Metzler Philosophen-Lexikon: Reimarus, Hermann Samuel
Geb. 22. 12. 1694 in Hamburg;
gest. 1. 3. 1768 in Hamburg
»Er ist ein wahrer gesetzter Deutscher, in seiner Schreibart und in seinen Gesinnungen. Er sagt seine Meinung gerade zu, und verschmähet alle kleinen Hülfsmittel, den Beifall seiner Leser zu erschmeicheln.« Mit diesen Worten charakterisierte Lessing den Autor einer religionskritischen Schrift, die er ohne Namensnennung als Fragmente eines Ungenannten in den Jahren 1774 bis 1777 auszugsweise veröffentlichte und die den wohl brisantesten Religionsstreit im Deutschland des 18. Jahrhunderts auslöste. Der Verfasser dieser Schrift war der hochangesehene Hamburger Orientalist R. Aus gutbürgerlichem Hause stammend, hatte er nach dem Gymnasialbesuch in Hamburg konsequent die Gelehrtenlaufbahn eingeschlagen. In Jena begann R. 1714 mit dem Studium der Theologie, Philosophie und Philologie, das er 1716 in Wittenberg fortsetzte und dort 1719 mit der Habilitation abschloß. Nach erster akademischer Lehrtätigkeit und Bildungsreisen nach Holland und England (1720 bis 1721) war er von 1723 bis 1727 Rektor in Wismar, bis er 1727 auf Lebenszeit zum Professor der orientalischen Sprachen am Gymnasium Johanneum in Hamburg ernannt wurde. Ins gleiche Jahr fiel seine Heirat mit einer Tochter des renommierten Hamburger Theologen und Philologen Johann Albert Fabricius.
Seinen Zeitgenossen galt R. zeitlebens als respektable Persönlichkeit des öffentlichen Lebens und bedeutender Gelehrter, den man für würdig befand, die »Hamburgische Gesellschaft zur Beförderung der Kunst und nützlichen Gewerbe« zu leiten. Man schätzte ihn als Verfasser vielgelesener theologischer und philosophischer Werke wie Von den vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion (1754) und Vernunftlehre als Anweisung zum richtigen Gebrauch der Vernunft (1756). Beeinflußt von der rationalistisch-demonstrativen Philosophie Christian Wolffs und dem englischen Deismus, vertrat R. die Idee einer vernünftigen natürlichen Religion, die allen positiven Religionen gleichermaßen zugrunde liegt und unabhängig vom jeweiligen religiösen Bekenntnis Gemeingut aller Menschen ist. Dennoch erwies sich R. in seinen zu Lebzeiten publizierten Schriften als gläubiger Verfechter des protestantischen Christentums, der sich in Übereinstimmung mit den dogmatischen Glaubensgrundsätzen befand. Erst nach seinem Tod wurde die Autorschaft der radikalsten religions- und bibelkritischen Studie bekannt, die bis dahin in Deutschland geschrieben wurde. Es handelt sich um die Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, die posthum durch Lessings Veröffentlichung Furore machte. R. hatte allen Grund, die Publikation zu scheuen, bedeutete dieses Buch doch »nichts geringeres als einen Hauptsturm auf die christliche Religion« (Lessing). R. verfügte daher, daß die Schrift erst dann zu veröffentlichen sei, »wenn sich die Zeiten mehr aufklären«. Die Herausgabe der Fragmente provozierte dann den berühmten Streit mit dem Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze, der Lessing zu der wohl brillantesten Polemik der deutschen Aufklärung gegen kirchliche Orthodoxie und religiöse Intoleranz veranlaßte. In der Apologie widmete sich R., getreu seiner Maxime, »daß wir Worte bey Seite setzen, und vielmehr die Sachen und Handlungen an sich nackt und bloß betrachten«, einer historisch-kritischen Untersuchung des Wahrheits- und Tatsachengehalts der Bibel. Durch seine textanalytischen Studien wurde R. die Nichtigkeit allen Offenbarungsglaubens zur Gewißheit. Er postulierte statt dessen die Religion der Vernunft, in der ausschließlich die Existenz Gottes, die Unsterblichkeit der Seele und die ethischen Prinzipien Jesu Christi unbezweifelbare Glaubensmaximen sind. Ganz im Sinne der Aufklärung befreite R. Religion und Glauben von den Fesseln kirchlicher Autorität und kanonisierter Bibelexegese, indem er das religiöse Glaubensbekenntnis der freien Entscheidung und autonomen Vernunft jedes Einzelnen überantwortete. Die Wirkung der religionskritischen Forschungen von R. reicht über seine Epoche hinaus. Sein Einfluß ist in der Leben-Jesu-Forschung eines David Friedrich Strauß oder Albert Schweitzer ebenso spürbar wie in der Theologie der Entmythologisierung von Rudolf Bultmann. Dennoch ist er für die Nachwelt der geblieben, für den ihn bereits Lessing hielt: ein »bekannter Unbekannter« der Aufklärung in Deutschland.
Stemmer, Peter: Weissagung und Kritik. Eine Studie zur Hermeneutik bei Hermann Samuel Reimarus. Göttingen 1983. – Hermann Samuel Reimarus (1694–1768), ein »bekannter Unbekannter« der Aufklärung in Hamburg. Vorträge gehalten auf der Tagung der Joachim-Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften in Hamburg am 12. und 13. Oktober 1972. Göttingen 1973.
Walter Weber
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