kämpfte und schrieb er: »Alle Menschen werden frei geboren und bleiben frei und einander an Rechten gleich. Die Erhaltung der natürlichen und unverjährbaren Rechte des Menschen ist der Endzweck aller politischen Verbindungen. Diese Rechte bestehen in Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Widerstand gegen Unterdrückung. Die Urquelle aller Souveränität beruht in der Nation. Kein einzelner oder eine Gesamtheit kann eine Gewalt ausüben, die nicht ausdrücklich aus dieser Quelle hergeleitet wird. Alle Bürger sind vor dem Gesetz gleich. Niemand darf wegen seiner Meinung beunruhigt werden. Freie Mitteilung der Gedanken und Meinungen ist eins der schätzbarsten Rechte des Menschen.« Diese Sätze aus der französischen Verfassung von 1793 stehen in seinem Hauptwerk The Rights of Men und in ähnlicher Form in allen demokratischen Verfassungen. Seine Utopien: die bürgerliche Weltrevolution, die vereinigten Staaten von Europa, die Republik England, die alleinige Herrschaft der Vernunft und das Verschwinden religiösen Aberglaubens haben sich nicht erfüllt. Erfüllt haben sich eher seine Befürchtungen hinsichtlich der Entartung der republikanischen Herrschaft und des parlamentarischen Systems, die er bereits voraussah. In seinen Abhandlungen über die Regierung (Dissertation on the first principles of government) von 1786 warnt er davor, den Volksvertretern zu große Macht einzuräumen und empfiehlt, sie nicht als Herrscher, sondern als Diener anzusehen, sie ständig zu kontrollieren und sie vor allem ständig auszuwechseln. Auf keinen Fall aber, so schreibt er in The Rights of Men dürfen sich Regierungen die Eitelkeit anmaßen, Entscheidungen zu treffen, die von kommenden Generationen nicht mehr rückgängig gemacht werden können. »Die Eitelkeit und Anmaßung, noch jenseits des Grabes regieren zu wollen, ist die lächerlichste und unverschämteste aller Tyrannen. Der Mensch besitzt kein Eigentum in dem Menschen; ebensowenig besitzt eine Generation in künftigen Geschlechtern Eigentum.« Vielleicht steckt in diesem Satz ein neues, noch zu entdeckendes Menschenrecht.
Kelleter, Frank: Amerikanische Aufklärung. Sprachen der Rationalität im Zeitalter der Revolution. Paderborn 2002. – Kaye, Harvey J.: Thomas Paine. Firebrand of the Revolution. Oxford 2000. – Caron, Nathalie: Thomas Paine contre l’imposture des prêtres. Paris 1998. – Keane, John: Thomas Paine. Ein Leben für die Menschenrechte. Hildesheim 1998. – Fruchtman, Jack: Thomas Paine. Apostle of Freedom. New York 1994. – Fruchtman, Jack: Thomas Paine and the Religion of Nature. Baltimore 1993. – Lessay, Jean: L’Américain de la convention. Thomas Paine, professeur de révolutions, député du Pas-de-Calais. Paris 1987. – Aldridge, Alfred Owen: Thomas Paine’s American Ideology. Newark 1984. – Aldridge, Alfred Owen: Man of Reason. The Life of Thomas Paine. New York 1959.
Michael Winter
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