Metzler Philosophen-Lexikon: Quine, Willard Van Orman
Geb. 25. 6. 1908 in Akron/Ohio;
gest. 25. 12. 2000 in Boston
Von einem herausragenden Logiker erwartet man nicht, daß sein bekanntestes Argument um ein Kaninchen, einen Eingeborenen sowie einen Sprachforscher kreist. Und doch illustriert Q. eine fundamentale Erwägung seines Hauptwerks Word and Object (1960; Wort und Gegenstand) so: Die Übersetzung einer Dschungelsprache kann auf keinerlei sprachgeschichtliche Kontinuität zurückgreifen, sondern nur auf Beobachtungen, die zugleich sowohl dem Sprachforscher als auch dem »native speaker« zugänglich sind. Äußert der Eingeborene die Lautfolge »gavagai«, sobald sich ein Kaninchen zeigt, so kann man mit einiger Vorsicht die Sätze »gavagai« und »dort Kaninchen« gleichsetzen. Schwierig wird aber der nächste Schritt: bedeutet »gavagai« nun einfach »Kaninchen«? Der Eingeborene könnte ja auch ein Stück der Verschmelzung aller Kaninchen meinen – so wie wir das Wort »Wasser« verwenden. Vielleicht spricht der Eingeborene auch von Kaninchenteilen oder gar von einer platonischen »Kaninchenheit«! Dem Sprachforscher bleibt nichts übrig, als in der Dschungelsprache nach einer Unterscheidung zwischen Singular und Plural, nach Zahl- und Verweiswörtern zu suchen. Vermutet er etwa, »hork« bedeute »eins«, so kann er durch geschickte Fragen ermitteln, ob der Eingeborene auf ein einzelnes Kaninchen hinweist oder auf eine Ansammlung von Kaninchenteilen, ob er hier ein Kaninchen sieht und dort ein anderes – oder aber die Kaninchenheit meint. Verdächtigt der Forscher bestimmte Ausdrücke als Pronomina, so kann er über das Kaninchen eine Aussagenreihe formulieren, die der Eingeborene vielleicht ablehnen wird, sofern sie sich auf verschiedene Kaninchenstadien bezieht. So sind sprachliche Umschreibungen von Anzahl und Identität eng mit der Suche nach den Bausteinen der Sprache verknüpft. Zugespitzt: Ohne Mathematik und Logik dringt man in keine Sprache ein – nicht einmal in die Muttersprache, denn das Kleinkind ist in einer ähnlichen Lage wie der Sprachforscher.
Diese recht elegante Verankerung von Mathematik und Logik im alltäglichen Umgang mit der Sprache lenkt auf die akademischen Anfänge von Q. zurück. Der Oberschüler befaßt sich mit Sprachen und Geographie, vor allem aber mit Mathematik und Philosophie. Am College arbeitet er sich in die – noch weitgehend unbekannte – formale Logik ein und promoviert 1932 bei Alfred N. Whitehead, der zusammen mit Bertrand Russell die Mathematik auf die Logik zurückzuführen suchte. Allerdings strebt Q. von Anfang an danach, die Logik möglichst übersichtlich zu halten, also komplizierte durch einfache, aber gleichwertige Beweise zu ersetzen. Dies schlägt sich ab 1936 in seiner Lehrtätigkeit nieder – so in meisterhaft geschriebenen Lehrbüchern wie Methods of Logic (1964; Grundzüge der Logik) – und steckt letztlich auch hinter der eigentlich überraschenden Wendung der Geschichte vom Kaninchen: Die Annahmen des Sprachforschers sind nämlich dazu verurteilt, Hypothesen zu bleiben. Eindeutig ist nur die dem Forscher wie dem Eingeborenen zugängliche Beobachtung, welche dazu zwingt, »gavagaihork« entweder als »ein Kaninchen« oder als »eine Manifestation der Kaninchenheit« zu übersetzen, ohne eine definitive Entscheidung zu erlauben. Treibt man die Untersuchung weiter, so wird die Sachlage komplizierter, ohne sich zu ändern. Die Sprache ist als Ganzes in der Beobachtung verankert, doch wird sie nicht durch Beobachtungen allein geformt. Dies hat Konsequenzen für die Überprüfung von Sätzen. Q. geht von der konventionellen Unterscheidung zwischen wahr und falsch aus: Ein Satz ist wahr, wenn er die Welt widerspiegelt. Genauer: Ein Satz, geäußert zu bestimmter Zeit an einem bestimmten Ort, ist wahr, wenn er eine unmittelbare Erfahrung wiedergibt. Allerdings beziehen sich nur sehr wenige Äußerungen auf unmittelbare Erfahrungen. Ein Beispiel wäre: »Ich spüre eine glatte, harte, ebene Fläche und sehe ein braunes Viereck«. Grundlegender sind Sätze über physikalische Objekte (»Da ist mein Schreibtisch«), über Dinge, die, anders als private Erfahrungen, in der Regel mehreren Beobachtern zugleich zugänglich sind und somit den gemeinsamen Nenner für die Sinneserfahrungen bilden. Deshalb fängt auch der Sprachforscher bei den Kaninchen an. Nun zeigt das Dschungelbeispiel, daß man sich in die Sprache nur eintasten kann, wenn man vielfältige Kombinationen von Äußerungen erprobt. Sätze über Gegenstände sind verflochten mit anderen Sätzen – über andere Gegenstände, über Sinneswahrnehmungen, über Naturgesetze. Das so gebildete Netz verknüpft Erfahrungen miteinander, es kann aber auch korrigiert werden durch Erfahrungen, die nicht zu ihm passen. Allerdings wird man solche Korrekturen bevorzugen, die das Netz möglichst wenig verändern, und man wird danach streben, das Netz übersichtlich zu halten. Es kann daher sein, daß eine widerspenstige Erfahrung als Sinnestäuschung zurückgewiesen wird. Denkbar wäre aber auch, daß logische oder mathematische Grundsätze revidiert werden – ein extremer Eingriff, der sich nur lohnt, wenn dadurch das Netz eleganter mit der Erfahrung abgestimmt werden kann.
Eine Entscheidung über die Gestalt der Logik muß bereits der Sprachforscher treffen, wenn er »gavagaihork« übersetzt: Läßt er Gegenstände wie die Kaninchenheit (d.h. nicht Kaninchen, sondern Lebewesen, denen Kaninchenheit zukommt) zu, so wird die Logik komplizierter. Man redet nicht mehr über eine Klasse gleichartiger Objekte, sondern über eine Eigenschaft. Was hier noch unproblematisch bleibt, führt zu Verwicklungen, sobald zwei Eigenschaften auf genau dieselben Objekte zutreffen. Das folgende (groteske) Beispiel kann dies verdeutlichen: Zufällig seien alle und nur die dreieckigen Flächen rot. Zweifellos bezeichnet »rot« eine andere Eigenschaft als »dreieckig«. Worin liegt aber der genaue Unterschied? Natürlich: »rot« betrifft die Farbe, »dreieckig« die Form. Es geht also um zwei Aspekte, die zusammen an ein und demselben Gegenstand wahrzunehmen sind. Will man den Aspekt der Form präziser fassen, so wird man auf die Klasse der Vielecke zurückgreifen. Der Bezug auf Eigenschaften stellt sich als überflüssige Komplikation heraus, und so entscheidet sich Q. um der Übersichtlichkeit der Logik willen dafür, mit physikalischen Objekten, Klassen von Objekten und Klassen von Klassen auszukommen. Hier gibt es eindeutige Identitätskriterien: Zwei Klassen sind identisch, wenn sie dieselben Objekte umfassen. Erneut spielen physikalische Objekte die entscheidende Rolle. Daß zwei Personen über Gegenstände, die ihnen gemeinsam zugänglich sind, sprechen können, gibt ihren privaten, unmittelbaren Sinneserfahrungen überhaupt erst Gestalt und Bestand. Deshalb wäre es nicht sinnvoll, auf diese Sinnesdaten zurückzugreifen, um von hier aus das Sprechen über Gegenstände ein für allemal und eindeutig zu klären. Ganz im Gegenteil: Neurophysiologische Theorien über die Sinneswahrnehmung sind komplizierter als unser Zugang zu alltäglichen Gegenständen, bleiben mithin darauf angewiesen. Freilich: Die Unbestimmtheit der Übersetzung und das Problem der Identität von Eigenschaften wären mit einem Schlag ausgeräumt, könnte man gleichsam hinter die Objekte zurückgehen. Daß dies möglich sei, hat der bedeutende Vertreter des logischen Positivismus Rudolf Carnap, mit dem sich Q. immer wieder auseinandersetzt, zu zeigen versucht: Zwei Eigenschaftswörter sind synonym, wenn man sie allein aufgrund ihrer Bedeutung in allen Zusammenhängen austauschen kann. Hier ist nicht mehr das bezeichnete Objekt das Kriterium – wie etwa Cicero, über den ein Satz auch dann wahr oder falsch bleibt, wenn man »Cicero« durch »Tullius« ersetzt. Da mit einem Eigenschaftswort gerade mehr erfaßt werden soll als die Klasse der Objekte, auf die sich das Wort anwenden läßt, richtet sich der Begriff »Bedeutung« auf Subtileres. Zwei Wörter sind austauschbar allein aufgrund ihrer Bedeutung, wenn sie nicht nur zufällig – wie im Beispiel der roten, dreieckigen Flächen –, sondern notwendig auf dieselben Objekte zutreffen, z.B. »Junggeselle« und »unverheirateter Mann«. Man kann allerdings nicht sagen, daß »notwendig« ein deutlicheres Kriterium liefert als »synonym«. Daher lehnt Q. solche Differenzierungen ab – seine Logik der Klassen ist nicht weniger präzise, aber weniger kompliziert. Es bleibt ein Wunschtraum, feiner zu unterscheiden als zwischen physikalischen Objekten (um Synonymien aufzufinden), das Übersetzungsproblem zu lösen und eine aller Erfahrung vorgeordnete Logik aufzubauen. Auch die Philosophie ist auf ihrer Suche nach einer geordneten Konzeption der Realität auf die Dinge angewiesen, sie muß gewissermaßen »in der Mitte anfangen« und bleibt daher labil. Diese Labilität unterstreicht Q., wenn er seinem Hauptwerk einen Satz des Wissenschaftsphilosophen Otto Neurath als Motto voranstellt: »Wie Schiffer sind wir, die ihr Schiff auf offener See umbauen müssen, ohne es jemals in einem Dock zerlegen und aus besten Bestandteilen neu errichten zu können.«
Hahn, Lewis E./Schilpp, Paul A. (Hg.): The Philosophy of W. V. Quine. LaSalle, Ill. 21998. – Stegmüller, Wolfgang: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Bd. 2. Stuttgart 71986, S. 221–311.
Ernstpeter Maurer
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