Metzler Philosophen-Lexikon: Piaget, Jean
Geb. 9. 8. 1896 in Neuenburg (Neuchâtel);
gest. 16. 9. 1980 in Genf
»Nur das Kind denkt wirklich kreativ«, hat P. geschrieben, und dieser Satz trifft in zweifacher Hinsicht auf ihn selbst zu. Zum einen war er durch seine eigenen Untersuchungen davon überzeugt, daß Kinder die Möglichkeit zu einer Kreativität haben, um die Erwachsene sie nur beneiden können. Zum anderen war er selbst ein hochbegabter Junge, dem schon im Alter von 15 Jahren aufgrund früher wissenschaftlicher Veröffentlichungen (über Malakologie) die Stelle als Konservator am Genfer Naturgeschichtlichen Museum angeboten wurde. P. studierte zuerst Zoologie und promovierte 1918 mit einer Arbeit über die Verteilung von Mollusken-Arten in den Walliser Alpen. Während dieser Zeit schrieb er auch einen wissenschaftlichen Roman, der einige seiner späteren erkenntnistheoretischen Ansichten vorwegnahm.
Nach der Biologie wandte sich P. der Psychologie zu, die er in Zürich und Paris studierte. Er arbeitete anschließend im Laboratorium des französischen Psychologen Alfred Binet und erhielt dort die Aufgabe, die von dem Engländer Cyril Burt entwickelten Intelligenztests zu standardisieren. Bei dieser Arbeit fiel P. auf, daß die von den Kindern gegebenen falschen Antworten nicht zufällig daneben lagen. Vielmehr traten in verschiedenen Altersstufen typische Fehler auf. Durch die Publikation dieser Beobachtung wurde P. zum Kinderpsychologen. Er wurde an das »Institut Jean-Jacques Rousseau« in Genf berufen, und hier verfaßte er in den kommenden Jahren seine Untersuchungen zur Entwicklungspsychologie, die weltweit Aufsehen erregten.
Zwar hatte Rousseau bereits im 18. Jahrhundert die Idee ausgesprochen, daß die Kindheit ihr eigenes Sehen, Denken und Fühlen hat, doch erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts fingen die Psychologen systematisch damit an, kognitive Fähigkeiten des kindlichen Verstandes zu bestimmen. Doch erst nachdem P. seinen Forschungsweg eingeschlagen hatte, zeigten diese Beobachtungen Wirkungen im erkenntnistheoretischen Denken. Noch zu seinen Lebzeiten erschienen mehr als zweihundert Doktorarbeiten über P.s Werk, und bereits 1978 widmete sich der Band 7 der Kindler-Enzyklopädie über die Psychologie des 20. Jahrhunderts dem Thema Piaget und die Folgen.
P. hat in mehr als fünfzig Büchern das Epos vom Erwachen der Intelligenz (La naissance de l intelligence chez l enfant, 1936) geschrieben und darin ein zusammenhängendes Bild vom Werden des menschlichen Erkennens gezeichnet. Als exemplarische Titel seien weiter genannt: La construction du réel chez l enfant (1937; Aufbau der Wirklichkeit), La psychologie de l intelligence (1941; Die Psychologie der Intelligenz), Biologie et connaissance (1967; Biologie und Erkenntnis), La représentation de l espace chez l enfant (1948; Die Entwicklung des räumlichen Denkens beim Kinde) und Die natürliche Geometrie des Kindes (1948). Die beiden zuletzt genannten Bücher hat P. gemeinsam mit seiner langjährigen Mitarbeiterin Bärbel Inhelder verfaßt.
In P.s Ansatz dient die menschliche Intelligenz nicht als passiver Empfänger und Verarbeiter von Informationen aus der Umwelt. Sie wird vielmehr als eine Strategie betrachtet, mit deren Hilfe die Wirklichkeit aktiv konstruiert wird. Für P. sind die Handlungen der Kinder praktische Vorläufer ihres Denkens. Ihre geistige Entwicklung ist weder eine Entfaltung angeborener Anlagen noch eine Prägung durch die Umwelt. Sie wird vielmehr durch den Tätigkeitsdrang des Kindes ausgelöst, in die Welt einzugreifen und sie zu erobern. Angeborene Wahrnehmungsstrukturen und Handlungsabläufe werden immer wieder auf die Wirklichkeit angewendet. Dabei entstehen stufenweise Denkformen. Das ausgereifte Denken ist schließlich das verinnerlichte und systematische Handeln, und die Begriffe sind verfestigte Denkoperationen.
Mit der These, daß Denken aus Handeln hervorgeht, stellte sich P. auf eine erkenntnistheoretische Position, die er selbst mit dem Stichwort »Konstruktivismus« bezeichnet hat. P. nimmt nämlich an, daß der Mensch seine Begriffe so konstruiert, wie er Handlungen plant. Da in einer Handlung schon die Idee (die Struktur) steckt, betrachtete P. sich auch als Strukturalist, und er versuchte von dieser Position aus, die Gräben zwischen den Wissenschaften zu überbrücken.
Einen besonders tiefen Konflikt sah er zwischen empirischen Wissenschaften und philosophischen Bemühungen. Philosophie kann seiner Ansicht nach ohne Instrumente und also ohne experimentelle Eingriffe kein Wissen und keine Kenntnisse erwerben. Die Philosophen – so schrieb P. in seinem Buch über Sagesse et illusions de la philosophie (1965; Weisheit und Illusion der Philosophie) –, haben Probleme nur formuliert, nie aber gelöst. P. zieht den grundlegenden Schluß: »Die Intention, die Lücken der Wissenschaft durch die Metaphysik aufzufüllen, zunächst nur eine Illusion, ist in manchen Fällen zum Betrug geworden.« In diesem autobiographischen Text formuliert P., wie unbefriedigend das Angebot der Philosophie für ihn war und warum er statt dessen (nach seinem eigenen Ausdruck) ein »wissenschaftlicher Epistemologe« geworden ist.
P.s Arbeiten und Schlußfolgerungen zur kognitiven Psychologie werden oft als »genetische Epistemologie« bezeichnet, die von ihm als Wissenschaft und nicht als Philosophie verstanden wird. Die Frage: »Was ist Erkenntnis?«, wird nämlich in die Frage: »Wie wird Erkenntnis?«, umgewandelt und damit einer empirisch-analytischen Behandlung zugänglich. In seiner Vorlesung über die Genetic Epistemology (1970; Einführung in die genetische Erkenntnistheorie) schreibt P., daß hiermit versucht wird, »Erkennen, insbesondere wissenschaftliches Erkennen, durch seine Geschichte, seine Soziogenese und vor allem die psychologischen Ursprünge der Begriffe und Operationen, auf denen es beruht, zu erklären.« Als letztes Ziel der genetischen Epistemologie sieht P. eine damit selbst wieder wissenschaftliche Erklärung für das Werden der Wissenschaft. Die Entwicklung der kindlichen Intelligenz ist dabei das von P. entdeckte Glied, das die biologische Organisation des Lebens mit dem wissenschaftlichen Denken zusammenbringt.
Kesselring, Thomas: Entwicklung und Widerspruch – Ein Vergleich zwischen Piagets genetischer Erkenntnistheorie und Hegels Dialektik. Frankfurt am Main 1981. – Furth, Hans G.: Intelligenz und Erkennen. Frankfurt am Main 1976. – Ginsburg, Herbert/Opper, Sylvia: Piagets Theorie der geistigen Entwicklung. Stuttgart 1975.
Ernst Peter Fischer
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