Metzler Philosophen-Lexikon: Pico della Mirandola, Giovanni
Geb. 24. 2. 1463 in Mirandola bei Modena;
gest. 17. 11. 1494 in Florenz
Von Freunden und Zeitgenossen bekam P. scherzhaft den Titel »Princeps Concordiae«. In ihm vereinigen sich familiäre Herkunft mit der Absicht seines philosophischen Arbeitens: P. wurde 1463 in dem norditalienischen Städtchen Mirandola als Sohn des Grafen der Städte Mirandola und Concordia, als »Princeps Concordiae« geboren. Berühmt wurde er durch seinen Versuch, die philosophischen Lehrmeinungen seiner Zeit, insbesondere die der Platoniker und Aristoteliker, im Konzept einer aus vielen einzelnen Sätzen bestehenden universalen Wahrheit zur Harmonie, zur Concordia zu führen. Die einem modernen Leser vielleicht seltsam erscheinende Absicht hat ihre Ursache in der universalen Bildung und dem Lebensweg P.s: Nach der humanistischen Grundausbildung wurde er von seiner Mutter zur kirchlichen Laufbahn bestimmt und 1477 im Alter von 14 Jahren zum Notar der päpstlichen Kanzlei ernannt. Im gleichen Jahr nahm er das Studium des kanonischen Rechtes in Bologna auf. In philosophischen Studien an den Universitäten Ferrara (1479) und Padua (von 1480 bis 1482) eignete er sich das mittelalterliche, scholastisch-aristotelisch geprägte Denken an. In Padua hatte P. unter Anleitung des Averroisten Elia Del Medigo Kontakte zur jüdischen Gelehrsamkeit gefunden. In dieser Zeit kam er auch mit humanistischen Gelehrten zusammen und besuchte mehrmals in Florenz Marsilio Ficino und Poliziano. Nach einem einjährigen Aufenthalt an der Universität Paris, dem Zentrum scholastischer Philosophie und Theologie, kehrte er 1486 nach Florenz zurück. Im gleichen Jahr lernte er in Perugia Hebräisch und Arabisch und fand Zugang zur Kabbala, einer mittelalterlichen mystischen und spekulativen Tradition, die stark vom neuplatonischen Denken beeinflußt war. In diesen Jahren trat die eigenständige Position P.s hervor. So grenzte er sich in dem berühmten Briefwechsel mit dem venezianischen Humanisten Ermolao Barbaro (1485) von der humanistischen Verurteilung der mittelalterlichen arabischen und lateinischen Aristotelesinterpretation ab. Barbaros Vorwurf, die mittelalterlichen Interpreten seien barbarisch und unkultiviert, wird von P. abgewiesen, indem er darauf besteht, daß zwischen der sprachlichen Form der Texte und deren inhaltlichen Aussagen differenziert werden müsse. P. zieht die Grenze zwischen Scholastik und Humanismus als Grenze zwischen Philosophie und Rhetorik. Indem er die scholastische Philosophie rehabilitierte, distanzierte er sich von der humanistischen Tradition, die, von Petrarca ausgehend, besonders in Florenz durch Coluccio Salutati und Leonardo Bruni bedeutende Vertreter gefunden hatte und ihre Vollendung in der Sprachphilosophie des Lorenzo Valla fand. Der Briefwechsel mit Barbaro weist auf ein grundliegendes Anliegen P.s, den philosophischen Synkretismus hin: P. postulierte, daß alle bekannten Philosophen und Theologen bestimmte wahre und allgemeingültige Meinungen vertreten, die er als universal gebildeter Philosoph zu einem Lehrgebäude der umfassenden Wahrheit zusammenstellen könne.
Dieser Grundgedanke liegt seinen berühmten 900 Thesen, den Conclusiones philosophicae, cabalisticae et theologicae (1486), zugrunde. Die Quellen der einzelnen Sätze reichen von Platon und Aristoteles über zahlreiche apokryphe Schriften der Spätantike (Orpheus, Pythagoras, Hermes), die von P. als authentisch angesehen wurden, bis zu den Hauptvertretern der Scholastik. Ebenfalls fand Gedankengut der jüdischen Kabbala Eingang in das konstruierte Gebäude der Wahrheit. Impulse zu diesem Unternehmen bekam P. von zwei Seiten: Einerseits konnte er vom Konzept der natürlichen Religion ausgehen, das Marsilio Ficino entworfen hatte, der eine Harmonisierung von Platonismus und Christentum anstrebte. Andererseits zeigt die Einbeziehung der mittelalterlichen Philosophie die starken Anregungen, die P. von seinen scholastischen Studien erhalten hatte. Auch die Darstellungsform und der Gedanke, die Wahrheit könne in einzelne diskutable Sätze aufgelöst werden, weist auf die dialektische Grundstruktur scholastischen Denkens. Die Grundkonzeption von P.s System weist jedoch weit in die Zukunft: Die Grundannahme, die verschiedenen Philosophien und Religionen hätten in bestimmten Sätzen Anteil an der universalen Wahrheit, birgt in sich schon den Gedanken der religiösen Toleranz, wie er in der Aufklärung formuliert wurde. Das Ziel, das hinter der Abfassung der Thesen stand, eine Diskussion der bedeutendsten Gelehrten der Zeit in Rom anzuregen, konnte P. jedoch nicht erreichen: Papst Innozenz VIII. berief eine Kommission ein, die sieben Thesen als nicht rechtgläubig und weitere sechs als verdächtig verurteilte. Der Konflikt spitzte sich zu, als P. 1487 gegen das Urteil der Kommission eine Verteidigungsschrift (Apologia) verfaßte. Der Papst reagierte mit der Verurteilung der gesamten 900 Thesen, obwohl P. zuvor eine Gehorsamserklärung abgegeben hatte. Er floh nach Frankreich, wo er auf Betreiben der päpstlichen Gesandtschaft verhaftet wurde. Die Intervention mehrerer italienischer Fürsten ermöglichte ihm jedoch die Rückkehr nach Florenz unter dem persönlichen Schutz von Lorenzo de’ Medici.
In den Werken der folgenden Jahre verfocht er weiterhin das Anliegen der Thesen: In der Schrift Heptaplus de septiformi sex dierum geneseos (1489; Das Siebentagewerk) versuchte er, die aus der Kabbala herrührende Zahlensymbolik in der Interpretation der Anfangskapitel des Buches Genesis anzuwenden. Ein weiteres Anliegen seines Arbeitens blieb unvollendet: Von dem Werk De concordia Platonis et Aristotelis konnte er nur einen Teil in der Schrift De ente et uno (1491) vollenden. Das wirkungsmächtigste Werk P.s, das auf den Anfang seines philosophischen Schaffens zurückweist, erschien erst nach seinem Tod: die Schrift, die den einfachen Titel Oratio (Rede) trägt, in der Folgezeigt aber De dignitate hominis (Über die Würde des Menschen) genannt wurde. Sie war von P. eigentlich als Eröffnungsrede der Diskussion der 900 Thesen geschrieben worden. In dieser Schrift entwarf P. in vollendeter Form das Menschenbild der Renaissance, so daß der Text als Zentraldokument dieser Epoche gelten kann. Den Grundgedanken bildet die Aussage, daß der Mensch in seinem Handeln durch seine Natur nicht im voraus determiniert sei. Der Mensch wird außerhalb einer kosmologischen Hierarchie angesiedelt, er kann seine Natur und seine Stellung im Kosmos in einem primären Akt freier Entscheidung selbst bestimmen. In dem Bild oder der Vision des Menschen, der von Gott in die Möglichkeiten und Gefahren der Autonomie freigesetzt worden ist, finden die weltlichen Impulse der humanistischen Bildung und die Betonung der Vorherrschaft und Einzigartigkeit des Menschen eine grundlegende Gestalt, durch die P. weit über das Zeitalter der Renaissance hinauswirkt.
Heinrich, Reinhardt: Freiheit zu Gott. Der Grundgedanke des Systematikers Pico della Mirandola (1463–1494). Weinheim 1989. – Kristeller, Paul Oskar: Acht Philosophen der italienischen Renaissance. Weinheim 1986. – Cassirer, Ernst: Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance. Leipzig 1927.
Wolfgang Zimmermann
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