Metzler Philosophen-Lexikon: Putnam, Hilary
Geboren 31. 7. 1926 in Chicago/Illinois
»Was in unserem Leben Gewicht hat«, so formuliert P. die zentrale Einsicht des Pragmatismus, »das sollte auch in der Philosophie Gewicht haben«. Und was für das Verhältnis von Philosophie und Leben im allgemeinen gilt, das gilt auch für spezielle philosophische Fragen, etwa nach der Beziehung zwischen Denken und Welt, nach der Interpretation physikalischer Theorien, nach der Bedeutung von »Bedeutung«, dem Begriff des Geistes oder nach der Objektivität moralischer Werte. Zur Beantwortung dieser und vieler anderer Fragen hat P. wichtige, häufig diskussionsbestimmende Beiträge geleistet. Trotz der ungewöhnlichen Vielfalt der Themen und trotz mancher spektakulären Kurskorrektur zieht sich durch P.s verschiedene Arbeiten die Betonung dessen, »was im Leben Gewicht hat«: Schon wenn es um spezielle Lebensbereiche geht (z.B. Wissenschaft, Alltagssprache, Moral), muß die Philosophie die interne Perspektive eines Teilnehmers ernstnehmen; umso weniger läßt sich unsere gesamte Lebenspraxis »von außen« in den Blick bekommen. Einen »externen Standpunkt«, von dem aus man die Welt als ganze gleichsam »von außen« betrachten könnte, gibt es nicht.
P. promovierte 1951 bei Hans Reichenbach in Los Angeles mit einer Arbeit über den Wahrscheinlichkeitsbegriff und lehrte u. a. in Princeton, wo er mit Rudolf Carnap zusammenarbeitete, und am Massachusetts Institute of Technology. Seit 1965 ist er Professor für Philosophie an der Harvard-Universität in Cambridge, Massachusetts. In den 50er Jahren wirkte er an der Lösung des 10. Hilbertschen Problems mit, bei dem es um die Entscheidbarkeit diophantischer Gleichungen geht. Seine eigene philosophische Position definierte P. – oft in kritischer Auseinandersetzung mit dem Logischen Positivismus – zuerst in den 60er und 70er Jahren mit einer Reihe von einflußreichen Aufsätzen zur Sprachphilosophie, Wissenschaftstheorie und zur Philosophie des Geistes. Diese Arbeiten sind gesammelt in den Bänden Mathematics, Matter, and Method (1975) und Mind, Language, and Reality (1975).
Im Mittelpunkt der sprachphilosophischen Überlegungen P.s steht der Begriff der Bedeutung. Wie Willard Van Orman Quine kritisiert P. die traditionelle Unterscheidung zwischen analytischen Sätzen (z.B. »Alle Junggesellen sind unverheiratet«), deren Wahrheit allein von ihrer Bedeutung und den Regeln der Logik abhängt, und synthetischen Sätzen (z.B. »Peter ist ein Junggeselle«), mit denen empirische Tatsachen behauptet werden. Dabei stützt sich P. auf die praxisinternen Standards für Bedeutungsgleichheit und -verschiedenheit und kann so, anders als Quine, die traditionelle Unterscheidung in eingeschränkter Form rechtfertigen: Mit »Ein-Kriterien«-Wörtern wie »Junggeselle« lassen sich durchaus Sätze bilden, deren Wahrheit von empirischen Entdeckungen unabhängig ist. Dies gilt aber nicht für »Gesetzesbündel«-Wörter, wie sie typischerweise in wissenschaftlichen Theorien vorkommen (z.B. »kinetische Energie«, »Elektron«, »multiple Sklerose«). Hier gibt es also keine klare Trennung zwischen analytischen und synthetischen Aussagen.
Wenn aber in die Bedeutung des Ausdrucks »Elektron« empirische Elemente eingehen, ändert sich dann seine Bedeutung mit unseren empirischen Kenntnissen? Diese Frage führt P. zu einer bedeutenden Entdeckung, die ihren klassisch gewordenen Ausdruck in dem Aufsatz The Meaning of »Meaning« (1975; Die Bedeutung von »Bedeutung«) gefunden hat: Wenn zwei Sprecher dasselbe Wort verwenden, um sich auf Gegenstände »natürlicher Arten« zu beziehen (z.B. »Elektron«, »Wasser«, »Buche«), dann kommt es bei der Frage, ob beide das Wort in derselben Bedeutung verwenden, nicht nur darauf an, welche charakteristischen Merkmale (»Stereotype«) sie mit der Verwendung des Wortes verbinden, sondern auch darauf, ob sie sich tatsächlich auf Gegenstände derselben Art beziehen. P. macht dies an einem berühmt gewordenen Gedankenexperiment deutlich: Man nehme an, es gebe irgendwo eine exakte Kopie der Erde mit allem, was darauf ist. Einen einzigen Unterschied gibt es allerdings: Während Wasser auf der Erde aus H2O besteht, handelt es sich bei dem Stoff auf der Zwillings-Erde, der oberflächlich von Wasser nicht zu unterscheiden ist, um XYZ. Dann hat das Wort »Wasser« in meinem und im Munde meines Doppelgängers auf der Zwillings-Erde jeweils eine andere Bedeutung, selbst wenn wir dieselben Merkmale (»durchsichtige, geschmacklose Flüssigkeit«) damit verbinden. Dies ist so, weil zur Bedeutung von Ausdrücken für natürliche Arten auch der Hinweis auf paradigmatische Exemplare gehört, so daß nur solche Dinge unter diesen Ausdruck fallen, die dieselbe Beschaffenheit wie ein paradigmatisches Exemplar haben. Die Bedeutung eines Wortes ist also nicht, wie traditionell angenommen, ein psychisches oder abstrakt-geistiges Vorkommnis, das festlegt, welche Gegenstände das Wort bezeichnet. Vielmehr hängt die Bedeutung unter anderem von den bezeichneten Gegenständen ab. Bedeutungen, so P.s Slogan, sind nicht »im Kopf« (»semantischer Externalismus«). Dennoch muß nicht jeder, der kompetent einen Ausdruck wie »Wasser« verwendet, Wasser eindeutig von anderen Substanzen unterscheiden können, denn dies überlassen wir den Experten in unserer Sprachgemeinschaft (»linguistische Arbeitsteilung«).
Die These, daß die Bedeutung eines Wortes konstant bleiben kann, selbst wenn unsere Kenntnisse über seine Extension sich verändern, spielt auch in P.s wissenschaftstheoretischen Überlegungen eine wichtige Rolle. Nur diese Annahme erlaubt ein »realistisches« Verständnis der Wissenschaft, wonach konkurrierende wissenschaftliche Theorien sich auf dieselbe Wirklichkeit beziehen und eine Theorie um so besser ist, je näher sie der Wahrheit über die Wirklichkeit kommt. Dieser »scientific realism«, den P. als die implizite Wissenschaftstheorie der Wissenschaft selbst versteht, wendet sich sowohl gegen den Verifikationimus der Logischen Positivisten wie auch gegen den Falsifikationismus Karl Poppers und den wissenschaftstheoretischen Relativismus Thomas S. Kuhns und Paul Feyerabends. P.s Argumente für den wissenschaftlichen Realismus fanden weite Anerkennung und haben entscheidend zum Ende des Positivismus beigetragen. Darüber hinaus hat P. zahlreiche Arbeiten zur Philosophie der Mathematik und zur Interpretation der Quantenphysik veröffentlicht.
Besonders einflußreich war eine Reihe von Beiträgen zur Philosophie des Geistes, in denen P. die Position des »Funktionalismus« entwickelte. Wohl als erster hat er darin die Analogie zwischen einem menschlichen und einem elektronischen »Rechner« philosophisch nutzbar gemacht (Minds and Machines, 1960; Geist und Maschine). Grundlegend dafür ist der Begriff einer »universellen Turing-Maschine«, d.h. die abstrakte Beschreibung eines Apparats, der aufgrund eines veränderlichen Programms auf unterschiedliche Eingaben in bestimmter Weise reagiert. Jeder noch so komplizierte Computer läßt sich in seiner Funktionsweise (unabhängig davon, wie diese materiell umgesetzt ist) als eine Turing-Maschine darstellen. Die Grundthese des Funktionalismus ist nun, daß sich auch die geistigen Zustände eines Menschen als Zustände einer Turing-Maschine verstehen lassen. P. ging es dabei vor allem um die Überwindung des Behaviorismus: Es gibt tatsächlich geistige Vorgänge; sie sind eine Funktion von input (sensorischen Reizen), Programm (festgelegt v. a. durch den Aufbau des Gehirns) und output (Verhalten). Der Funktionalismus verspricht so eine elegante Lösung des Leib-Seele-Problems jenseits von Materialismus und Dualismus. Allerdings ist P. von dieser ursprünglichen Idee schon früh abgerückt, da sie auf unhaltbaren Vereinfachungen und Idealisierungen beruht. Inzwischen ist P. zu einem der schärfsten Kritiker des auf ihn zurückgehenden, heute weit verbreiteten Funktionalismus geworden, da dieser weder der Normativität des Geistigen noch der Offenheit und Flexibilität psychologischer und mentaler Begriffe gerecht wird (Representation and Reality, 1988; Repräsentation und Realität; The Threefold Cord. Mind, Body and World, 1999).
War die Betonung der Teilnehmerperspektive in den Schriften bis in die Mitte der 1970er Jahre nur implizit (und nicht selten durch szientistische Reste verdeckt), so tritt der internalistische und pragmatistische Zug in P.s Denken seither immer deutlicher hervor (Meaning and the Moral Sciences, 1978; Realism and Reason, 1983). Oft in scharfer Abgrenzung von seinen früheren Auffassungen entwickelte P. seine neue Position des »internen Realismus«. In ihrer ursprünglichen Form, wie P. sie erstmals ausführlich in seinem Buch Reason, Truth and History (1981; Vernunft, Wahrheit und Geschichte; The Threefold Cord. Mind, Body and World, 1999) darlegte, ist sie vor allem durch folgende Punkte gekennzeichnet: Wahrheit wird nicht als Korrespondenz verstanden, sondern als idealisierte Form rationaler Akzeptierbarkeit; dabei ist der Begriff der Rationalität von historischen Bedingungen abhängig und nicht formalisierbar; die Wirklichkeit ist nicht von unseren Theorien und Auffassungen über sie unabhängig; es gibt keine klare Trennung zwischen Tatsachen und Werten; die Wissenschaften beschreiben nur einen von vielen Aspekten der Wirklichkeit; auch außerhalb der Wissenschaften und auch in Werturteilen gibt es objektive Wahrheit und Falschheit. Insgesamt versteht P. den internen Realismus als den Versuch, konsequent auf die Annahme eines externen Standpunkts, einer »Gottesperspektive« jenseits der begrenzten und kontingenten Sicht wirklicher Menschen, zu verzichten.
P.s »interner Realismus« beruht auf seiner Kritik am »metaphysischen Realismus« – der Auffassung, daß die Welt aus einer festen Gesamtheit von Gegenständen besteht, die sich vollständig und angemessen in einer Theorie beschreiben lassen, deren Wahrheit in einer Korrespondenzrelation besteht. Dagegen wendet sich P. mit verschiedenen Argumenten, die Auslöser umfangreicher Diskussionen waren: Sogenannte »modelltheoretische« Argumente sollen zeigen, daß dem metaphysischen Realismus zufolge der Bezug von Sprache und Denken zur Wirklichkeit völlig unbestimmt sein würde. Ein anderes Argument, das für P. zunehmend an Gewicht gewonnen hat, stützt sich auf das Phänomen der »begrifflichen Relativität«: Es gibt mitunter mehrere konkurrierende Beschreibungen desselben Bereichs der Wirklichkeit, die jeweils von unterschiedlichen Begriffen Gebrauch machen, ohne daß eine von diesen Beschreibungen als die einzig richtige gelten könnte. Für dieses Phänomen hat der metaphysische Realismus keinen Raum. Zugleich wendet sich P. jedoch gegen einen uneingeschränkten Relativismus: Auch wenn subjektive Momente in unser Weltbild eingehen, gibt es doch in vielen Fragen ein objektives Richtig und Falsch (The Many Faces of Realism, 1987). Ein drittes Argument stützt sich auf ein weiteres durch P. berühmt gewordenes Gedankenexperiment. Es stützt sich auf die These des semantischen Externalismus und soll zeigen, daß die skeptische Annahme, wir seien vielleicht nur Gehirne in einer Nährlösung, selbstwidersprüchlich ist. Der metaphysische Realismus aber kann eine solche skeptische Möglichkeit (eine moderne Variante des Cartesischen Dämons) nicht ausschließen.
Vor allem wegen der Anbindung des Begriffs der Wahrheit an den der rationalen Akzeptierbarkeit hatte der interne Realismus eine deutlich idealistische Tendenz, von der sich P. inzwischen distanziert hat. Zwar lehnt P. den »metaphysischen« Realismus weiterhin ab, doch betont er nun, daß die Philosophie unser alltägliches Wissen um die Geistunabhängigkeit der Welt anerkennen muß. Weil diese Selbstverständlichkeit heute philosophisch fragwürdig geworden ist, geht es P. um die Erlangung einer »zweiten Unschuld«. Dabei spielt in seinen neueren Arbeiten die Kritik an repräsentationalen Theorien des Geistes eine entscheidende Rolle: Wahrnehmung und Denken bestehen nicht in der Erzeugung und Verarbeitung von symbolartigen geistigen Gehalten (Repräsentationen), sondern sind ein direkter Zugang zu den wahrgenommenen oder gedachten Tatsachen und Gegenständen. Im Anschluß an den späten Ludwig Wittgenstein und William James sieht P. in diesem »direkten Realismus« weniger eine neue »Theorie« als vielmehr ein treffendes Bild, daß es uns erlaubt, unsere alltägliche Erfahrung anzuerkennen und philosophisch ernstzunehmen (Realism with a Human Face, 1990; Renewing Philosophy, 1992; Words and Life, 1994; The Threefold Cord. Mind, Body, and World, 1999).
Die zunehmende Bedeutung des pragmatistischen Zugs in P.s Denken zeigt sich auch deutlich in seiner Auseinandersetzung mit ethischen, ästhetischen und religiösen Themen. Unter anderem geht es P. darum, eine universalistische und liberalistische Auffassung in Ethik und Gesellschaftstheorie mit der Tatsache zu vereinbaren, daß auch moralische Werte Teil historisch bedingter Lebensformen sind. Dabei betrachtet P. das Fehlen einer strengen Unterscheidung zwischen Werten und Tatsachen nicht als Indiz für die Subjektivität von Tatsachen, sondern umgekehrt für die Objektivität unserer Werte. Das Normative durchdringt alle Aspekte unseres Denkens; moralische, ästhetische und andere Werte spielen selbst noch in den strengsten Wissenschaften eine konstitutive Rolle. Ein Werte-Realismus, wonach auch Werturteile objektiv richtig oder falsch sein können, ergibt sich deshalb zwangsläufig, wenn wir unsere wirkliche Praxis ernstnehmen (Realism with a Human Face, Renewing Philosophy, Words and Life). Auch hier gilt also die pragmatistische Maxime, daß in der Philosophie Gewicht haben sollte, was im Leben Gewicht hat.
Die Einsicht in die Historizität der Vernunft hat P. auch zu einem stärker historisch orientierten Zugang zur Philosophie selbst geführt. So entwickelt er seine systematischen Thesen neuerdings häufig anhand der Interpretation der Werke Ludwig Wittgensteins, John Deweys, William James’ und anderer Philosophen (Pragmatism. An Open Question, 1994; Pragmatismus. Eine offene Frage; Enlightenment and Pragmatism, 2001). Dabei ist P.s philosophische Position, bei aller im Rückblick erkennbaren Kontinuität, noch immer in Bewegung.
Conant, James/Zeglen, Urzula M. (Hg.): Hilary Putnam. Pragmatism and Realism. London 2002. – Raters, Marie-Luise/Willaschek, Marcus (Hg.): Hilary Putnam und die Tradition des Pragmatismus. Frankfurt am Main 2002. – Burri, Axel: Hilary Putnam. Frankfurt am Main/New York 1994. – Clark, Peter/Hale, Bob (Hg.): Reading Putnam. Oxford 1994. – Philosophical Topics 20, 1 (1992): The Philosophy of Hilary Putnam.
Marcus Willaschek
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