Metzler Philosophen-Lexikon: Pauli, Wolfgang
Geb. 25. 4. 1900 in Wien;
gest. 15. 12. 1958 in Zürich
»Wer dieses reife und groß angelegte Werk studiert, möchte nicht glauben, daß der Verfasser ein Mann von einundzwanzig Jahren ist. Man weiß nicht, was man am meisten bewundern soll, das psychologische Verständnis für die Ideenentwicklung, die Sicherheit der mathematischen Deduktion, den tiefen physikalischen Blick, das Vermögen übersichtlicher mathematischer Darstellung, die Literaturkenntnis, die sachliche Vollständigkeit, die Sicherheit der Kritik. P.s Bearbeitung sollte jeder zu Rate ziehen, der auf dem Gebiet der Relativität schöpferisch arbeitet, ebenso jeder, der sich in prinzipiellen Fragen authentisch orientieren will.« Mit diesen Worten lobte Albert Einstein im Dezember 1921 einen Artikel über Relativitätstheorie in der Encyklopädie der Mathematischen Wissenschaften, den der junge P. geschrieben hatte, der daraufhin als eine Art Wunderkind der Physik betrachtet wurde. P. ist von Anfang an nicht nur durch seine hohen mathematischen Fähigkeiten, sondern auch durch sein philosophisches Verständnis der physikalischen Grundfragen aufgefallen. So machte er als 19jähriger Student den später von Werner Heisenberg genutzten Vorschlag, »in der Physik nur prinzipiell beobachtbare Größen einzuführen« und zum Beispiel den Begriff einer Teilchenbahn im atomaren Bereich oder den der elektrischen Feldstärke im Inneren eines Elektrons aufzugeben.
P. hat 1945 den Nobelpreis für Physik erhalten für die Entdeckung des heute nach ihm benannten Ausschließungsprinzip, das sich einfach durch die Vorschrift ausdrücken läßt, daß zwei Elektronen unmöglich in allen ihren Quantenzahlen übereinstimmen können (von denen er eine neu eingeführt hatte). Die Aufstellung dieses wichtigen Postulats war ihm bereits zwanzig Jahre vorher (1924) gelungen. P. hatte seine Behauptung mit mathematischen Symmetrieargumenten begründet und auf diese Weise den Weg bereitet für die Erklärung des Atomaufbaus und der chemischen Bindung. Berühmt ist P. weiterhin wegen seiner 1931 aufgestellten (und längst bestätigten) Hypothese, daß es neben den damals bekannten Elektronen und Protonen noch andere (neutrale) Teilchen gibt, die bei bestimmten radioaktiven Zerfallsprozessen auftreten. Er hatte diesen Vorschlag gemacht, um dem Gesetz der Energieerhaltung bei diesen Vorgängen weiter Gültigkeit zu verschaffen.
P.s äußeres Leben ist relativ ereignislos verlaufen. Nach dem Studium in München und einem kurzen Aufenthalt in Hamburg wurde er 1928 Professor in Zürich, wo er bis zum Ende seines Lebens geblieben ist, wenn man von einigen USA-Aufenthalten absieht, wobei der Hinweis von Bedeutung ist, daß P. der einzige große Physiker seiner Zeit war, der sich nicht am Bau der Atombombe beteiligt hat. Um so mehr verwundert die Tatsache, daß er auch der einzige große Physiker seiner Zeit ist, von dem keine Biographie vorliegt. Der Grund dafür ist erst in den letzten Jahren deutlich geworden, seit seine Briefe publiziert werden, und zwar neben dem Wissenschaftlichen Briefwechsel (1979/1985) vor allem sein Briefwechsel (1992) mit dem Psychologen Carl Gustav Jung. P., der sich in seinen zu Lebzeiten publizierten physikalischen Arbeiten und Aufsätzen (Physik und Erkenntnistheorie, 1961) eher zurückhaltend über die philosophische Bedeutung der modernen Physik geäußert hat, gibt sich in den jetzt vorliegenden Briefen als ein überragend gebildeter Mensch zu erkennen, der nicht nur das gesamte abendländische Denken, sondern auch die »Eigentätigkeit der Seele« und seine sich ihm offenbarenden Traumbilder bemüht, um zu einer neuen, ganzheitlichen Sicht der Welt zu kommen. P. hat schon früh die Ansicht vertreten, daß es die von René Descartes im 17. Jahrhundert eingeleitete Verbannung des Geistes aus der Materie und der Seele aus der Natur war, die jene seelen- und gefühllose Wissenschaft ermöglicht hat, die in Hiroshima auf der einen und in der Umweltzerstörung auf der anderen Seite ihre welthistorischen Höhepunkt erreicht hat. Er schreibt 1956 an C. G. Jung: »In dieser schwankenden Notlage, wo alles zerstört werden kann – der Einzelne durch Psychose, die Kultur durch Atomkriege – wächst das Rettende auch, die Pole der Gegensatzpaare rücken wieder zusammen und der Archetypus der coniunctio [Gegensatzvereinigung] ist konstelliert. Die zukünftige Entwicklung muß eine solche Erweiterung der Physik, vielleicht zusammen mit der Biologie, mit sich bringen, daß die Psychologie des Unbewußten in ihr aufgenommen werden kann. Dagegen ist diese aus eigener Kraft, allein aus sich selbst nicht entwicklungsfähig.«
In den heute immer noch längst nicht vollständig publizierten Briefen tritt uns ein Wissenschaftler entgegen, dessen Denken – vom Umsturz im Weltbild der Physik ausgehend – um die Konzeptionen Komplementarität und Archetypus kreist, der »die Idee von der Wirklichkeit des Symbols« erörtert, der alchemistische Traditionen aufzunehmen empfiehlt und der vor allem sicher ist, daß sich unsere Philosophen ein falsches Bild von der Wissenschaft machen. P. schreibt 1954: »Ich hoffe, daß niemand mehr der Meinung ist, daß Theorien durch zwingende logische Schlüsse aus Protokollbüchern abgeleitet werden, eine Ansicht, die in meinen Studententagen noch sehr in Mode war. Theorien kommen zustande durch ein vom empirischen Material inspiriertes Verstehen, welches am besten im Anschluß an Platon als zur Deckung kommen von inneren Bildern mit äußeren Objekten und ihrem Verhalten zu deuten ist.«
Seine Analyse der Wissenschaftsgeschichte und seine eigenen Erfahrungen als theoretischer Physiker lassen ihn zu folgendem Schluß kommen: »Wenn man die vorbewußte Stufe der Begriffe analysiert, findet man immer Vorstellungen, die aus symbolischenˆ Bildern mit allgemeinem starken emotionalen Gehalt bestehen. Die Vorstufe des Denkens ist ein malendes Schauen dieser inneren Bilder, deren Ursprung nicht allgemein und nicht in erster Linie auf Sinneswahrnehmungen zurückgeführt werden kann. Die archaische Einstellung ist aber auch die notwendige Voraussetzung und die Quelle der wissenschaftlichen Einstellung. Zu einer vollständigen Erkenntnis gehören auch diejenigen der Bilder, aus denen die rationalen Begriffe gewachsen sind. Das Ordnende und Regulierende muß jenseits der Unterscheidung von physisch∧ und psychisch∧ gestellt werden – so wie Platons Ideenˆ etwas von Begriffen und auch etwas von Naturkräftenˆ haben (sie erzeugen von sich aus Wirkungen). Ich bin sehr dafür, dieses Ordnende und Regulierendeˆ Archetypenˆ zu nennen; es wäre aber dann unzulässig, diese als psychische Inhalte zu definieren. Vielmehr sind die erwähnten inneren Bilder ( Dominanten des kollektiven Unbewußtenˆ nach Jung) die psychische Manifestation der Archetypen, die aber auch alles Naturgesetzliche im Verhalten der Körperwelt hervorbringen, erzeugen, bedingen müßten. Die Naturgesetze der Körperwelt wären dann die physikalische Manifestation der Archetypen. Es sollte dann jedes Naturgesetz eine Entsprechung innen haben und umgekehrt, wenn man auch heute das nicht immer unmittelbar sehen kann.«
P.s Ideen für eine neue Naturwissenschaft sprengten sicher das Verständnis seiner Zeitgenossen. Sie fallen vielen selbst heute noch schwer. Der Philosoph P. ist erst noch zu entdecken, und er weist uns auf neue Perspektiven hin. In seinem Vortrag Die Wissenschaft und das abendländische Denken heißt es 1954: »Ich glaube, daß es das Schicksal des Abendlandes ist, diese beiden Grundhaltungen, die kritisch rationale, verstehen wollende auf der einen und die mystisch irrationale, das erlösende Einheitserlebnis suchende auf der anderen Seite, immer wieder in Verbindung miteinander zu bringen. In der Seele des Menschen werden immer beide Haltungen wohnen und die eine wird stets die andere als Keim ihres Gegenteils in sich tragen. Dadurch entsteht eine Art dialektischer Prozeß, von dem wir nicht wissen, wohin er uns führt. Ich glaube, als Abendländer müssen wir uns diesem Prozeß anvertrauen und das Gegensatzpaar als komplementär anerkennen.«
Fischer, Ernst Peter: An den Grenzen des Denkens. Freiburg i.Br. 2000. – Atmanspacher, Harald et al.: Der Pauli-Jung-Dialog. Berlin 1995. – Meier, Carl A.: Wolfgang Pauli und C. G. Jung – Ein Briefwechsel 1932–1958. Berlin 1992. – Laurikainen, Kalervo: Beyond the Atom – The Philosophical Thought of Wolfgang Pauli. Berlin 1985.
Ernst Peter Fischer
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