Metzler Philosophen-Lexikon: Philon von Alexandria
Geb. um 20/15 v. Chr. in Alexandria;
gest. nach 42 n. Chr. in Alexandria
Alexandria, die erfolgreichste Stadtgründung des legendären makedonischen Feldherrn und schon bald Metropole des Ostens und Zentrum der hellenistischen Kultur und Wissenschaft, ist das New York der Antike. Dazu paßt, daß es von Anfang an eine bedeutende jüdische Kolonie vorzuweisen vermag. Hier entsteht die älteste und größte Diaspora-Gemeinde; der Einfluß der hellenistischen Umwelt auf die jüdische Religion kommt in diesem zentralen Begegnungsort der beiden Kulturen besonders zum Tragen. Die in Alexandria angesichts einer immer stärker griechisch sprechenden Gemeinde geschaffene Übersetzung des Alten Testaments, die berühmte Septuaginta, wird Ausgangsort und geistige Mitte einer eigenen hellenistisch-jüdischen Literatur. Deren Höhepunkt bildet das Werk Ph. s. – Er entstammt der prominentesten jüdischen Familie Alexandrias. Sein Bruder Gaius, Leiter der römischen Steuerbehörde in der Stadt, stiftet die goldenen Tore des neuen Jerusalemer Tempels und ist befreundet mit dem späteren Kaiser Claudius und mit Herodes Agrippa I., dessen politischen Aufstieg er finanziert. Gaius’ Sohn Tiberius, der den jüdischen Glauben aufgibt, macht Karriere im römischen Staatsdienst; im Jahr 70 befehligt er als General des Titus die römische Armee vor Jerusalem. Was Ph. selbst betrifft, sind unsere Informationen weitaus spärlicher. Neben einer Pilgerfahrt nach Jerusalem gibt es nur ein Ereignis, das ihn greifbar werden läßt: die von ihm geleitete Gesandtschaft der alexandrinischen Juden nach Rom, die bei Caligula gegen Übergriffe auf die heimische jüdische Gemeinde protestieren soll. Die Gesandtschaft erweist sich als langwieriges und zunehmend gefährliches Unternehmen. Vor einer Entscheidung wird Caligula im Januar 41 umgebracht; sein Nachfolger Claudius stellt die Sicherheit der Juden in Alexandria wieder her.
Ph. genießt eine exzellente hellenistische Erziehung; seine Kenntnis der griechischen Literatur, insbesondere Platons und der Stoiker, ist beeindruckend. Ähnlich Augustinus läßt ihn die platonische Philosophie die eigene Religion neu entdecken. Zum Schlüsselerlebnis wird für ihn das Aufspüren philosophischer Inhalte in den Texten des Alten Testaments, dessen philosophischer Exegese er sein Lebenswerk widmet. Ph.s favorisiertes Arbeitsinstrument wird die Allegorese, das von der Stoa entwickelte Modell einer semiologischenˆ Textlektüre: Hinter dem wörtlichen Sinn eines Textes wird ein verborgener, übertragener Sinn ausgemacht. Die Vermittlung eines »tertium comparationis«, in welchem wörtliche und übertragene Bedeutung sich überschneiden, erlaubt die Entzifferung der letzteren – die im Text eingeschlossene zweite Botschaft wird entfaltet. »Der Text, wörtlich verstanden, ist Zeichen für eine verborgene Natur, die sich in der Allegorie offenbart.« So liest sich etwa Abrahams Wanderung aus Chaldäa nach Ägypten für Ph. als Weg (der »Weg« ist das »tertium comparationis«) des Menschen aus einer ganz der Welt verhafteten sinnlichen Wahrnehmung, und damit Diesseitigkeit – Chaldäa galt als Hochburg der Astrologie und Magie –, zur nach innen gerichteten Schau der Selbsterkenntnis, die die Wahrheit der intelligiblen Welt entdeckt, und damit Gott.
Mit Hilfe der Allegorese vermag Ph. einen philosophischen Kern der Bibel zu definieren. In einem zweiten Schritt erklärt er die in der Bibel aufgezeigte Philosophie zur (jüdischen) Quelle, der die griechische Philosophie entstammt: Der wahre erste Philosoph ist Moses, der in »mythischem« Gewand höchste Theologie verkündet; über seinen Schüler Pythagoras wird Moses zum Lehrer der Griechen, allen voran Platons. Dieses Umschreiben der Geistesgeschichte, das die griechische Philosophie genealogisch an das Alte Testament koppelt, sichert die Überlegen- und Erwähltheit des jüdischen Volkes angesichts der bedrohlichen Dominanz griechischer Bildung und Wissenschaft. Ph. gebraucht die griechische Philosophie nicht systematisch, sondern pragmatisch. Sie kommt dort zu Wort, wo es ihm um ethische und vor allem theologische Fragen geht, er ist kein Religionsphilosoph, sondern ein mit Hilfe der Philosophie die Religion deutender Theologe. Doch entwickelt Ph.s Werkzeug eine von ihm kaum intendierte Eigendynamik: Der Platonismus durchwirkt seine Glaubensauffassung nachhaltig. Die Sprachformeln und Denkformen werden zu unersetzbaren Inhalten. Ph.s »interpretatio graeca« der Bibel initiiert eine Verflechtung beider Denkwelten, die in der Theologie der frühen Kirche revolutionäre Folgen zeitigen wird. Gerade sein Gottesbegriff, der sich aus beiden Quellen speist, offenbart die Konsequenzen dieser philosophischen Exegese: Der personale Gott des jüdischen Monotheismus verschmilzt mit dem transzendenten Gott der platonischen Metaphysik. Gott ist (platonisch) »das Seiende«, »das Wahre«, »das Gute«. Sein Wille schafft und erhält die Welt. Doch bleibt er in seiner Transzendenz jenseits aller menschlichen Erkenntnis. Ph. negiert ein Wissen über Gott und wird so zum Wegbereiter der (von Plotin explizit formulierten) Negativen Theologie. Die positiven Aussagen, die Ph. dennoch über Gott trifft, entstammen der Bibel und damit göttlicher Offenbarung. Diese schafft die Verbindung zwischen transzendentem Gott und immanenter Welt und überwindet unser Nicht-Wissen. Ph. erklärt diesen Prozeß in seiner Logos-Lehre. Der Logos ist Gottes Sohn und Abbild, sein schöpferisches Denken, das in (dem Akt) der Schöpfung als deren Plan und Mittler aktiv wird. Der Einfluß dieser Gedanken auf den Prolog des Johannesevangeliums ist außerordentlich.
Ph.s Synthese biblischer Religion und platonischer Philosophie, welche die Philosophie zum ersten Mal ausschließlich zur Erhellung der Religion anwendet, macht ihn zu einer zukunftsträchtigen Instanz in der Entwicklung der philosophischen Theologie, als deren erster Vertreter, noch vor Paulus, er anzusehen ist. Sein Werk gewinnt eine Schlüsselstellung in dem von seinen Anfängen an hellenistisch geprägten Christentum. Vor allem auch in seiner Heimatstadt läßt sich seine Wirkung belegen: Die beiden großen christlichen Denker des Ostens, Clemens und Origenes, führen seine Synthese weiter.
Williamson, R.: Jews in the Hellenistic World. Philon of Alexandria. Cambridge 1989. – Sandmel, S.: Philon of Alexandria. Oxford 1979. – Dillon, J.: The Middle Platonists. London 1977. – Chadwick, H.: Philon of Alexandria. In: A. H. Armstrong (Hg.): The Cambridge History of Later Greek and Early Medieval Philosophy. Cambridge 1967, S. 137–157. – Wolfson, H. A.: Philon of Alexandria, 2 Bde. Cambridge, Mass. 21948.
Peter Habermehl
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